Strategien gegen rechts - Biedermann und die Brandmauer

Das Wort „Brandmauer“ hat Hochkonjunktur. Überall heißt es in diesen Tagen: „Die Brandmauer gegen die AfD muss stehen“. So sehr einem der Zuwachs der Rechten Sorgen bereiten muss, so gewiss ist es auch, dass Mauern nur zu einer weiteren „Vermiefung“ der Gesellschaft führen.

Brandmauern verkleinern auch den eigenen Wohn- und Lebensraum / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Spätestens seit der Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Kurzzeitministerpräsidenten von Thüringen ist das Wort in der Welt: Die Brandmauer zur AfD, so schallt es landauf, landab – und das bereits seit Februar 2020 –, sie müsse stehen. Das ist natürlich kaum mehr als eine sicherlich gut bis geradezu besser gemeinte Binse. Ein politischer Abzählreim; wahlweise auch ersetzt durch die „Brandmauer gegen den Hass“ oder die „Brandmauer der Demokratie“. Spätestens bei letzterer Modulation des eingangs zitierten Grundmotivs, das die Gesellschaft derzeit wie ein ausgeleiertes Gummiband zusammenhält, weiß man nicht mehr so ganz genau, wer hier eigentlich wen vor was schützt – die Brandmauer die Demokratie? Die Demokratie vor den Totalitären? Oder gar die Brandmauer vor der Demokratie selbst? Es ist ein großes Rätsel, das der damalige Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz (CDU) mit dieser abermaligen Durchführung des allseits beliebten Motivs vor zwei Jahren in der Chemnitzer Freien Presse zum Besten gab. 

Doch egal, wie die Brandmauer im Einzelfall auch verlaufen mag, fest steht: Es ist enger geworden – im Land, im Diskurs, zuweilen gar im eigenen Oberstübchen. Und ein wenig fühlt man sich als Bürger mit der Gnade der frühen Geburt – mithin als jemand mit noch einigermaßen historischem Bewusstsein – an die geistige Enge während der deutsch-deutschen Teilung erinnert; damals, als die Brandmauer gegen rechts zumindest im Ost-Berliner Politbüro offiziell noch „antifaschistischer Schutzwall“ hieß und sich die sozialistische Nomenklatura bei allem Gemauer am Ende nur in die eigenen Kleingeisterei einbetoniert hatte.   

Das Land rückt nach rechts

Aber es ist jetzt nicht Zeit für plumpe Kalauer. Die Lage ist ernst: Die Umfrageergebnisse für die AfD, eine Partei mit eindeutig protofaschistischem und antidemokratischem Bodensatz, müssen jeden freiheitlich denkenden Menschen nachhaltig Sorgenfalten ins Gesicht treiben. Eine aktuelle INSA-Umfrage etwa sieht die AfD derzeit bei 21 Prozent – gerade noch 4,5 Prozentpunkte hinter der Union. Und für die in gut einem Jahr stattfindende Landtagswahl in Thüringen platziert Infratest dimap die einst in einem Akt von Selbstanmaßung ausgerufene „Alternative für Deutschland“ derzeit mit 34 Prozent gar auf Platz eins.

Das Land, das im 20. Jahrhundert nicht nur „das Ende der Menschheit“ (Adorno) überlebte, sondern dieses unter Ingangsetzung eines unvorstellbaren Todestriebs sogar selbst herbeigesehnt hatte, rückt weiter nach rechts. Das kann niemanden kalt lassen, für den sich innerer wie äußerer Frieden immer und zuerst auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung reimen. In einer solchen Situation ist Einigeln ein sicherlich mehr als verständliches Grundbedürfnis – zumal die sukzessive Unterwanderung der Gesellschaft, der sogenannte „Marsch durch die Organisationen“, wie er einst vom AfD-Parteivorstand in einem internen Strategiepapier gefordert wurde, längst weite Bereiche des sozialen Lebens erreicht hat.

Brandmauern gibt es nur doppelt

Doch das Mauern bringt nichts. Zumal äußere wie innere Brandwände den eigenen Wohn- und Lebensraum aufs unangenehmste verkleinern helfen. Brandmauern existieren schließlich immer zweifach: Wo der eine Nachbar zu mauern beginnt, muss auch der zweite mit einer Trennwand nachziehen. In der sogenannten Musterbauordnung (MBO) heißt es, dass Brandmauern als raumabschließende Bauteile dichte und selbstschließende Abschlüsse haben müssen. Und: „Öffnungen sind unzulässig“, so sagt es unmissverständlich Paragraph 30, Ziffer 8.

Mithin: Der Biedermann hinter der Brandmauer bekommt allmählich Atemnot. Je abgedichteter die Sache wird, desto mehr beginnt er im eigenen Mief zu müffeln. Eine offene Gesellschaft kann eben nicht zugleich auch eine eingemauerte Gesellschaft sein. In ihrem Hunger nach Diskurs weiß sie vielmehr um die einende Kraft der Gegensätze. Schwarz und weiß mögen zwar komplementär zueinander sein, bedingen sich aber auch immerzu gegenseitig: „Sein und Nichtsein erzeugen einander“, heißt es schon im sechsten vorchristlichen Jahrhundert weise und weitsichtig bei Laozi: „Wenn auf Erden alle das Gute als gut erkennen, so ist dadurch schon das Nichtgute gesetzt.“

Die Wahrheit ist das Ganze

Und wieviel „Gutes“ wird dieser Tage ja tatsächlich als mehr oder minder „gut“ erkannt: Da sind der Atomausstieg und die Kindergrundsicherung, da sind die offenen Grenzen und der Genderstern, die geistige Dekolonisation und die Dekarbonisierung; da sind Identitätspolitik, Wokeness und geschlechtliche Diversität. Nie war das Weiß so weiß wie heute – und ergo war auch nie so viel Spaltung wie jetzt. Denn irgendwo muss der Gegensatz ja hin: die unaufgeklärte Vergangenheit, der anarchische Geist des Widerspruchs. Erst das Ganze ist schließlich die Wahrheit, wie es schon in der berühmten Einleitung aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“ heißt.

So verstanden aber sind immer höhere Brandmauern nur der letzte und wirklich irrwitzigste Versuch, die unbefleckte Empfängnis vielleicht doch noch irgendwie hinzukriegen – und das mitten in der säkularen „Totalherrschaft der Gegenwart“. In unserer real existierenden Positivgesellschaft muss das Weiße eben notfalls noch weißer werden, das noch Schönere soll dem Schönen folgen – bis alles vollends in Kitsch und Sterilität entgleitet. Hauptsache, die Brandmauer steht.

Eine selbsterfüllende Prophezeihung

Wäre es da nicht vielleicht eher an der Zeit, das Andere endlich wieder als das Eigene zu erkennen? Luftdicht zugemauert und von Schildmauern durchtrennt wie die sagenhaften feindlichen Brüder vom Mittelrhein wird Demokratie jedenfalls niemals gelingen können. Was es jetzt braucht ist ein dialektischer Sprung über die Brandmauern hinweg; die Öffnung einer zunehmend radikalisierten Mitte. 

Denn wie viele wurden von hier aus in den zurückliegenden Jahren schon ins Abseits gedrängt, und wie viele wurden im Sauberkeitswahn einer falsch verstandenen Moral erstickt? Alles war doch bereits „rechts“, was irgendwie anders war: die Atomkraftbefürworter, die Flexitarier, die Kritiker der Corona-Maßnahmen. Oftmals wider alle soziologische Erkenntnis wurde auf Teufel komm raus geframet und gespalten, bis aus schlechtem Stil schließlich eine selbsterfüllende Prophezeiung wurde.  

Denn so, wie aus einem missachteten Schüler mit Gewissheit irgendwann ein schlechter Schüler werden wird, so wird auf unentwegter Bezichtigung irgendwann die tatsächliche Übertretung folgen. Aus Fremdbild wird Selbstbild, so wie auch Vorher und Nachher einander folgen. Die Erkenntnis, dass eben niemand eine Insel ist, wäre jetzt der beste Schutz gegen die politischen Extreme. Niemand lebt hinter einer Brandmauer. Jeder Mensch ist ein Teil des Hauses.

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