Boykotte wegen Ukraine-Krieg - Der böse Russe ist wieder da

Entlassene Künstler wie Waleri Gergijew oder Anna Netrebko, Hausverbote für russische Staatsbürger, Boykott russischer Lebensmittel, Umbenennungen russischer Produkte – der vermeintliche „Protest“ gegen den Krieg in der Ukraine treibt absonderliche Blüten. Er richtet sich längst nicht mehr nur gegen die russische Staatsführung, sondern gegen alles Russische.

Will sich wegen der Anfeindungen vorerst vom Konzertbetrieb zurückziehen: Anna Netrebko / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Die Lage ist ernst. Russland hat einen in dieser Form nicht für möglich gehaltenen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Viele Staaten, allen voran die USA, die Nato-Mitglieder und die Europäische Union, haben darauf unter anderem mit massiven wirtschaftlichen Sanktionen reagiert. Betroffen sind vor allem der internationale Zahlungsverkehr, der Luftverkehr und der Handel mit bestimmten Gütern. Auch die großen Sportverbände haben reagiert und russische Mannschaften von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen.  

So weit, so nachvollziehbar. Doch im Schlepptau dieser Maßnahmen sind längst Trittbrettfahrer unterwegs, deren kreative Irrationalität keine Grenzen zu kennen scheint. Große Handelsketten wie Rewe, Netto, Penny und Aldi haben angekündigt, russische Produkte aus dem Sortiment zu nehmen, womit man ein Zeichen setzen wolle. Das will auch ein schwäbisches Restaurant, das allen Bürgern mit russischem Pass zu Zutritt verwehren will. Und da will dann auch eine große badische Bäckereikette ihren Beitrag leisten. Dort hat man per Rundschreiben die Filialleiter angewiesen, die Produkte  „russischen Zupfkuchen“ und „russische Zupfschnitte“ nicht mehr unter diesem Namen anzubieten. Die Geschäftsleitung war auf Anfrage nicht zu einer Stellungnahme bereit.

Hexenjagd auf „Putin-nahe“ Künstler

Letzteres kann man vielleicht noch als marginale durchgeknallte Reaktion einiger süddeutscher Geschäftsleute verbuchen, doch der Tenor ist mehr als nur bedenklich, denn hier geht es nicht gegen die russische Staatsführung, die für den Krieg verantwortlich ist, sondern gegen „die Russen“ und alles Russische. Auch im Kulturbetrieb hat die Hexenjagd Fahrt aufgenommen. Prominenten Künstlern, wie dem Dirigenten Waleri Gergijew, wurden ultimativ bereits weitgehend vorformulierte Bekenntnisse gegen Präsident Putin abverlangt. Da dem nicht entsprochen wurde, verlor er unter anderem seine Stelle als Chefdirigent der Münchener Philharmoniker und vereinbarte Engagements in Hamburg, Luzern, Riga und Mailand.

Auch die berühmte Sopranistin Anna Netrebko steht in der Schusslinie des antirussischen Furors. Ihr Statement („Ich möchte, dass dieser Krieg aufhört und Menschen in Frieden leben können“) reichte den Kulturinstitutionen nicht aus. Zumal Netrebko auch noch erklärte: „Ich möchte allerdings anführen, dass es nicht richtig ist, Künstler oder irgendeine öffentliche Person zu zwingen, ihre politischen Ansichten öffentlich zu machen und ihr Vaterland zu beschimpfen.“ Jedenfalls hagelte es Konzertabsagen, und mittlerweile hat die in Wien lebende Sängerin angekündigt, sich zunächst komplett aus dem Konzertbetrieb zurückzuziehen. Dem Dirigenten und der Sängerin wird allgemein ihre „Putin-Nähe“ vorgeworfen. Äußerungen, in denen sie den Krieg gegen die Ukraine unterstützen, sind allerdings nicht bekannt.

Kein neues Phänomen

Es ist davon auszugehen, dass der Wettstreit der Russland-Boykotteure in den kommenden Tagen immer neue Blüten treiben wird, die sich vom Kern der Auseinandersetzung mit der russischen Führung vollkommen entkoppelt haben. So haben Fußballvereine ernsthaft darüber diskutiert, russische Spieler in ihren Mannschaften auszuschließen – sich aber immerhin (vorläufig) dagegen entschieden. Auch russische Restaurants und Lebensmittelgeschäfte dürften derzeit einen ziemlich schweren Stand haben

Dieser gleichermaßen blindwütige wie hilflose Furor ist keineswegs ein neues Phänomen. In meinem Leben sind mir zahlreiche Boykottaufrufe begegnet. So etwa gegen französischen Wein und Käse, als die französische Regierung 1995 auf dem Südsee-Atoll Mururoa Atombombentests durchführte. Damals leuchtete mir nicht im geringsten ein, was die französischen Winzer und Affineure mit der Sauerei in der Südsee zu tun haben sollen. Das galt auch für Boykottaufrufe gegen Orangen aus Israel und generell gegen Waren aus den USA. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Kleine Randnotiz: Von Boykottaufrufen gegen spanische Orangen, Erdbeeren und Tomaten, deren exportorientierter Anbau zu erheblichen ökologischen Verwüstungen führt, habe ich nie etwas gehört.

Ja, wir haben es derzeit mit einem furchtbaren Krieg zu tun, quasi vor der Haustür. Und der ist längst auch zu einem Krieg in den Köpfen geworden. Der Krieg in der Ukraine wird irgendwann zu Ende sein. Danach wird es gelten, beherzt die Trümmer aufzuräumen, auch die in den Köpfen. Die Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, also auch die zwischen Deutschen und Russen, wird durch diesen Krieg nicht beendet sein. Wer jetzt Öl in das Feuer gießt und dumpfe Instinkte gegen „die Russen“ und alles Russische schürt, erschwert diesen Weg erheblich.

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