Boris Palmer - Er kann nicht anders

In der Corona-Krise hat sich Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer mit dem Satz vergaloppiert, Deutschland rette mit einem Lockdown Menschen, die in einem Jahr sowieso tot wären. Die Grünen drohen ihm jetzt mit Parteiausschluss. Ist er diesmal zu weit gegangen?

Boris Palmer: Wie weit dürfen Provokateure bei den Grünen gehen? / picture alliance
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Johanna Henkel-Waidhofer ist Korrespondentin für Landespolitik in Baden-Württemberg für mehrere deutsche Tageszeitungen. 

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Er müsste sich nichts mehr beweisen, gar nichts mehr. Aber sagen, was ist, das muss er, weil er nicht aus seiner Haut kann. Wäre Boris Palmer weniger gnadenlos in seinem Drang, lästige Ansichten zu äußern, hätte er ordentliche Chancen gehabt, Deutschlands zweiter grüner Regierungschef zu werden. 

Der 48-Jährige hat sich radikal verändert. Äußerlich, denn in den friseurfreien Corona-Wochen fiel der charakteristische Haarschopf. Ach, wäre eine Wesensänderung nur ähnlich einfach, stöhnen die vielen, die sich seit Jahren anhaltend über ihn ärgern. Genauso wie die, die es immer noch gut meinen mit dem grünen Störenfried auf dem Chefsessel im Tübinger Rathaus. 

Kretschmann: Die rascheste Auffassungsgabe sämtlicher Politiker

Einer von denen, die ihn nicht fallen lassen wollen, ist Winfried Kretschmann. Den verbindet eine sehr lange Geschichte mit der Familie Palmer, die begann mit Vater Helmut, der in die Landesgeschichte als „Remstalrebell“ einging, der sich 1992 absichtlich den Wahlkreis Nürtingen aussuchte, um ein Landtagsmandat zu erkämpfen. Das gelang zwar nicht, aber der Obstbauer jagte dem heutigen Ministerpräsidenten so viele Stimmen ab, dass der eine vierjährige parlamentarische Zwangspause einlegen musste.

Dennoch und deshalb hat sich Kretschmann immer um den Filius bemüht. Er bescheinigt ihm die rascheste Auffassungsgabe sämtlicher Politiker hierzulande und rät im aktuellen Streit ums Überleben betagter Corona-Patienten, „runterzukommen von den Bäumen“. Keine üble Idee, allerdings ist sie zu versehen mit einem Verfallsdatum, weil Palmer selber ganz gewiss wieder hochsteigen wird. Zu tief sitzt die Überzeugung, nicht anders zu können und auch nicht anders zu dürfen. So wie Palmer senior, der mehr als 300-mal, aber konsequent erfolglos zu Wahlen im Land antrat. Immer wieder landete er sogar im Knast, weil er auf tatsächliche oder vermeintliche Widersacher losgegangen war, verbal oder mit der Faust, darunter auch auf Polizisten.

Aus dem Job bei der Bahn wurde nichts

Heute geht Sohn Boris jeden Tag auf dem Weg ins Rathaus über den Marktplatz, auf dem er als Kind verärgerten Stammkunden nachrannte, um sich für die väterlichen Schimpftiraden zu entschuldigen. „Mein Vater wollte immer mit dem Kopf durch die Wand“, erinnert er sich. Er selber schaue vorher, ob es da nicht doch eine Tür gibt. Studium, Landtagsmandat und seit 2007 Schultes in der legendären akademischen Hochburg Tübingen sind Stationen auf einem Lebensweg, der ihn zu einem der bekanntesten Kommunalpolitiker der Republik werden ließ. 

Dabei helfen nicht zuletzt der vom Vater geerbte Eigensinn, Intelligenz und ein Drang zum Rampenlicht, der gekonnt sein will: Bei der 2010 live übertragenen Schlichtung zu Stuttgart 21 nahm Palmer die angeblichen Kapazitätssteigerungen des unterirdischen Bahnhofs auseinander und erhielt am Ende von einem mächtig beeindruckten Bahnvorstand vor einem Millionenpublikum ein Jobangebot. 

Provokateur mit Erfolgsbilanz

Auch im Konflikt um die inzwischen berüchtigte Corona-Passage aus dem siebenminütigen Live-Interview im Frühstücksfernsehen reiht er die mathematische vor die „politisch korrekte Herangehensweise“. Und argumentativ will sich der Vater von zwei Kindern ohnehin nichts vorwerfen oder vorwerfen lassen: Schließlich, so sagt er, warnten jetzt auch Forscher der Johns-Hopkins-Universität davor, dass durch Corona-Auswirkungen weltweit mehr als eine Million Kinder zusätzlich an Hunger und Krankheit sterben könnten. Genau darauf habe er hinweisen wollen, mit „selbstzerstörerischer Verstärkung“ seiner Botschaft durch „verunglückte Wortwahl“, aber ohne dies geplant zu haben. 

Anderes plant er schon, und das bringt viele immer öfter gegen ihn auf: seine Äußerungen zur Flüchtlingskrise („Wir schaffen das nicht“) oder sein Buch „Wir können nicht allen helfen“, das ihm den Titel „Grüner Sarrazin“ eintrug. Überhaupt gibt es reichlich oft wenig freundliche Zuschreibungen, vom „Kuckucksei der Partei“ bis zum „manischen Provokateur“. Auch „Sonnenkönig“ ist geläufig, was milde immerhin zugleich auf seine Erfolge verweist. Einer davon besteht darin, in Tübingen durch konsequente Klimapolitik den Schadstoffausstoß gesenkt zu haben wie sonst nirgendwo in der Republik. 

Ministerpräsident im Südwesten wird er nicht mehr, OB vielleicht noch einmal 2021, selbst wenn ihm die Grünen auf Bundesebene die Unterstützung entzogen und dazu noch mit einem Parteiausschlussverfahren gedroht haben. Selbst von seinem Gemeinderat musste er sich eine Rüge gefallen lassen. Aber nicht wenige Tübinger mögen ihn halt bis heute. Wie Großeltern einen Enkel, sagte die berühmte Inge Jens einmal über ihn, für dessen Erziehung Gott sei Dank die Verantwortung andere trügen.
 

 

 

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe von Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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