Der Blick von außen auf die Ära Merkel - „Unerschütterliche Konsequenz, hartnäckige Entschlossenheit“

In einer fünfteiligen Folge ziehen Beobachter aus dem Ausland eine Bilanz der Amtszeit von Angela Merkel. Hier schreibt der russische Außenpolitik-Experte Dmitri Trenin, warum Angela Merkel trotz ihrer guten Russischkenntnisse ein kühles Verhältnis zu Wladimir Putin hatte.

Angela Merkel im Jahr 2007 zu Besuch bei Wladimir Putin und dessen Labrador Koney / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Dmitri Trenin leitet das Carnegie Moscow Center und gehört zu Russlands führenden Experten für Außenpolitik.

So erreichen Sie Dmitri Trenin:

Anzeige

Angela Merkels 16 Jahre als deutsche Bundeskanzlerin haben Berlins Platz und Rolle in Europa und in der Welt des 21. Jahrhunderts insgesamt geprägt. Deutschland ist zwar fest in die Europäische Union eingebettet, hat sich aber zu ihrer einzigen, wenn auch keineswegs absoluten Führungsmacht entwickelt. Es ist ein friedlicher Verfechter einer weichen europäischen Version des Liberalismus.

Die lautstarke Unterstützung von Werten ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Interventionismus. Es hindert Deutschland auch nicht daran, seine wirtschaftlichen Interessen zu verfolgen und eine pragmatische Außenpolitik zu betreiben – innerhalb der Grenzen des EU/Nato-Rahmens. Merkels Führung war fast immer beständig und verlässlich, und ihre Politik war weitgehend vorhersehbar. Zwar hat weder Deutschland innerhalb der EU noch hat die EU innerhalb des US-geführten Systems unter ihrer Führung strategische Autonomie erlangt, aber das war kaum Merkels Ziel.

Putins Perspektive

Aus Moskauer Sicht lässt sich Merkels Vermächtnis wie folgt zusammenfassen: Bestätigung der atlantischen Ausrichtung Deutschlands, Erlangung einer Primus-­inter-­Pares-Position innerhalb der EU und Distanzierung von Russland, ohne den Kontakt abreißen zu lassen.

2005 trat Merkel die Nachfolge von Gerhard Schröder an, unter dem das Bestreben des wiedervereinigten Deutschlands, in der Weltpolitik eine eigenständigere Rolle zu spielen, seinen Höhepunkt erreicht hatte. 2003 bildeten Berlin, Paris und Moskau sogar eine neue Entente, wie es der damalige russische Außenminister Igor Iwanow nannte, um sich der US-Invasion im Irak zu widersetzen und möglicherweise ein Gegengewicht zu Washington zu bilden. Die Vision eines größeren Europas vom Atlantik bis zum Pazifik, das auf der Kombination der deutschen/europäischen Industrie und den russischen Ressourcen beruhte, war dabei, Gestalt anzunehmen.

Zwischen Westen und Osten

Merkel, eine ehemalige ostdeutsche Staatsbürgerin, stand vor der Notwendigkeit, von der weitgehend atlantisch orientierten politischen Elite Deutschlands sowie von Berlins wichtigsten Verbündeten in Washing­ton akzeptiert zu werden. Die Verbesserung der angespannten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten wurde für sie zur Priorität, und sie arbeitete hart daran. Merkel hatte Erfolg, und im Gegenzug erhielt sie amerikanische Unterstützung für Deutschlands Führungsrolle in Europa, wenn auch im Rahmen der allgemeinen globalen Führungsrolle der USA. 

Das bedeutete nicht, dass Deutschland den USA blindlings folgte: 2008 lehnte Merkel das Angebot von George W. Bush ab, die Ukraine und Georgien in die Nato aufzunehmen, und 2010 beteiligte sich Deutschland nicht an der Nato-Militäroperation in Libyen und enthielt sich sogar bei der entsprechenden Abstimmung im UN-Sicherheitsrat zusammen mit China, Indien und Russland. Gleichzeitig ließ Merkel nicht zu, dass der Skandal um das Abhören ihres Mobiltelefons durch den US-Geheimdienst außer Kontrolle geriet.

Interimsanführerin

Während der Trump-Jahre stieg Merkel de facto zur vorübergehenden Anführerin des liberalen Westens auf. Diese einstimmige Wahl der großen Mehrheit der europäischen und amerikanischen Eliten war eine Anerkennung sowohl ihres persönlichen als auch des nationalen Ansehens Deutschlands und eine klare Beschwörung der demokratischen Werte und der Praxis liberaler Politik. 

Merkels informelle Amtszeit war mit der Wahl von Joe Biden zu Ende. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union nach dem Referendum von 2016 wurde die Position Deutschlands als Washing­tons wichtigster Verbündeter innerhalb der EU noch weiter gestärkt. Dies ist das wichtigste Element von Angela Merkels Vermächtnis.

Deutsche Dominanz

Als Merkel zum ersten Mal Bundeskanzlerin wurde, arbeitete Deutschland in der EU in der Regel mit Frankreich zusammen. Im Laufe der Zeit erreichte Berlin eine herausragende Position und machte Paris de facto zu seinem Juniorpartner. Die Ernennung von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission war ein Symbol für den deutschen – und Merkels persönlichen – Einfluss. 

Um diese Position zu erreichen, musste Deutschland die große Erweiterung der Union, die Schuldenkrise und die Brexit-Krise bewältigen. Merkel hat sich in allen drei Bereichen gut geschlagen. Ihr einziger größerer Misserfolg war die Einwanderungskrise von 2015.

Die Alleinherrschaft Berlins musste von den europäischen Partnern akzeptiert werden, auch von denen, die historisch gesehen Angst vor dem Diktat Berlins hatten. Besonders wichtig in dieser Hinsicht waren Deutschlands östliche Nachbarn: Polen und die baltischen Staaten, die seit jeher allergisch auf alles reagieren, was nach einem wiedergeborenen Deutschen Reich oder deutsch-russischen Absprachen aussehen könnte.

Kühle Beziehung zu Russland

Angela Merkel war die erste deutsche Bundeskanzlerin, die fließend Russisch sprach. Dies führte jedoch nicht zu einer engeren Beziehung zu Moskau. Vielmehr hat sich das Verhältnis deutlich abgekühlt. Dafür gab es mehrere Gründe. Einer davon war die Bekräftigung des atlantischen Charakters Deutschlands zu einem Zeitpunkt, als sich die Beziehungen Russlands zu den USA rapide verschlechterten.

Ein weiterer, bereits erwähnter Grund war die Erweiterung der EU, der ab 2004 ein Dutzend ehemals kommunistischer Länder angehörten. Dadurch veränderten sich sowohl die Zusammensetzung der Union als auch das Gleichgewicht innerhalb der Union. Viele der neuen Mitglieder hatten schmerzhafte Beziehungen zur Sowjetunion und zum Russischen Reich gehabt oder waren in der Vergangenheit sogar Teil des Russischen Reiches gewesen. Berlin, das eine Führungsrolle in der sich erweiternden EU anstrebte, konnte es sich nicht leisten, diese Gefühle zu ignorieren. Die EU-Erweiterung machte die osteuropäischen Länder auch zu wichtigen Handelspartnern und möglichen Investitionsstandorten für Deutschland – viel mehr als Russland, das den deutschen Osthandel lange Zeit dominiert hatte.

Deutscher Blick auf Russland

Für die deutsche Politikergeneration nach dem Ende des Kalten Krieges ist Russland nicht mehr das Land, das den Schlüssel zur deutschen Wiedervereinigung in der Hand hielt; es ist auch nicht mehr mit seinen Streitkräften in Ostdeutschland präsent; und es wird auch nicht mehr als Land der wirtschaftlichen Möglichkeiten im Osten angesehen. Vielmehr steht das postsowjetische Russland für einen gescheiterten Demokratisierungsversuch, eine ineffiziente und primitive oligarchische Wirtschaft und ein zunehmend autoritäres Regime, das von einem ehemaligen KGB-Agenten geführt wird.

Angela Merkels persönliche Beziehung zu Wladimir Putin war durchweg korrekt, aber nie zu eng. Die deutsch-russischen Beziehungen kamen zunächst mit wirtschaftlichen Projekten, politischen Konsultationen und hochrangigen gesellschaftlichen Foren wie dem Petersburger Dialog voran. Mitte 2011 gab es einen Moment, in dem Merkel öffentlich ihre Präferenz für Putins gewählten Interimsnachfolger, Präsident Dmitri Medwedew, zum Ausdruck brachte.

Immer schlechteres Verhältnis

Damals warb Merkel für eine Modernisierungspartnerschaft mit Russland in der Hoffnung, dass sich die Modernisierung nicht nur auf Technologie und Wirtschaft beschränken, sondern auch das russische politische System und die Gesellschaft nach westlichem Vorbild umgestalten würde. Die Erwartungen Berlins erwiesen sich als Wunschdenken. Die Enttäuschung war groß, als Putin beschloss, erneut für die russische Präsidentschaft zu kandidieren.

Die letzten mehr als sieben Jahre der Zusammenarbeit Merkels mit dem Kreml waren geprägt durch die Ukraine-Krise, die Krim-Frage und den bewaffneten Konflikt im Donbass. Die deutsch-russische Partnerschaft degenerierte zu einer transaktionalen Beziehung mit zunehmender gegenseitiger Kritik und abnehmendem Vertrauen.

Nie komplette Isolation

Die heftige Reaktion Russlands auf die Entwicklungen in der Ukraine verblüffte Merkel und ihre Kollegen. Vergeblich appellierte Putin an die deutsche Dankbarkeit gegenüber Moskau, den Schlüssel zur Wiedervereinigung umgedreht zu haben. Merkel übernahm die Führung bei der Verhängung von EU-Sanktionspaketen gegen Russland. Doch im Gegensatz zu anderen westlichen Staats- und Regierungschefs brach Merkel nicht alle Kontakte zu Moskau ab, um Russland zu „isolieren“ und damit zu „bestrafen“. Im Februar 2015 setzte Merkel ihr Ansehen aufs Spiel, als sie zu Marathonverhandlungen nach Minsk flog, um einen Waffenstillstand im Donbass zu vermitteln. Seitdem dreht sich ein Großteil ihrer Gespräche mit Putin um den Konflikt im Südosten der Ukraine.

Die drei Jahrzehnte währende Partnerschaft mag zwar der Vergangenheit angehören, aber die Beziehung geht weiter. 2021 bestand Merkel eine wichtige Prüfung, als sie die deutschen Interessen gegenüber den USA verteidigte. Trotz der angespannten Beziehungen zu Russland und der vehementen Kritik von Ländern an der Ostflanke der EU wie Polen und den baltischen Staaten sowie der Hysterie in der Ukraine gelang es Merkel, mit US-Präsident Joe Biden eine Einigung zu erzielen, die die Fertigstellung der Nord-Stream-2-Gaspipeline von Russland durch die Ostsee ermöglichte. Merkels unerschütterliche Konsequenz und hartnäckige Entschlossenheit unter massivem Druck, die schließlich zu einem positiven Ergebnis für Deutschland führten, wurden vom Kreml genau beobachtet und gewürdigt. Es wurde auch gewürdigt, dass sie vor ihrem Ausscheiden aus dem Amt eine letzte Reise nach Russland unternahm.

Gegenseitiger Respekt

Aus Moskauer Sicht war Merkels lange Amtszeit eine Zeit relativer, wenn auch nicht immer angenehmer Berechenbarkeit in den deutsch-russischen Beziehungen. Putin war oft anderer Meinung als die deutsche Kanzlerin, aber er respektierte sie. Für die russische Politik ist Deutschland nach wie vor das wichtigste Mitgliedsland der EU.

In der Vergangenheit waren die Beziehungen Moskaus zu den Großmächten stark von der Interaktion mit den Führern dieser Mächte abhängig. Ihre Zukunft wird in nicht geringem Maße davon abhängen, wer ihre Nachfolge antritt und wie der Nachfolger die Staatskunst beherrschen wird. Merkel hinterlässt in der Tat sehr große Fußstapfen, die es zu füllen gilt.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige