Berlins designierter Kultursenator - Joe Chialo: Süßer Trost der Neunziger

Kai Wegner will, wenn er zum Regierenden Bürgermeister gewählt wird, den Musikmanager Joe Chialo zum Kultursenator machen. Chialo verkörpert die hippe Musik- und Clubkultur Berlins. Doch die Kulturszene der Hauptstadt setzt sich aus weit mehr zusammen.

Joe Chialo (l.) und Kai Wegner beim Landesparteitag der Berliner CDU / dpa
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Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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In Berlin wird das Rad immerzu neu erfunden. Mit Alfred Döblin kam die Neue Sachlichkeit, mit Fassbinder der Neue Deutsche Film. Rainer Fetting war Star der Neuen Heftigen, und Judy Lybke brachte die Neue Malerei in die eigentlich recht unmalerische Nachwende-Stadt mit der tiefen Mauernarbe. Berlin, die Abrissbirne für die deutsche Seele, wie Peter Fox einst in seinem Song „Alles neu“ fabulierte, ist trotz aller Häme noch immer Innovationsmotor für die träge Restrepublik. Selbst als ein paar Hipster vor einigen Jahren mit dem Cold Brew den Aufgusskaffee neu erfanden, hielt man das in einigen Coworking-Cafés von Kreuzberg bis Mitte für den „Hot Shit“ der Barista-Kunst – und nicht für das, was es ja eigentlich war: Kalter Kaffee!

Denn das ist das eigentliche Problem bei der permanenten Runderneuerung der Themen, Trends und Teesorten: Die allermeisten Innovationen gibt es leider schon. Und nicht immer ist das vorangegangene Downgrade notgedrungen schon die schlechtere Vorversion vom aktuellen Ballyhoo. Bei dem unentwegten „Tempo! Tempo! Tempo!“, das die alte Sechstagerenn-Perle Berlin seit über hundert Jahren durch ihre Straßen pfeift, wirkt manches einfach nur erschöpft und vor allen Dingen geschichtsvergessen.

Gestern zum Beispiel war wieder so ein Tag. Da hat Berlin das Amt des Kultursenators neu erfunden. Quasi die „New Cultural Policy“. Das war eigentlich nicht überraschend: Als der designierte Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) gestern nämlich die Regierungsmannschaft seiner Partei vorstellte, war vieles vorher schon durchgesickert. Und so befand sich da neben der künftigen Justizsenatorin Felor Badenberg eben auch ein anderer politischer Newcomer im Aufgebot: Joe Chialo, ein 52-jähriger Musikmanager, der vielen schon im „Zukunftsteam“ von Kanzlerkandidat Armin Laschet aufgefallen war.   

Chialo betont, dass ihm besonders die Musik- und Clubkultur am Herzen liegt

Ein Typ wie Chialo scheint für manch einen Beobachter die neue „krass coole“ und „super cheedo“ Hauptstadt-CDU zu symbolisieren. Die Presse jedenfalls ist aus dem Häuschen. Der gelernte Zerspanungsmechaniker und einstige Türsteher aus dem Wahlkreis Spandau-Charlottenburg Nord ist „Talk of the Town“, wie das so schön heißt. Und das schon seit Wochen. „Freiheit, Zukunft, Liebe“ betitelte etwa die FAZ ihr wohlgesonnenes Porträt über den Sohn einer tansanischen Diplomatenfamilie aus dem Rheinland. Und selbst die linke Jungle World zeigte sich begeistert in Anbetracht eines „Kultursenators, der singen kann“.

Soviel Einstimmigkeit beim Jubilieren ist selten, passt aber in das Innovationsimage, das der CDU-Politiker seit geraumer Zeit verkörpert: Chialos Vorgänger – darunter Christoph Stölzl, Thomas Flierl oder Adrienne Göhler – waren vielleicht weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannte und meistenteils hochgeachtete Intellektuelle und Grübelgrößen. Singen aber konnten sie nicht. Zumindest haben sie ein derartiges Talent, sollte es denn vorhanden gewesen sein, später nicht auf Vinyl gepresst. Das ist bei Chialo, Wegners neuem Mann für die Senatsverwaltung an der Brunnenstraße, natürlich ganz anders: Mit der Crossover-Rockband Blue Manner Haze, einer Metal-Combo, die einst sogar Vorgruppe von Bad Religion war, hat der in den 1990er-Jahren zwei Platten aufgenommen. Platten, von denen es in einer damaligen Kritik hieß, sie könnten „Zweiflern die Schuhe ausziehen“; Platten, die sogar mal „zum Kracher des Jahres“ hochgeschrieben wurden.

Dass es dann doch anders kam, muss nicht notgedrungen an Leadsänger Joe Chialo gelegen haben. Als sich die Band 1995 auflöste, gründete er ein eigenes Plattenlabel und ist heute Manager bei Universal Music. Immer wieder hat Chialo daher in den letzten Wochen verkündet, dass ihm besonders die Berliner Musik- und Clubkultur am Herzen liege. Und das kommt natürlich an in einer Stadt, die ihre Beats und Bässe in den zurückliegenden Jahren immer weiter runterdimmen musste. Als etwa vor gut einem Jahr das Gerücht die Runden machte, dass das Berghain, einstmals bekanntester Techno-Club der Republik, seine weltbekannte „harte Tür“ für immer schließen müsse, stellte sich das später zwar als infames Gerücht heraus, wäre aber selbst unter Szenekennern kein wirklicher Schocker mehr gewesen. Der Rave erzeugt in Berlin eben keine Ekstasen mehr.

Und so wirkt der große Jubel um Musikmanager Joe Chialo fast ein wenig aus der Zeit gefallen. Clubkultur – welch süßer Trost der Neunziger! Das jetzt so weit über den Klee hinausgeschriebene Neue scheint also bei genauer Betrachtung wieder nur ein Upgrade des Alten zu sein. Dit is eben Berlin! Es lebe das coole Redesign des kalten Kaffees!

Die Berlin-CDU hätte mit Monika Grütters eine ausgewiesene Expertin in ihren Reihen gehabt

Nun sollte man aber auf keinen Fall den Morgen vor dem Abend bekritteln. Welche Pläne Joe Chialo konkret für die Ausstellungsflächen des Landes im Humboldt-Forum hat, wie er es mit der Off-Kultur hält oder wie er mit dem Publikumsschwund in den Berliner Theaterhäusern umgehen will? Es wird sich alles erst erweisen. Andererseits: Dass man bis dato kaum etwas anderes als Singen und Tanzen von und über den designierten Kultursenator gehört hat, ist auch nicht gerade ein gutes Zeichen. Denn die so oft gepriesene Vielfalt der Berliner Kultur setzt sich aus mehr zusammen als ein bisschen New Beat und Ambient auf ein paar abgeranzten Dancefloors. Berlin, das sind drei Opernensembles, sieben Sinfonie- und 15 Kammerorchester, 174 Theater und Konzerthäuser, 223 Museen und 129 Bibliotheken; das ist der unentwegte Zoff mit dem Bund und das ewige Gerangel mit der freien Szene.

Gut möglich, dass Wegners Kultursenator auf all diesen Gebieten bald schon für echte Überraschungen sorgen wird. Andererseits: Manch „Kracher des Jahres“ hat sein Pulver schnell verschossen. Ein wenig jedenfalls fühlt man sich mit der Personalentscheidung an die kleingeistige Hauptstadt-Union in der Ära Wowereit erinnert. Während der feierlaunige Sozi damals den weichen Standortfaktor Kultur wie kaum ein anderer zu bedienen wusste, fiel seinem einstigen CDU-Herausforderer Friedbert Pflüger nichts Besseres zum Thema ein, als Schlagersängerin Vicky Leandros in die Rolle einer Schatten-Kultursenatorin zu erheben. Ein bisschen Rummel, ein bisschen Rumtata: Fertig ist die Unterhaltungsmusik.

Dabei hätte die Berliner Union gerade jetzt eine ausgewiesene Expertin in ihren Reihen gehabt. Eine, die die unübersichtliche Berliner Kulturlandschaft mit all ihren Präsidenten und Generaldirektoren, mit ihren Genies und Newcomern, aber auch mit ihren Amts- und Bedenkenträgern so gut kennt wie keine Zweite: die ehemalige Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Immerhin war diese bis 2019 nicht nur Landesvorsitzende der Berliner Union, acht Jahre lang war sie auch Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Was sie von Bundesseite aus begann – den Aufbau des Humboldt-Forums zu einem „Museum neuen Typs“ oder die Errichtung eines leider viel zu teuren Museums der Moderne –, könnte sie jetzt von Landesseite aus beenden. Aber wie gesagt: In Berlin will man ja immer alles neu erfinden. So gesehen steht der neue Berliner Kultursenator Joe Chialo in bester Hauptstadt-Tradition.

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