Kritik an Friedrich Merz’ Gillamoos-Auftritt - Ist Kreuzberg jetzt doch Deutschland?

Nicht Kreuzberg, sondern Gillamoos sei Deutschland, so CDU-Chef Merz auf Bayerns größtem Jahrmarkt. Die Hauptstadtpresse ist empört. Dabei beschreibt Merz nur die Wirklichkeit: Die Mehrheit der Deutschen lebt in Kleinstädten.

Friedrich Merz und Markus Söder am Montag auf dem Gillamoos / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Wenn Frank Elstner in den 1980er-Jahren bei „Wetten, dass…?“ sein Publikum begrüßte, dann kannte seine Begeisterung über die Stadt, in der er gerade war, keine Grenzen. Wo immer er auftrat, versicherte er dem Publikum mit treuherzigem Blick, hier – beispielsweise in Hagen – gastiere und moderiere er am allerliebsten. Genau genommen hatte der TV-Star nur Lieblingsstädte. Doch das Publikum in der jeweiligen Stadthalle war glücklich.

In gewisser Weise ist der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz ein Nachfahre Elstners. Auch der Oppositionsführer begeistert seine Zuhörer gerne mit dem Hinweis, genau hier, „hier bei Ihnen“, sei Deutschland. „Nicht Berlin, nicht Kreuzberg, Gillamoos ist Deutschland“, schmeichelte er am Montag seinen Zuhörern beim großen Jahrmarkt im niederbayerischen Abensberg. Und die freuten sich; warum auch nicht?

Das Publikum zu umwerben, hat Merz nicht erfunden. Schon die Römer sprachen von der „Captatio benevolentiae“, dem Jagen oder Haschen der Redner nach Wohlwollen. Der Schriftsteller Harry Rowohlt nannte die Einführungsworte bei seinen Autorenlesungen die „Anschleimphase“. Wahlkämpfer aller Parteien versichern ihrem Publikum stets, wie gerne sie gerade in diese Stadt oder jenen Kreis gekommen seien, wie großartig es gerade hier sei. Jeder weiß, dass das dick aufgetragen ist. Aber wer hört nicht lieber ein übertriebenes Lob als eine abwertende Bemerkung?

„Spalten statt Versöhnen“

Merz freilich praktiziert die „Captatio benevolentiae“ – jedenfalls nach Meinung seiner zahlreichen Kritiker – auf geradezu empörende Weise. Wagte er es doch, das scheinbar ländlich-sittliche Niederbayern gegen die linksgrüne Hochburg Kreuzberg auszuspielen. Dabei täten bestimmte Politiker und Medien nichts lieber, als die ganze Bundesrepublik in ein linksgrünes 82-Millionen-Kreuzberg zu verwandeln.

Die grüne Bürgermeisterin des Berliner Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg, Clara Herrmann, fühlte sich von Amts wegen verpflichtet, ihren Bezirk gegen Merz in Schutz zu nehmen. „Auch im Sauerland sind mehr Leute mit dem Fahrrad unterwegs als mit dem Privatjet“, spottete sie. Was heißen soll: Wir Kreuzberger leben normaler als die „Bonze Merz“. Dass viele Grüne etwas gegen Leute haben, die es aus eigener Kraft zu Wohlstand gebracht haben, ist ja nichts Neues.

Während die Bezirksbürgermeisterin gegen den CDU-Chef etwas stichelte, fuhr der Chefredakteur des Berliner Tagessspiegel, Lorenz Maroldt, gleich das schwere Geschütz auf. Merz gehe mit dem Motto „Spalten statt Versöhnen“ in das Rennen um die Kanzlerschaft, empörte er sich. Zugleich enthüllte der Tagesspiegel, dass Merz seinen Gillamoos-Kreuzberg-Vergleich nicht etwa aus einer Bierzeltlaune heraus gezogen habe. Nein, viel schlimmer: „Merz ist Wiederholungsredner“, polterte Maroldt. „Er tut es im Sauerland, er tut es in Apolda.“ Apolda, Sauerland, Gillamoos – alle Orte sollen lebenswerter sein als Kreuzberg? Aus hauptstädtischer Sicht geradezu unglaublich.

 

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Ja, was tut er denn Schreckliches, dieser Merz? Er gibt zu verstehen, dass aus der Sicht eines CDU-Politikers Kreuzberg eben nicht nur die multikulturelle Idylle ist, wie sie von den Grünen gerne beschrieben wird. Das muss er aber erst gar nicht erwähnen. Mit Kreuzberg verbinden viele Menschen auch ohne Nachhilfe durch den CDU-Vorsitzenden die gewalttätigen Krawalle an jedem 1. Mai oder beim letzten Jahreswechsel. Bei Kreuzberg denkt man außerhalb Berlins an brennende Autos oder den Görlitzer Park mit seinen Drogendealern und anderen Gestalten, denen man nachts nicht begegnen möchte und ebensowenig am Tag.

Wiebke Hollersen, Reporterin bei der Berliner Zeitung, sieht Kreuzberg übrigens anders als der Merz-Kritiker vom Tagesspiegel. Sie schrieb: „Ich meide nicht nur den Park, sondern auch bestimmte Straßen inzwischen, um den Dealern und Süchtigen aus dem Weg zu gehen. Ich sehe Menschen hier viel öfter als früher auf der Straße Crack rauchen, auch direkt vor meiner Haustür, eine Droge, von der es heißt, dass sie besonders aggressiv mache.“

Kreuzberg ist nicht einmal typisch für Berlin

Kreuzberg, das 2001 mit Friedrichhain zusammengelegt wurde, ist eben anders; es ist nicht einmal typisch für Berlin. Zu Zeiten der deutschen Teilung war es Ziel vieler Wehrdienstverweigerer aus ganz Deutschland, die in Scharen nach Berlin „flohen“. Der an drei Seiten von der Mauer umschlossene Stadtteil entwickelte sich zum alternativen Biotop. Das spiegelt sich bis heute in den Wahlergebnissen wider.

Hans-Christian Ströbele, einst Verteidiger von RAF-Mitgliedern und grüner „Fundi“, errang hier bei der Bundestagswahl 2002 das bundesweit erste und einzige Direktmandat für die Grünen und verteidigte es drei Mal. Dass Friedrichshain-Kreuzberg „nicht Deutschland“ ist, zeigte sich bei der Bundestagswahl 2021: 37 Prozent Grüne, 19 Prozent SPD, 18 Prozent Linke und 7 Prozent CDU. Da liegen die Ergebnisse im Wahlkreis Landshut, zu dem Abensberg gehört, deutlich näher an den bundesweiten: 33 Prozent CSU, 16 Prozent SPD, 10 Prozent Grüne und 2 Prozent Linke.

Merz beschreibt nur die Wirklichkeit

Wenn Merz darauf hinweist, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht in städtischen Ballungsräumen lebt, sondern in kleinen und mittleren Städten, dann spaltet er nicht, sondern beschreibt nur die Wirklichkeit. 40 Prozent der Deutschen wohnen in Städten und Gemeinden unter 20.000 Einwohnern, 59 Prozent in solchen unter 50.000. Wer das ausspricht, bei dem wird nicht „Ressentiment zum Programm“ (Tagesspiegel). Der wendet sich nur dagegen, dass sich die Politik – vor allem beim Thema Mobilität und Energie – zu sehr an denen orientiert, die in den ganz großen Städten leben.

Friedrich Merz ist kein Frank Elstner, dafür fehlt ihm die Leichtigkeit. Aber er ist auch kein Spalter, wenn er Kreuzberg nicht zum Leitbild für ganz Deutschland erhebt. Dass das in Berlin nicht sonderlich gut ankommt, liegt auf der Hand. Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner (CDU) selbst äußerte sich nicht. Seine Sprecherin meinte jedoch, „ein bisschen Kreuzberg für alle wäre auch gut“. Nun ja: Mit „mehr Kreuzberg“ im restlichen Berlin hätten Wegner und die CDU die letzte Wahl nicht gewinnen. Und mit „mehr Kreuzberg“ im ganzen Land bräuchte die CDU bei der nächsten Bundestagswahl erst gar nicht anzutreten.

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