Baerbock-Debatte - Wie hältst du es mit dem Eigentum?

Hannah Arendt bemerkte einmal, es sei nicht so, dass der Dieb das Eigentumsrecht nicht kenne. Er gestattete sich eine Ausnahme zu seinen Gunsten. Dasselbe tat Baerbock. Sie wusste, Autoren hatten für die Texte gearbeitet, die sie sich aneignete. Sie gestattete sich eine Ausnahme zu ihren Gunsten.

Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock Foto: Christian Mang/dpa
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Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Die Debatte der vergangenen Woche um Annalena Baerbock sind ein Spiegel der Gesellschaft in unserer Zeit. Die eine Seite führt Unwahrheiten im Lebenslauf, erfundene Mitgliedschaften und wörtliche Übernahme von Texten anderer Autoren ins Feld, um nahezulegen, die grüne Politikerin sei für das Kanzleramt charakterlich nicht geeignet. Baerbocks Unterstützer meinen, dass die wörtliche Übernahme von Texten in ihrem Buch „Jetzt: Wie wir unser Land erneuern“ kein Plagiat sei, da es sich nicht um eine wissenschaftliche Arbeit handele.

Zudem gehen zahlreiche Verteidiger von einer gezielten Kampagne gegen Baerbock aus. Einige sind gar überzeugt, dass Frauenfeinde am Werk seien, die mit allen – vor allem unfairen – Mitteln versuchten, die abermalige Übernahme des Kanzleramts durch eine Frau zu verhindern. Die Absurdität mancher Behauptung der Verteidiger hat Don Alfonso jüngst in der Welt erklärt. Wie sehr die Argumente der Baerbock-Kritiker am Kern der Affäre vorbeigehen, wird bei einer Veränderung des Blickwinkels offenbar.

Wie geht der Staat mit Eigentum um?

Die Grünen werden mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit an der Regierung beteiligt sein. Viele Stimmen im politischen Berlin meinen, dass die Grünen vor allem ein zusammengelegtes Bau- und Umweltministerium anstreben. Beide Ministerien verfügen nicht nur über gewaltige Etats, die dort getroffenen Entscheidungen wirken in der Regel lange über eine Legislaturperiode hinaus. Vor allem aber haben sie erheblichen Einfluss auf eine wichtige Frage vieler Bürger: Wie geht der Staat mit ihrem Eigentum um? In Artikel 14 des Grundgesetzes gewährleistet der Staat das Eigentum. Allerdings wird dort ebenfalls bestimmt, dass der Inhalt und die Schranken dieser Gewährleistung von Gesetzen bestimmt werden. An der grünen Basis ist beispielsweise die Forderung populär, Mietsteigerungen bei Neuvermietungen gesetzlich zu begrenzen.

Dabei gehören rund 60 Prozent der Mietwohnungen in Deutschland nicht Konzernen, sondern Privatleuten, die keine hauptberuflichen Vermieter sind. Ihre zumeist ein bis zwei Wohnungen sind das, was die Politik seit Jahrzehnten fordert: private Altersvorsorge. Wer von diesen Privatvermietern würde nicht demjenigen Bewerber mit dem besten und solidesten Einkommen den Mietvertrag geben? Wohl nützt die Mietpreisbremse weniger den sozial Schwachen, aber sie sorgt auch dafür, dass viele sich jetzt sehr genau überlegen, ob sie eine Mietwohnung als Teil der Alterssicherung kaufen – die Vergrößerung des Wohnungsangebots wird so jedenfalls nicht erreicht. Erreicht wird vor allem die Erschütterung in die Eigentumsgarantie des Staates.

Schmaler Grat

Sie wird noch verstärkt durch die Bestrebungen, Immobilieneigentum durch neue Vorschriften und Auflagen in einer Weise zu belasten, die de facto einen Vermögensverlust nach sich zögen. Das träfe jedoch nicht nur die Kleinvermieter, sondern auch all jene, die ihre Ersparnisse in Immobilienfonds angelegt haben oder deren Banken und Lebensversicherer Kundengelder in Immobilien investiert haben. Der Grat zwischen politischer Steuerung und Beschneiden von Eigentumsrechten könnte bei einem von den Grünen geführten Bauministerium recht schmal werden.

Daher ist eine Frage essenziell: Wie halten es die Grünen, wie hält es ihre Kanzlerkandidatin mit dem Eigentum? Die Philosophin Hannah Arendt hielt 1965 eine vierteilige Vorlesung mit dem Titel „Über das Böse“. Darin bemerkt sie, dass es nicht so sei, dass der Dieb das Eigentumsrecht nicht kenne. Er gestatte sich nur eine Ausnahme zu seinen Gunsten. Die Grünen fordern: „Kulturschaffende sollen angemessen vergütet und sozial besser abgesichert werden.“ Und auf der Website ihrer Bundestagsfraktion ist zu lesen: „Wir Grüne im Bundestag haben uns stets dafür eingesetzt, dass die berechtigten Interessen der Urheber*innen auf Vergütung (…) rechtlich sauber gelöst werden.“

Kulturschaffende gehören nicht zu den Spitzenverdienern

Nicht alles, was nicht verboten ist, steht im Einklang mit der Vorbildfunktion jener Menschen, die in höchsten Ämtern den Staat repräsentieren und lenken wollen. Ob die Aussage des Medienanwalts der Grünen zutrifft, dass es sich bei den diskutierten Passagen in Baerbocks Buch weder um Plagiate noch um Urheberrechtsverletzungen handele, werden gut ausgebildete Juristen trefflich zu beurteilen wissen. Allerdings führt diese anwaltliche Behauptung kaum zur „angemessenen Vergütung“ und Wahrung der „berechtigten Interessen der Urheber*innen“ jener übernommenen Texte.

Die Mehrheit der Kulturschaffenden gehört nicht zu den Spitzenverdienern. Es ist deshalb wichtig und richtig, dass sich die Politik gegen die Umsonstkultur auf dem Rücken von Musikern, Autoren und Künstlern wendet. Es ist gesellschaftlicher Konsens, dass Ladendiebstahl nicht richtig ist. Mancher argumentiert, dass „die Konzerne“ doch genug Geld hätten, da falle eine Aneignung von ein wenig Eigentum doch kaum ins Gewicht, gar wenn der Dieb aus sozial schwachen Verhältnissen kommt. Was aber, wenn sich jemand einfach Eigentum von jemandem aneignet, der zu den unteren Einkommensgruppen gehört? Und was, wenn er dabei selbst zu den Spitzenverdienern gehört? Annalena Baerbocks Jahreseinkünfte liegen im sechsstelligen Bereich. Das wird niemand unangemessen finden, der die Arbeitsbelastung in der Politik und die ungleich höheren Vergleichsgehälter in der Wirtschaft kennt.

Vertrauen in die Demokratie schwindet

Unangemessen ist etwas anderes: Das Eigentumsverständnis einer privilegierten Frau, die als Parteichefin die Führung unseres Staates übernehmen will, ist die eine Sache. Die andere Sache ist es, wenn es zu den politischen Zielen dieser Parteichefin gehört, dass Kulturschaffende, die Texte ersinnen und oft sehr mühsam erarbeiten, angemessen bezahlt werden sollen. Gerade weil Frau Baerbock durch die Formulierung dieser Ziele um die Situation der Kulturschaffenden weiß, ist es – um zu Hannah Arendt zurückzukommen – nicht so, dass sie nicht wusste, dass irgendwer für die Texte gearbeitet hatte, die sie sich angeeignete. Sie hat sich nur eine Ausnahme zu ihren Gunsten gestattet.

Das ist deshalb besonders bemerkenswert, da die Kulturschaffenden durch die digitale Revolution und die Umsonstkultur wirtschaftlich immer weiter unter Druck geraten, nun aber zusätzlich mit den existenzbedrohenden Pandemiefolgen zu kämpfen haben. In solchen Ausnahmezuständen sind nach Hannah Arendt jene Menschen die zuverlässigsten, die von sich aus sagen: „Das kann ich nicht tun“ und nicht diejenigen, die sich auf eine Vorschrift berufen und sagen: „Das darf ich nicht tun.“ Und Zuverlässigkeit ist das, was der Wähler zuallererst von den Regierenden erwartet, denn daraus entsteht Vertrauen. Egal welcher Politiker von welcher Partei sich Ausnahmen zu seinen Gunsten gestattet: Dieser Umgang Privilegierter mit Werten zerstört bei vielen das Vertrauen in die Demokratie und jene, die sie repräsentieren. Eine junge, zuverlässige und motivierte Kanzlerin wäre eine Chance auf einen Mentalitätswechsel in der Politik gewesen.

Autoren können sich von Baerbocks Buch nichts kaufen

Der Kern der Diskussion um das Buch von Annalena Baerbock besteht deshalb aus zwei Wesenselementen: Da ist das tatsächliche Verhältnis der Grünen und ihrer Spitzenkandidatin zur Eigentumsfrage. Und da ist die Aussage des Medienanwalts der Grünen, der für seine Mandanten behauptet, dass die Übernahme von Textpassagen keine illegale Urheberrechtsverletzung gewesen sei. Selbst wenn das zuträfe: Diejenigen, deren Texte Baerbock durch ihr Buch zu klingender Münze macht, können sich davon nichts kaufen. Sie werden also – aus Sicht des Medienanwalts der Grünen legal – um die Früchte ihrer Arbeit und damit um ihr Eigentum gebracht.

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