Arbeitsrechtler Thüsing zur Impfpflicht - „Man muss alle Mittel unterhalb des Zwangs ausschöpfen“

Markus Söder erntete viel Kritik für seinen Vorstoß, Pflegekräfte zur Impfung zu verpflichten. Der Arbeitsrechtler Gregor Thüsing erläutert im Interview, warum er eine Impfpflicht für Pfleger für legitim, aber trotzdem unwahrscheinlich hält.

Markus Söder fordert Pfleger auf, sich impfen zu lassen / dpa
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Autoreninfo

Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

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Prof. Dr. Gregor Thüsing ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn und gilt als einer der führenden deutschen Arbeitsrechtler.

Herr Thüsing, Sie haben sich im Dezember bereits im Deutschlandfunk zu einer möglichen Impfpflicht geäußert. Sie gingen davon aus, dass nur wenige Pfleger die Impfung verweigern. Sie scheinen sich getäuscht zu haben. Markus Söder hat deswegen eine Impfpflicht für Pfleger vorgeschlagen. Wollte er die Debatte nur an sich reißen, oder ist es ein ernstzunehmender Vorschlag?

Ich kann nicht in Herrn Söder hineinschauen, aber selbstverständlich ist es ein legitimer Ansatz. Wenn es freiwillig nicht geht, muss die Politik sich die Frage stellen, ob man gesetzgeberischen Zwang an die Stelle setzen muss. Die Erwartung – die wahrscheinlich nicht nur ich, sondern viele gehabt haben – dass die Pfleger aus der Verantwortung für die ihnen Anvertrauten sich freiwillig für eine Impfung melden, hat sich nicht erfüllt. Über eine gesetzgeberische Impfpflicht nachzudenken ist legitim. 

Insofern halte ich das von Herrn Söder für einen Diskussionsbeitrag, den er nicht aus politischem Kalkül gemacht hat, sondern aus Sorge um die vulnerablen Gruppen. Die, die gepflegt werden, haben keine Alternative, als sich pflegen zu lassen. Wollen wir es als Gesetzgeber akzeptieren, dass mögliche Instrumente zur Reduzierung des Ansteckungsrisikos nicht genutzt werden?

Sie halten eine Impfpflicht also für verhältnismäßig?

Eine moralische Pflicht zum Impfen gibt es ohnehin. Das ist ein Akt der Solidarität zur Gesellschaft, oder wenn Sie aus christlicher Sicht argumentieren wollen, ist es ein Akt der Nächstenliebe. Zur Frage, ob es gesetzgeberisch durchsetzbar wäre, gibt es das Beispiel der Masern. Das ist nie eine Impfpflicht, durch die man den Arbeitnehmer zwingen kann, sich zu impfen; das kann es nicht sein. Aber wenn ich der Obliegenheit zur Impfung nicht nachkomme, kann der Arbeitgeber entsprechende Konsequenzen ziehen. 

Welche wären das?

Der Arbeitgeber wird überlegen, ob man den Arbeitnehmer in einen Bereich versetzen kann, wo eine Impfung nicht erforderlich ist, und wo es nicht möglich ist, verliert der Arbeitnehmer seinen Entgeltanspruch. Eine Impfpflicht ist also keine Pflicht, die erzwungen werden kann, sondern eine Obliegenheit, aus der der Arbeitgeber Konsequenzen ziehen kann.

Markus Söder wurde von vielen Seiten für den Vorstoß kritisiert. Die Pfleger, die gerade noch gelobt worden, würden jetzt als Sündenböcke dargestellt. 

Sündenböcke – das wäre ganz falsch. Was die Pflege unter Corona-Bedingungen leistet, ist ganz und gar beeindruckend. Das ist fantastisch. Da müssen wir dankbar für sein. Die andere Frage ist, ob die Politik nicht – ungeachtet dieses richtigen Umstandes – sagen kann: Wir wollen den optimalen Schutz der zu Pflegenden. Die hohen Todeszahlen in Pflegeheimen zeigen, dass dieser Schutz erforderlich ist. Da kann der Gesetzgeber seiner Schutzpflicht nachkommen. Es gibt ein gesetzgeberisches Instrumentarium, was wir nutzen können. Zu diesem Instrumentenkasten gehören auch Impfpflichten in besonderen Bereichen und jeder, der diesen Schritt nicht geht, muss überlegen, warum.

Und was macht man mit den Pflegern, die nicht mitmachen wollen?

Einen Pfleger kann man auch in Bereichen anstellen, in denen das Ansteckungsrisiko nicht so groß ist.

In welchen Bereichen ist das Ansteckungsrisiko denn nicht hoch?

Das wird man im Einzelfall sehen. Das ist in Pflegeeinrichtungen vielleicht etwas schwieriger als in Krankenhäusern. Aber zumutbare andere Einsatzmöglichkeiten müssen ausgeschöpft werden. 

Aber da muss man sich genau so fragen, was man mit einer Erzieherin oder einem Erzieher macht, die sich nicht gegen Masern impfen lassen wollen. Das ist ein vergleichbarer Fall. Hier hat der Gesetzgeber die Antwort gefunden, dass diese Person nicht beschäftigt werden kann. 

Gregor Thüsing / privat

Aber nehmen wir an, 20 Prozent der Pfleger entscheiden sich gegen die Impfung. Schießt man sich damit nicht ins eigene Bein?

Das ist eine Konsequenz, die man selbstverständlich mitbeachten muss. Wenn es am Ende dazu führt, dass wir keine Pflegerinnen und Pfleger haben und die notwendige Pflege der Betroffenen nicht mehr gewährleistet ist, dann wird der Gesetzgeber den Teufel tun, so etwas zu machen.

Aber um auf Ihre Eingangsfrage zurück zu kommen, es bleibt ein legitimes politisches Ansinnen, nachzudenken, ob es ergänzender Schritte bedarf. Es geht hier um den Schutz derer, die sich selbst nicht schützen können. Es geht salopp gesagt, manchmal vielleicht um Leben und Tod. Es geht um Ängste, infiziert zu werden, die den Pflegebedürftigen ein Stück genommen werden können. Das alles müssen wir ernst nehmen.

Könnte eine solche Pflicht bundesweit durchgesetzt werden, oder stünde dabei unser Föderalismus im Weg?

Das fiele unter den Infektionsschutz, und für den hat der Bundesgesetzgeber auch die Gesetzgebungskompetenz. Das wurde auch von denen, die die Verfassungskonformität des Masernschutzgesetzes bezweifeln, bislang nicht in Frage gestellt. Kompetenzmäßig ist das kein Problem. 

Denken wir mal über die Pfleger hinaus. Wenn für diese dann die Impfpflicht käme...

Ich glaube nicht, dass sie kommt, jedenfalls nicht aktuell. Die Politik muss schließlich all die von Ihnen genannten Punkte bedenken. Man kann nicht die Pflegekräfte vergraulen. Wir sind maßgeblich darauf angewiesen, dass sie weiterhin ihren wertvollen Dienst tun. Da wird man mit der Brechstange nicht viel erreichen. Deshalb mag man zweifeln, dass die Politik am Ende diesen Schritt gehen wird. 

Aber wenn Sie sehen, dass beispielsweise in Schweden die Hälfte aller Todesfälle in Pflegeheimen vorkommen; muss man dann nicht alles tun, um die Tode in Pflegeheimen zu reduzieren? Ich denke an Fälle in meinem eigenen Verwandtenkreis und weiß, dass diese sich schlicht wohler fühlen würden, wenn alle Pflegerinnen und Pfleger geimpft wären – wie ich übrigens auch.

Damit eine Impfpflicht effektiv wäre, bräuchten wir hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass ein Geimpfter auch nicht mehr die Krankheit übertragen kann. Wir machen das schließlich für die zu Pflegenden. Das ist insgesamt ein offener politischer Prozess. Eine Pflicht des Staates zur Schaffung einer Impfpflicht – gleichsam in Konkretisierung seiner Schutzpflichten für Leib und Leben seiner Bürger – gibt es sicherlich nicht.

Auch in Deutschland stammen die meisten Toten aus Altenpflegeheimen. Was müsste denn jetzt noch schlimmer werden, damit die Impfpflicht politisch durchsetzbar wäre?

Darüber kann ich nur spekulieren. Dafür müsste es eine gesellschaftlich breitflächige Unterstützung für die Impfpflicht geben. Die Politik hat sich weit aus dem Fenster gelehnt und gesagt, dass es keine Impfpflicht geben wird. Punkt. Der Bundesgesundheitsminister und die Bundesjustizministerin haben das noch einmal deutlich gemacht. Wenn jetzt eine Impfpflicht käme – und sei sie nur für Pfleger – dann werden einige vielleicht sagen: „Wehret den Anfängen! Mit den Pflegern fangen wir an und demnächst werden wir alle zwangsgeimpft.“ Es könnte eine Stimmung gegen das Impfen eintreten. Vor solchen Ängsten habe nicht nur ich Angst.

In dem Moment aber, in dem wir eine breite Unterstützung für das Impfen haben, dann haben wir sie vielleicht für eine Impfpflicht, und dann wird die Politik auch handeln. Solange die fehlt, glaube ich nicht, dass sie sich durchsetzen wird. Aber die Dinge entwickeln sich dynamisch. Wir wissen nicht, was an Pandemien noch auf uns zukommt.

Ein Alternativvorschlag ist, Prämien an impfwillige Pfleger zu zahlen.

Das halte ich für einen guten Weg.

Denken Sie, dass wegen 500 Euro die Bedenken verfliegen?

Naja, es gibt Fälle, in denen Eltern ihre Kinder erst dann gegen Masern impfen lassen, wenn sie sonst nicht am Schulausflug teilnehmen können. Oftmals braucht es nur einen zusätzlichen Anstoß. Ich meine schlicht: Man muss alle Mittel ausschöpfen unterhalb des Zwangs. Vielleicht sind die 500 Euro auch gar nicht so sehr der Anreiz, sich impfen zu lassen, sondern der Anreiz, sich über Impfungen genau zu informieren und dann festzustellen: So schlimm ist das gar nicht. Und das könnte dann noch zu einer höheren Impfbereitschaft führen. Ich würde mich darüber freuen. 

Die Fragen stellte Jakob Arnold.

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