Annalena Baerbock - Die Grünen haben sich geirrt

Unabhängig davon, für wie gravierend man kleinere Schummeleien beim Verfassen von Kandidatenbüchern oder Lebensläufen hält: Die Affäre Baerbock offenbart, dass die Grünen aufs falsche Pferd gesetzt haben.

Unter Druck: Die Zweifel an Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock wachsen / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Autobiografisch-programmatische Bücher, die Politiker auf dem Stolperweg zur Macht veröffentlichen, sind inzwischen ein eigenes Genre. So brachte SPD-Kurzzeit-Hoffnungsträger Martin Schulz vor der Bundestagswahl 2017 sein wegweisendes Werk „Was mir wichtig ist“ auf den Markt. „Wer wissen möchte, wer der Mann ist, der der nächste Bundeskanzler sein will, erfährt es hier aus erster Hand“, warb der Verlag damals.

Schulz‘ Buch erschien mitten im sozialdemokratischen Höhenrausch aus Umfragewerten und Medienhype. Der Aufprall auf dem Boden der Realität war danach umso härter.

„Ich kann, ich will und ich werde“

Im Herbst 2018 legte Annegret Kramp-Karrenbauer mit „Ich kann, ich will und ich werde“ nach, verfasst im Gespräch mit zwei Journalistinnen. Die gescheiterte Merkel-Nachfolgerin war damals als neue CDU-Vorsitzende gestartet und nahm Kurs aufs Kanzleramt. Doch wenige Monate nach dem Erscheinungstag stolperte Kramp-Karrenbauer über die Folgen der Thüringer Landtagswahl und trat den Rückzug an.

Ganz ähnlich scheint es nun Annalena Baerbock zu gehen. Als wegen nicht angemeldeter Sonderzahlungen und eines ungenau bis aufgebauscht formulierten Lebenslaufs die ersten Zweifel an ihrer Kanzlerinnen-Eignung laut wurden, war „Jetzt – Wie wir unser Land erneuern“ wohl schon längst im Druck. Der österreichischer Plagiatsjäger Stefan Weber hat es sich sofort nach Erscheinen vorgeknöpft und einige Passagen gefunden, die von der grünen Spitzenkandidatin oder ihren Ghostwritern offenbar aus anderen Quellen übernommen wurden, ohne diese zu kennzeichnen.

„Propagandakrieg“ und „Dreckskampagne“

Dass darüber umfangreich und kritisch berichtet wurde, ist für einige Grüne eine Ungeheuerlichkeit. Der Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer, der als Baerbocks Entdecker und Förderer gilt, wittert einen „rechten Propagandakrieg“ gegen die Kanzlerkandidatin. Jürgen Trittin bezeichnet die Abschreibvorwürfe als „Dreckskampagne“.

Inzwischen hat Plagiatsjäger Weber nachgelegt und mehrere Passagen in „Jetzt – Wie wir unser Land erneuern“ gefunden, die sehr ähnlich in einem früheren Beitrag von Jürgen Trittin auftauchen. Aber wer weiß schon, woher der sie damals hatte.

Unabhängig davon, für wie gravierend man kleinere Schummeleien beim Verfassen von Kandidatenbüchern oder Lebensläufen hält: Die Affäre Baerbock offenbart, dass sich die Grünen übernommen haben. Sie haben sich von guten Umfragewerten dazu verleiten lassen, zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen eigenen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers auszurufen. Ihnen fehlt aber trotz aller perfekt inszenierten Wohlfühlbilder die Professionalität eines gut geschmierten Wahlkampfapparats und die breite Unterstützungsbasis einer wirklichen Volkspartei.

Habeck galt als größeres Risiko

Hinzu kommt, was auch innerhalb der Partei inzwischen manche denken: Die Grünen haben bei der angeblich in harmonischer Eintracht vollzogenen Kandidatenkür aufs falsche Pferd gesetzt. Dass Robert Habeck seiner Co-Parteichefin Annalena Baerbock vor allem aufgrund ihrer Weiblichkeit den Vortritt gelassen hat, ist die Legende, die den Grünen als Erfindern der Frauenquote gut zu Gesicht steht. Hinzu kam jedoch: Intern rechnete man sich mit ihr bessere Chancen aus. Habeck, der zwar sympathisch rüberkommt und Regierungserfahrung mitbringt, galt als das größere Risiko.

Dies rächt sich nun für die Grünen. Denn Habeck, der gerade unter weiblichen Anhängern seiner Partei viele Fans hat, ist promovierter Literaturwissenschaftler und hat schon mehr als ein Dutzend Bücher veröffentlicht. Bislang ist noch kein Plagiatsvorwurf gegen ihn bekannt geworden.

„Von hier an anders“

Wobei sich das selbstverständlich noch ändern kann. Sein jüngstes Werk „Von hier an anders“ ist erst im Januar erschienen. In seinem „klugen und nachdenklichen neuen Buch“, so die Eigenwerbung, entwirft Habeck „eine Politik, die den Problemen unserer Zeit angemessen ist“.

Sollte sich Baerbock in den kommenden Wochen nach und nach aus dem Wahlkampf zurückziehen – vielleicht, weil sich das Konzept einer Grünen-Kanzlerkandidatur sowieso erledigt hat – träte Habeck umso stärker ins Rampenlicht. Auch wenn die Grünen sich dann noch einmal ganz neu sortieren müssten, das Buch zum neuen Kandidaten wäre immerhin schon da. Und dessen Titel wäre aktueller denn je.

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