Angela Merkel und die Ministerpräsidentenkonferenz - Die Wut der Verzweiflung

Das Corona-Treffen der 16 Länderchefs mit der Bundeskanzlerin offenbarte eines: Die Angst vor einem wirtschaftlichen Niedergang ist viel realer, als es bislang zugegeben wurde. Eine zweite Welle könne sich Deutschland ökonomisch nicht leisten, sagte Angela Merkel.

Michael Müller, Angela Merkel und Markus Söder / dpa
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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Als Angela Merkel gestern zu inzwischen bei solchen Gipfeln fast gewohnt später Stunde vor den Hauptstadtkameras saß, war irgendetwas anders. Die Kanzlerin, so schien es, saß da mit der Wut der Verzweiflung. Betont war sie zwar weiterhin bemüht um Sachlichkeit. Aber Merkel wirkte nicht nur stimmlich angekratzt. Sie ist von ihrem Weg harter Maßnahmen überzeugt. Doch nicht alle ziehen mit. So wurde es aus der Sitzung mit den 16 Länderchefs kolportiert. Merkel soll gesagt haben: „Es reicht einfach nicht, was wir hier machen.“ Wie groß die Verzweiflung über das Erreichte, beziehungsweise nicht Erreichte ist, zeigt heute ihr eigener Kanzleramtsminister im Morgenmagazin der ARD mit den Worten: „Wir müssen im Grunde genommen mehr machen und vorsichtiger sein als das, was die Ministerpräsidenten gestern beschlossen haben.“

So möchte Merkel etwa die Mobilität von Menschen, ergo das Reisen, gerne begrenzen, weil diese die Ausbreitung des Virus zusätzlich begünstigen kann. RKI-Chef Lothar Wieler hatte zwar bei seiner gestrigen Pressekonferenz noch einmal betont, dass im Grunde nicht die Mobilität die Ursache sei. Sondern, dass es auf das richtige Verhalten der möglicherweise unwissend infizierten Menschen vor Ort ankomme. Das klingt logisch, aber es geht davon aus, dass sich die Menschen richtig verhalten. Die Kanzlerin will auf Nummer sicher gehen, weil sie weiß, dass es letztlich nicht in ihrer Macht liegt, dass die Leute sich richtig verhalten.

Ein Mensch, der sich nach Meinung vieler jedenfalls nicht richtig verhält, saß nach vielen Stunden des Ringens rechts von Merkel. Für Michael Müller, den Regierenden Bürgermeister Berlins, war sein Corona-Ampelsystem schon längst auf Rot gesprungen – und er tat letztlich nichts. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz argumentierte er dann sogar pathetisch historisch, die Stadt sei in ihrer „Geschichte mehrfach abgeriegelt“ gewesen. „Das ist für mich keine erneute Option“, sagte er.

„Das Team Umsicht und Vorsicht“

Und von solchen Müllers gibt es inzwischen immer mehr: etwa Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff oder auch NRW-Landeschef Armin Laschet. Sie alle wehren sich aus unterschiedlichen Gründen gegen härtere Maßnahmen. Sie alle spielen damit nicht im „Team Umsicht und Vorsicht“, wie es Bayerns Ministerpräsident Markus Söder links neben Merkel sitzend dann frotzelnd ausdrückte. Dieses Team habe sich aber „heute durchgesetzt“. Am Ende nämlich hätten sich alle darauf geeinigt, dass man eine Herangehensweise nach dem Motto „Die Pandemie ist doch gar nicht so schlimm" nicht verantworten könne. Söder warnte vor einer erneuten Diskussion um Triage, die keiner führen wolle. Und auch Müller erinnerte daran, dass zu Beginn der Pandemie Massengräber in New York ausgehoben wurden.

Die verzweifelten Versuche der Bundeskanzlerin, ihren Weg zu rechtfertigen, gipfelten dann in einem bemerkenswerten Argument. Es ist das Gegenteil dessen, was die Regierung stets bemüht war, auszustrahlen. Die deutsche Wirtschaft sei stark, die Politik der schwarzen Null eröffne schier unerschöpfliche finanzielle Spielräume. Die Kanzlerin aber sagte nun Folgendes: „Sie wissen alle, wir haben einen Haushalt verabschiedet auf der Bundesebene, der über 250 Milliarden Neuverschuldung allein in diesem Jahr hat. Und deshalb können wir uns auch ökonomisch eine zweite Welle, wie wir sie im Frühjahr hatten, mit solchen Folgen nicht leisten.“

 

Opfer der eigenen Politik

Merkel argumentiert, wenn wir nicht weiterhin bereit sind, persönliche und damit auch in hohem Maße wirtschaftliche Einschränkungen hinzunehmen, kommt unweigerlich eine zweite Welle. Und die würde schließlich derart hohe wirtschaftliche Kosten verursachen, dass die Folgen noch weitaus schlimmer als alles wären, was bislang geschehen ist. Das könne dann nicht noch einmal aufgefangen werden. Es ist dieses Unheil, das die Kanzlerin offenbar fürchtet. Sie will noch einmal das kleinere Übel wählen und wirtschaftliche Einschränkungen und damit viel Unmut vorsorglich hinnehmen. Sie geht damit ein politisches Risiko ein. Denn sollte sie damit erfolgreich sein, könnte ihr vorgeworfen werden, überreagiert zu haben.

So absurd es zunächst scheinen mag: Die Regierung scheint inzwischen Opfer ihrer eigenen erfolgreichen Politik zu werden. Durch all die stützenden Maßnahmen, wie etwa das Kurzarbeitergeld, konnte sie den Eindruck aufrechterhalten, alles sei wie immer. Das wiederum führt zu der Schwierigkeit, glaubhaft zu machen, alles sei eben eigentlich doch ganz schlimm. Während etwa in New York City eine Arbeitslosigkeit von inzwischen 16 Prozent tatsächlich sichtbar wird und immer mehr Menschen die Stadt verlassen, sitzt Deutschland im oft staatlich finanzierten Homeoffice. Bislang mit Erfolg. Je länger dieser Zustand aber andauert, desto schwieriger wird es.

Eine Insel ohne Lockdown

Noch ist Deutschland eine Insel. Pandemisch gesehen ist die Bundesrepublik mitten in Europa inzwischen von Staaten umgeben, deren Corona-Geschehen längst ganz andere Ebenen erreicht hat. Frankreich, die Niederlande, Belgien und ganz besonders Tschechien – hier liegt die Zahl der Corona-Toten mit 60 pro Tag so hoch wie noch nie. Was die Maßnahmen zur Eindämmung angeht, ist Deutschland ebenfalls ein Hort der Freiheiten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat gestern Abend für die gesamte Île de France und acht weitere Metropolen ab Samstag eine Ausgangssperre verhängt. Auch die Niederlande befinden sich ab sofort wieder in einem Teil-Lockdown.

In Deutschland sollen nun bundesweit, wenn in Gebieten die Grenzwerte überschritten werden, stufenweise Einschränkungen kommen. Dann nämlich, wenn sich 35 Menschen pro hunderttausend Einwohner innerhalb von sieben Tagen anstecken. Zu den Einschränkungen gehören dann eine Maskenpflicht auch im öffentlichen Raum, wenn dort Abstände nicht eingehalten werden können, sowie Sperrstunden in Restaurants und Bars. Private Feiern können dann draußen noch mit 25 Personen, im Privaten noch mit 15 Personen stattfinden.

Verhältnismäßigkeit und Nachvollziehbarkeit

Das aufgrund der komplizierten Umsetzbarkeit und Unterschiedlichkeit sehr umstrittene Beherbergungsverbot in einzelnen Bundesländern wurde hingegen nicht einheitlich geregelt. In gewisser Weise ist das tatsächlich konsequent. Es mitten in den laufenden Herbstferien wieder abzuräumen, hätte wohl zu kompletter Verwirrung und zu ungehaltenem Unverständnis geführt. Immerhin könnte es aber am 8. November, wenn die nächste Runde stattfindet, wieder zum Thema werden.

Solange die Zahlen der intensiv betreuten Patienten und die Zahlen der Toten in Deutschland so niedrig bleiben, werden die Diskussionen um die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen aber nicht abnehmen. Das ist für die Regierenden eine Krux, die sich kaum lösen lässt. Woran sie hingegen arbeiten muss, ist die Nachvollziehbarkeit. Genau daran hängt nämlich die Bereitschaft der Menschen, auch weiterhin mitzumachen. Denn kontrollieren lässt sich all das nicht.

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