Merkel und die Medien - „Ich vermisse sie jetzt schon“

Eigentlich verkörperte nicht Gerhard Schröder, sondern Angela Merkel die vollkommene Medialisierung der Politik. Sie hat es verstanden, die Medien geschickt für sich einzuspannen – und die Journalisten waren handzahm genug, um dabei mitzumachen.

Angela Merkel in der Bundespressekonferenz / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Gerhard Schröder galt als Medienkanzler, war es aber nicht. Bei Angela Merkel ist es umgekehrt. Sie hat es bereits innerhalb ihrer ersten Amtszeit zur Kunstform entwickelt, Journalisten und jene, die sich dafür halten, mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, und so eine ohnehin für sie günstige Ausgangslage spätestens ab 2008 perfekt zur Sicherung ihrer Macht genutzt. Dabei halfen ihr die Fähigkeit zur kritischen Selbstdistanz und ein Küchenkabinett, das jeden Morgen Klartext mit ihr redete, ohne dass in 16 Jahren jemals ein Sterbenswörtchen diesen Kreis gegen ihren Willen verlassen hätte. 

Stolperfallen und Schwachpunkte des bevorstehenden Arbeitstages wurden in der Morgenlage identifiziert und in kurzer, präziser Diskussion bestmöglich entschärft. Drohte die Gefahr, dass die Chefin auf einem Termin suboptimal aussehen könnte, weil sie weder mit dem Thema noch mit den Teilnehmern oder mit dem Terrain warm werden würde, lautete die Aufgabe, wenigstens so viele Faktoren und Details in ihrem Interesse zu justieren wie möglich. 

Wenige Sätze, die aber souverän. Wenige Gesten, die aber eindeutig. Wenig Zeit und wenig Nähe, wenn der Gastgeber Donald Trump heißt und gegenseitige Abneigung quasi zum Protokoll gehört, zur allgemeinen Erwartungshaltung. Schwer vorstellbar, dass Merkels Vertraute Eva Christiansen eine Pleite zugelassen hätte wie jene der Ursula von der Leyen, die beim türkischen Staatspräsidenten herumstand wie bestellt und nicht abgeholt. Erdogan hätte das bei Merkel gar nicht erst versucht, wissend, dass es ihm schlecht bekommen wäre. 

Der mediale Quantensprung

Konsequent also, dass Angel Merkel auf heimischem Terrain bereits in der ersten Woche ihrer Amtszeit begann, die eigenen Möglichkeiten der Einflussnahme auf Bilder, Töne und Texte, kurzum: auf ihr Image, bis hart an die Grenze zur Verfassungswidrigkeit und zuletzt auch gerne darüber hinaus auszubauen. Das ihr unterstehende Presse- und Informationsamt der Bundesregierung hat mit der genügsamen Behörde von 2005 nicht mehr viel zu tun.

Als Schröders Sprecher Béla Anda 2004 gefragt wurde, ob es nicht an der Zeit sei, auf den beispiellosen, digitalgetriebenen Strukturwandel der Öffentlichkeit mit zeitgemäßen Mitteln zu reagieren, mit eigenen, selbstproduzierten, regierungsamtlichen Videos, Podcasts, Fotos und Footage-Material an den Medien vorbei direkt an die Zielgruppe, ob es nicht sinnvoll sei, den Bundeskanzler nach dem Beispiel des US-Präsidenten auf jedem seiner Schritte durch ein Videoteam und einen Fotografen des Bundespresseamtes begleiten und seine Arbeit quasi 24/7 dokumentieren zu lassen, um ausgewähltes Material dann online zu stellen unter Umgehung und Ausschaltung der klassischen Gatekeeper, hob dieser erschrocken die Hände: Oh Gott, so Anda sinngemäß, als gelernter Bild-Mann sonst kein Kind von Traurigkeit, einen Krieg mit den großen Sendern, dass wir jetzt Regierungs-TV machen – den ersparen wir uns lieber. Nice to have, aber nicht durchsetzbar.

Es ist nicht überliefert, ob Merkel dieser Vorgang später geschildert wurde. Tatsache ist: Sie reagierte sofort auf die neuen kommunikativen Gegebenheiten und völlig anders. Ihre wöchentliche Videoansprache etablierte sich anfangs nach sehr begrenzter Ausschreibung des Jahresauftrags zu sechsstelligen Kosten innerhalb von Monaten als vermeintlich selbstverständlichste Sache der Welt. ARD und ZDF, anfangs noch unschlüssig, hatten schon bald nicht einmal mehr Hemmungen, Kanzlerinnenfilme samstagabends in ihren Hauptnachrichten zu bringen, wenn ihnen das Thema relevant schien und unabhängige Quellen nicht vorhanden waren. Denn Merkel hatte es freitags aufgezeichnet und war am Wochenende weder greifbar noch willens, zur Verfügung zu stehen. 

Take it or leave it. Das gleiche gilt für Foto- und Filmmaterial von Ereignissen, zu denen leider, leider laut Terminhinweis lediglich der offizielle Fotograf zugelassen werden konnte – Platzmangel, Sicherheit, zuletzt auch Corona und so. Die Geister-PR-Armee, die die Bundesregierung in den vergangenen fünf Jahren allein für Social Media aufgestellt hat, bedarf  dringend einer eigenen kritischen Untersuchung. Hier findet rund um die Uhr eine raffinierte, wohldosierte Regierungspropaganda statt, von der plumpe Autokraten weltweit noch etwas lernen können.  

Willst Du was gelten, mache Dich selten

Aber Merkel wäre nicht Merkel, hätten wir es nicht auch hier mit erheblichen Ambivalenzen zu tun. Sie hat sich rar gemacht in ihren 16 Jahren, aber sie wurde auch nicht gefordert. Aus ihrer Sicht war es absolut rational, sich so zu verhalten und nicht anders, bekam jeder Auftritt und jedes Wort dadurch doch ein ganz anderes Gewicht. 

Sogar aus ihren rhetorischen Beschränkungen schöpfte sie einen Vorteil, denn gerade unbeholfene Sätze boten mangels Gedankenschärfe und Logik ausreichend Projektionsmaterial. Journalisten und vor allem Journalistinnen konnten das hineininterpretieren und heraushören, was sie selbst gerne hören und verstehen und exakt so dann auch schreiben und senden wollten. 

Die mit der Jahrtausendwende einsetzende und mit jedem Jahr machtvollere Feminisierung der Redaktionen brachte Angela Merkel einen weiteren Vorteil, von dem ihre Vorgänger nur träumen konnten. Ohne dieses unsichtbare Band der Sympathie zwischen Journalistinnen und Kanzlerin sind ihre 16 weitgehend unangefochtenen Jahre ebenfalls nicht zu verstehen. 

Während Gerhard Schröder sich nach sieben Jahren medial abgenutzt hatte, eben auch, weil er die Zeitenwende nicht begriff, sondern bei Bild, BamS und Glotze stehenblieb, machte sich seine Nachfolgerin von den klassischen Medien so unabhängig wie möglich. Und wurde von diesen dafür sogar noch gefeiert. 

Medienforscher Norbert Bolz hat recht, wenn er konstatiert, die Journalisten hätten über die 16 Jahre hinweg Merkel fast nie frontal angegriffen, fast nie grundsätzlich mit ihrer Politik in Frage gestellt: Merkel hat nach wenigen Jahren ihrer Kanzlerschaft schon mehr oder weniger die politische Agenda übernommen, die von den meisten Journalisten auch unterstützt und propagiert wird. 

Ausdruck von merkwürdiger Gesinnung

Ausstieg aus dem Atomausstieg innerhalb von 48 Stunden, Aussetzung der Wehrpflicht, Aussetzung von Artikel 16 Grundgesetz, der Asylgewährung von Bedingungen abhängig macht, die seit September 2015 de facto nicht mehr gelten: Keine dieser überstürzten, kaum begründeten, parlamentarisch unzureichend legitimierten und von der Kanzlerin bestenfalls notdürftig und widerwillig im Nachhinein erklärten Kehrwenden konnten die Presse in ihrer Sympathie für diese Frau nennenswert erschüttern. Im Gegenteil. 

Selbst das Unbehagen an einer immer wieder erratischen und folgenreichen Anti-Corona-Strategie vermochte nie zur Kanzlerin selbst durchzudringen. Sobald es wieder einmal vollends drunter und drüber ging, vor, während und nach einer Ministerpräsidenten-Konferenz, war nicht etwa Merkel schuld, sondern der Föderalismus. Ihre jährlichen und somit ausgesprochen seltenen Auftritte vor der Bundespressekonferenz absolvierte sie mit bester Laune. Sie freute sich sogar auf diese Heimspiele, denn wirklich kritische Fragen an die Bundeskanzlerin gelten im Verein der Parlamentsjournalisten, die sich eine Menge auf ihre Unabhängigkeit einbilden, spätestens seit der Flüchtlingskrise von 2015 als Merkmal einer eher fragwürdigen Gesinnung.          

Beruflich unterfordert

Ist Angela Merkel also im Herzen eine Frau der DDR geblieben, sozialisiert mit dem Neuen Deutschland und dem Freiheitsverständnis des Politbüros? Nein. Man hat es ihr viel zu leicht gemacht und sie hat das ausgenutzt. Es gibt Szenen, da sah man sie von harmlosen, gar liebedienerischen Presseleuten regelrecht unterfordert. 

Gängige Übung nach Arbeits- oder Staatsbesuchen im Kanzleramt: Die Begegnung mit der Presse. Leicht zu handhaben, alles unter Kontrolle, denn anders als vor der Bundespressekonferenz, wo die Journalisten den Vorsitz führen, das Hausrecht ausüben und die Fragerunde erst beenden, wenn die letzte Frage gestellt und beantwortet ist, führt im Kanzleramt die Regierungschefin selbst Regie: sechs Fragen, sechs Antworten, drei von den ausländischen Korrespondenten je nach Staatsgast, drei von den deutschen, aufgerufen von Merkel oder eben auch nicht. 

Wie um zu beweisen, dass es bei ihr in Berlin anders läuft als bei Putin in Moskau, erteilt sie aus zehn Interessenten nicht irgendeinem das Wort, sondern so eine unvergessene Szene dem Journalisten und Provokateur alter Schule Dieter Wonka, wohl wissend, dass der ihr in seiner Frage eine Nuss zu knacken geben wird, wie er es auch sonst zu tun pflegte. Hätte sie nicht machen müssen, sie hätte ihn einfach übersehen oder auch nach dem Beispiel Helmut Kohls den Wonka gezielt ausgrenzen können. Aber sie war neugierig und sah in seiner Wortmeldung die Chance, einen Aspekt ihres Gesprächs mit Putin zu erwähnen, den sie sonst nicht hätte unterbringen können. So einfach kommt man dieser Frau auch im Hinblick auf ihr Verhältnis zu den Medien also nicht bei.

Das Versagen der Medien

Aus alldem folgt: Angela Merkels Bilanz könnte heute zehnmal besser aussehen, mindestens aber weniger schlecht, hätte sie es mit kritischeren Medien, mit distanzierteren Journalisten zu tun bekommen nach 2005. Als Korrektiv haben sie geradezu historisch versagt. Den Medien werden damit die Folgen der Ära Merkel genauso auf die Füße fallen wie der politischen Klasse des Landes. Die Bevölkerung wird sie in Mithaftung nehmen. 

Merkel selbst hat sich im Umgang mit ihnen nicht klug verhalten, aber aus ihrer Sicht absolut rational: minimaler Aufwand bei maximalem Ertrag, nämlich 16 Jahren Kanzlerschaft, zusätzlich versüßt durch die Aussicht auf eine große Merkel-Nostalgie. 

Der Satz Ich vermisse sie jetzt schon geistert ja seit Wochen schon von Redakteur zu Redakteur, von Blatt zu Blatt, von Sender zu Sender. Wer das in Frage stellt, müsste sich in vielen Fällen selbst in Frage stellen. Das ist gerade in dieser Branche nicht zu erwarten.

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