Angela Merkel - Deutschland, das bin ich

Angela Merkel hat das Parlament entmachtet, die repräsentative Demokratie geschwächt und den politischen Wettbewerb gelähmt. Dem Wähler bleibt die Ohnmacht. Und Merkel

Erschienen in Ausgabe
Illustration: Otto
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Autoreninfo

Ursula Weidenfeld arbeitet als freie Wirtschafts­journalistin in Berlin. Die Wirtschafts­historikerin hat vorher in leitenden Funktionen beim Berliner Tagesspiegel, bei dem Wirtschaftsmagazin Impulse, bei der Financial Times Deutschland und bei der Wirtschaftswoche gearbeitet. In ihrem Buch „Regierung ohne Volk“ schreibt sie über die Verfallserscheinungen der deutschen Demokratie, das schwache Parlament und die Rolle der Bundeskanzlerin. Das Buch erscheint im April bei Rowohlt Berlin

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Der 20. September 2011 war ein warmer Frühherbsttag. Das politische Berlin kam gerade aus den Ferien zurück. Die Kanzlerin hatte für den Abend zu einem ihrer „Berliner Gespräche“ ins Konrad-Adenauer-Haus geladen. Diesmal war Jeremy Rifkin, der amerikanische Superstar für gesellschaftliche Visionen, zu Gast. 

Rifkin begeisterte sich für Deutschland. Er lobte die deutsche Politik. Er verneigte sich vor deren Weitsichtigkeit beim Klimaschutz. Rifkin schilderte Deutschland in Farben, in denen es selbst sich nicht einmal in seinen besten Stunden sieht. Er sprach so temperamentvoll, dass sich manche Gäste zwischenzeitlich in eine der Motivationsshows versetzt fühlten, wie sie für Außendienstler veranstaltet werden. 

Zwei Seiten Deutschlands

Es sind die Farben des Erfolgs: das Land mit der geringsten Arbeitslosigkeit in Europa. Die Nation mit den prall gefüllten Staatskassen. Der Pionier des Klimaschutzes. Die Garantiemacht Europas. Und so weiter.

Ein anderes Bild zeichnete am gleichen Abend der damalige Umweltminister Norbert Röttgen. Er referierte zum Atomausstieg nach Fukushima. Wie die Bundesregierung handelte. Eine Expertengruppe einsetzte. Eine Ethikkommission berief. Den Ausstieg beschloss. Den Beschluss durch das Parlament brachte. In der Krise, so ließ Röttgen wissen, müsse die Regierung handeln. Die Krise sei nun einmal „die Stunde der Exekutive“. 

An diesem Abend, in der Mitte der bisherigen Regierungszeit Angela Merkels, wurden die beiden Seiten Deutschlands sichtbar, die das Land in den vergangenen zwölf Jahren bestimmt haben. Auf der messbaren Ebene haben sie viel Gutes hervorgebracht: verblüffend gute Wirtschaftszahlen und Sozialdaten, zufriedene Bürger, erstaunlich wettbewerbsfähige Unternehmen, grandiose Exportstatistik, sozialen Frieden. Auf der anderen Seite aber herrschte ständig Alarm. Finanzkrise, Atomausstieg, Schuldenkrise, Energiewende. Handeln. Handeln. Handeln.

Permanenter Krisenmodus

Aus der Stunde der Exekutive wurde eine Ära, aus der Ära wuchs die Krise der repräsentativen Demokratie. Das Parlament wurde nicht einmal, es wurde fortwährend entmachtet. Die Regierung bemühte immer neue Ausnahmesituationen, um handeln zu können. Der Bundestag gab jedes Mal klein bei und entwertete sich damit selbst. Jetzt ist es so: Die Regierung regelt die großen Probleme des Landes, sie vertritt Deutschland in Europa, sie bespielt die internationale Bühne. Das Parlament bleibt in Berlin und ist zur Stelle, wenn Ja gesagt werden muss. Die Verbindung zum Souverän – zum Wahlvolk – wird immer schwächer. 

Zu Beginn des Jahres 2017 geht es Deutschland so gut wie nie. Gleichzeitig ist es zerrissen wie nie. Ausgerechnet die bescheidene und uneitle Kanzlerin hat in den vergangenen zwölf Jahren eine verschämte Präsidialdemokratie etabliert. Parlament und Volk wurden zugunsten der Regierung entmachtet. Zwei Große Koalitionen raubten der Opposition im Bundestag jede Wirksamkeit. Die asymmetrische Demobilisierung entriss dem politischen Gegner seine Themen und entmutigte das Wahlvolk, lähmte den politischen Wettstreit um die besten Lösungen und entwertete die Wahlen. Angela Merkel hat als Bundeskanzlerin die Erkenntnis Jean Monnets, dass Europa nur in seinen Krisen vorankommt, zu einem allgemeinen Politikprinzip gemacht: Deutschland kommt nur in seinen Krisen voran. In normalen Zeiten dagegen entwickelt es sich kaum.
Die normalen Zeiten. Das sind die, in denen die Komplexität des politischen Systems so hoch ist, dass alle Veränderungen des Status quo nicht nur aus Bequemlichkeit und Veränderungsverweigerung gefürchtet werden. Die Gefahr unbeabsichtigter Folgen von Entscheidungen ist zu groß geworden, als dass Großes mutig angepackt würde. 

Bedingungsloses Grundeinkommen: Angst vor echter Politik

Ein Beispiel dafür ist das bedingungslose Grundeinkommen. In allen Parteien gibt es Fans der Idee, jedem Bürger ein Grundeinkommen zur Verfügung zu stellen, unabhängig davon, was er verdient, wie alt er ist oder welche beruflichen Perspektiven er hat. Besonders populär wurde der Gedanke als Gegengift zur Digitalisierung: Wenn in den kommenden Jahren immer mehr Arbeitsplätze verschwinden, könnte die Situation der Leidtragenden des Wandels so kompensiert werden. Es gibt allerdings auch sehr gewichtige Gründe gegen ein solches Projekt. Niemand weiß, was Menschen tun, wenn ihnen der materielle Druck zur Arbeit genommen wird. Niemand weiß, ob sie überhaupt noch etwas tun. Dazu kommt: Ein bedingungsloses Grundeinkommen für die ganze Bevölkerung ist ziemlich teuer.

An diesem Punkt stoppt die Debatte in Deutschland. Niemand versucht, die Sache zu echter Politik zu machen. Die Furcht vor unbeabsichtigten Folgen – was heißt das für die Rente, die Krankenversicherung, den Haushalt, die Arbeitsmoral, die Arbeitslosenversicherung, die Riester-Police, EU-Ausländer – hält selbst Politiker der Linkspartei davon ab, die Idee weiterzudenken. 

Im Gegensatz zu Finnland oder zu den Niederlanden. Auch dort weiß man nicht genau, was vom bedingungslosen Grundeinkommen zu halten ist. Doch immerhin findet man die Idee interessant genug, um sie einmal auszuprobieren. Finnland wagt ein Experiment mit 2000 Teilnehmern, in Holland macht die Stadt Utrecht einen Versuch. In Deutschland ist daran nicht zu denken. 

Lieber arbeitet man an kleinen Veränderungen. Das Parlament und seine Ausschüsse wuseln sich durch die Paragrafen der Pflegereform oder des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Sie nehmen den Kampf mit der Kirschessigfliege auf, die in den deutschen Weinbergen wütet. Sie schultern die Atomaltlasten der Stromkonzerne und beschließen den Staatshaushalt. Für mehr fehlen die Expertise, die Energie und der politische Wille. 

Die Regierung überrumpelt ihr Wahlvolk

Externe Schocks dagegen liefern der Regierung die Legitimation für die große politische Aktion jenseits dieser Gesetzmäßigkeiten. Alle deutschen Regierungschefs hatten solche Momente: Konrad Adenauers Westpolitik, Willy Brandts Ostpolitik, Helmut Kohls Europapolitik oder Gerhard Schröders Agenda 2010 waren einsame Entscheidungen. Doch sie basierten auf politischen Grundüberzeugungen, sie waren Konstanten im Denken und im politischen Programm der Regierungschefs. Unter Angela Merkel scheinen die Krisen selbst Lösungen hervorzubringen. Es werden politische Wege beschritten, die vorher gedanklich kaum angelegt, gelegentlich sogar offen bekämpft wurden. Nicht mehr der Krieg ist der Vater aller Dinge, die Krise ist die Mutter des politischen Fortschritts.

Hier findet die Politik der Bundesregierung ihre verhängnisvolle Parallele zu den Strategien der neuen Populisten Europas. Wie die Volkstribunen immer neue Krisen als politisches Lebenselixier brauchen, braucht die Kanzlerin die Ausnahmesituation, um (durch)regieren zu können.

Dafür hat sie in Kauf genommen, dass sich das Land trotz blendender wirtschaftlicher Entwicklung in einem Zustand permanenter Bedrohung und krisenhafter Entwicklungen wähnt. Damit hat die Regierung nicht nur die eigene Handlungsfähigkeit hergestellt. Sie hat auch den Boden für die deutschen Populisten geschaffen. Nur ein Land, das sich ständig am Rand des Zusammenbruchs wähnt, öffnet sich extremen politischen Strömungen.

Große Koalition als Normalfall

Bundestagswahlen gelten immer noch als das Hochamt der Demokratie. Der Bürger schreitet zur Urne, gibt seine Stimme ab – und hat in einem einzigen Wahlakt innerhalb von vier Jahren seine Arbeit als Souverän getan. Die demokratische Fata Morgana, mit einem einzigen Stimmzettel Großes bewirken zu können, hat jahrzehntelang funktioniert. Dem Wähler genügte es, gelegentlich eine neue Regierung ins Amt zu bringen. Er genoss, es „denen da oben“ mal richtig gezeigt zu haben. 

Doch das funktioniert jetzt nicht mehr. In den vergangenen drei Wahlperioden ist die Große Koalition zum Normalfall geworden. Im Rückblick erscheinen die vier Jahre zwischen 2009 und 2013, in denen die CDU mit ihrem Wunschpartner FDP regierte, als unglückliche Ausnahme. Nichts funktionierte mit den Liberalen, alles war vertrackt: Von der Mövenpick-Entscheidung bis zur „spätrömischen Dekadenz“, von der „Wildsau“ bis zur „Gurkentruppe“ – die Regierungsparteien fanden keinen Rhythmus, keine Basis, die dauerhaft belastbar gewesen wäre.

Die beiden Großen Koalitionen von 2005 bis 2009 und von 2013 bis heute dagegen leuchten vor den vier Desasterjahren mit den Liberalen umso heller. Das Motto: stabile Mehrheiten, weitermachen, egal, was der Souverän will. Der Mainzer Historiker Andreas Rödder zitiert dafür einen Aphorismus des britischen Fußballers und Sportreporters Gary Lineker: „Fußball ist ein einfaches Spiel. 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen.“ Übertragen auf die politische Lage bedeutet das: Der Wähler kann wählen, wen er will, am Ende bleibt Angela Merkel Kanzlerin. 

Die Legitimation der Parlamente litt

Warum aber noch wählen, wenn die Stimme nicht mehr wirkt? Die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen sank bei den vergangenen beiden Merkel-Wahlen auf einen Tiefststand von gut 70 Prozent. Den etablierten Parteien machte das gar nichts aus, im Gegenteil: Den Stühlen im Bundestag ist es egal, wie viele Stimmen für sie abgegeben werden.

Doch die Legitimation der Parlamente litt. Das konnte man an einem Phänomen erkennen, das gleichzeitig mit der niedrigen Wahlbeteiligung auftrat. Es war nämlich gar nicht so, dass die Bürger friedlich und bequem zu Hause sitzen wollten und nur deshalb nicht zur Wahl gingen, weil sie mit allem einverstanden waren. Der Souverän übte zivilen Ungehorsam. In Stuttgart kletterte er auf Bäume, um den Neubau des Bahnhofs Stuttgart 21 zu verhindern. In Berlin zettelte er eine Volksabstimmung gegen die Bebauung des ehemaligen Flughafens Tempelhof an, in Hamburg machte er per Volksentscheid der Schulpolitik einen Strich durch die Rechnung. Auf dem Land protestierten Bürger gegen Windkraftanlagen und Straßenbau, in der Stadt gegen Fluglärm und Straßenbau. Durch ihre gewählten Repräsentanten fühlten sich die Aktivisten dieser Initiativen allesamt nicht vertreten. 

Die Parteien nahmen auch das auf die leichte Schulter. Der Bürger sei eben gegen alles, und wolle direkt mitreden. Das Bedürfnis bediene man gern. Gegen ein paar Volksabstimmungen sei überhaupt nichts einzuwenden. Auch Urwahlen von Kandidaten könne man hier und dort ansetzen. Außerdem werde man den Bürger in Townhall-Meetings „abholen“. Die Parteileute führten sich auf, als seien sie die Herren des Verfahrens. Anstatt zu begreifen, dass ihre eigene Legitimation bestritten wurde, glaubten sie, das richtige Maß an Bürgerbeteiligung zuteilen zu können. Das Motto: Nicht das Volk legitimiert sie, sondern die Parteien legitimieren das Volk.

Neue Herrschaftsattitüde

Ernst wurde es erst, als die Alternative für Deutschland in ein Landesparlament nach dem anderen einzog und gleichzeitig die Wahlbeteiligung wieder stieg. Die Bürger ließen sich offensichtlich doch noch für das übliche politische Verfahren mobilisieren. Sie waren vorher zu Hause geblieben, weil ihre Wahlzettel nicht wirkten, weil „die da oben“ ja doch taten, was sie wollten. Die Flüchtlingskrise offenbarte die gesamte Legitimationskrise der parlamentarischen Demokratie, ohne dass sie ihre Ursache gewesen wäre. 

„Die Stimme, die die Bürger über die Wahlen haben ertönen lassen, verhallt ungehört“, bemerkt der französische Politikwissenschaftler Pierre Rosanvallon. Er beschreibt damit einen Trend in den hoch entwickelten Demokratien. Doch nur in Deutschland hat eine Regierungschefin seit drei Legislaturperioden die politische Führung, nur hier ist die neue Herrschafts­attitüde der Exekutive zum Standard geronnen. Nur hier ist mit der Flüchtlingskrise der ungeschriebene Vertrag zwischen einer Regierungschefin und ihrem Volk gekündigt worden. „Sie kennen mich“, hat Merkel ihren Wählern im Bundestagswahlkampf 2013 zugerufen. Sie hat sie getäuscht.

Alles könnte anders sein

In anderen Ländern kann der Wähler Politikwechsel immerhin noch dadurch erzwingen, dass er das Regierungspersonal abwählt. In Deutschland geht es umgekehrt. Hier überrumpelt immer dieselbe Regierung ihr Wahlvolk. Die gewohnten Gesichter der Macht versprechen Kontinuität und Erfahrung, mahnen zu Ruhe und Zuversicht. Doch Eurorettung und Ende der Wehrpflicht, Energiewende und Atomausstieg, Frauenquote und Elterngeld haben das Land verändert, ohne dass es wenigstens für einzelne dieser Themen jemals einen Wahlkampf gebraucht hätte. 

„Alles könnte anders sein – und fast nichts kann ich ändern“: Mit diesem Satz hat Niklas Luhmann das Wissen des modernen Menschen um seine Beschränktheit umschrieben, den Lauf der Welt ändern zu können. Der Wähler ist normalerweise ein geduldiges und langmütiges Wesen. Er akzeptiert, dass ihm vor der Wahl etwas versprochen wird, was hinterher nicht gehalten werden kann. Wenn seine Partei die Wahl verliert, muss er sich vier Jahre lang einer Politik beugen, die er eigentlich ablehnt. Er muss die Entscheidungen der Politiker akzeptieren, auch wenn er mit ihren Beschlüssen nicht einverstanden ist. Das ist selbst dann oft der Fall, wenn der Bürger die spätere Regierungspartei gewählt hat. Wer würde schon zustimmen, wenn die eigene Steuerlast zugunsten Alleinerziehender angehoben wird? Wer würde seinem eigenen Auto die Einfahrt in das Zentrum einer Großstadt verbieten? Wer würde ein Mietshaus aus freiem Entschluss mit zentimeterdicken Dämmplatten ummanteln? Die Demokratie lebt von der Frustrationstoleranz und der Rechtstreue ihrer Bürger. Sie lebt davon, dass der Bürger das Parlament für vier Jahre legitimiert hat und dessen Entscheidungen akzeptiert. Natürlich werden die Steuern bezahlt, die Umweltplaketten gekauft und die Häuser eingepackt. 

Krisenmanagement als politisches Muster

Mit der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 aber wurden alle Selbsttäuschungen, von denen die Demokratie lebt, gnadenlos und grell entlarvt. Jetzt wurde allen bewusst, wie sehr sich das politische System in den vergangenen zehn Jahren geändert hatte. Die Legitimationskette vom Bürger zum Parlament und vom Parlament zur Regierung ist in dieser Zeit brüchig geworden. Nun erschienen Energiewende, Atom- und Eurokrise auf einmal nicht mehr als singuläre Krisen, die schnell, pragmatisch und erfolgreich bewältigt werden mussten, sondern als politisches Muster. Die Kanzlerin hat im Spätsommer 2015 entschieden, syrische Kriegsflüchtlinge ins Land zu lassen, weil sie es konnte.
Demokratien müssen sich entwickeln und verändern können. Sonst erstarren sie in Ritualen. Die Politik im 21. Jahrhundert muss schnell und reaktionsstark sein, sie braucht starke Personen und Symbole, sie braucht offensichtlich auch die Legitimation der Krise. Wenn es gut geht, preist sich der Wähler für die Weitsicht, die richtige Frau ins Amt gebracht zu haben. Geht es schief, muss Merkel weg. 

Das Herz der Demokratie aber, das Parlament, leidet in dieser Ausrichtung auf die Bundesregierung. „Wer hier nicht für Angela Merkel ist, ist ein Arschloch und kann gehen“, rief CDU-Generalsekretär Peter Tauber im November 2015 den parteiinternen Kritikern der Kanzlerin zu – und machte so auch dem letzten Romantiker klar, wo heute die Motoren der Politik arbeiten: in der Regierung und in den Parteien. Der Bundestag ist zur Arena geworden, in der beide sich begegnen, ihre gegenseitigen Abhängigkeiten und Loyalitäten verhandeln. Beide wissen, dass das Gewissen der Abgeordneten, das doch der alleinige Maßstab ihrer politischen Arbeit sein soll, ein dehnbarer Muskel ist. Im Jahr 2015 haben zwei Drittel der Mitglieder der Regierungsfraktionen nicht ein einziges Mal gegen die Fraktionsdisziplin verstoßen. Ein freies Parlament sieht anders aus. 

Langweilige Vorlesungen statt Debatten im Parlament

Der 2016 verstorbene Autor Roger Willemsen hat das Jahr 2013 auf der Besuchertribüne des Bundestags zugebracht. Er schrieb ein Buch über dieses Jahr. Er kritisierte, dass im Parlament zwar geredet, aber nicht debattiert wird. Einen echten Austausch gebe es nicht. Immer wieder beschreibt er die Reaktion der Besu­chergruppen auf die quälend langweiligen Verlesungen vorbereiteter Texte. Gedacht sind die großen Besucher­areale im Reichstag als architektonische Manifestation der Bedeutung des Volkes. Die Besucher sollen einen freien Blick auf den Plenarsaal haben, um die Offenheit und Transparenz der deutschen Demokratie bezeugen zu können. Sie sollen sich als Teil dieser Demokratie begreifen.
Doch Willemsen beobachtete die Besucher beim Schlafen, beim Reinigen der Fingernägel oder beim gewissenhaften Studium des Kantinenplans. Allen sei die Bestürzung über den meist mäßig besetzten Raum der Parlamentarier anzusehen gewesen. Alle hätten entsetzt dem leidenschaftslosen Austausch formelhafter Bekenntnisse zugeschaut. Willemsens Fazit: Die Leere des Plenarsaals entspricht in den meisten Fällen der geistigen Leere der Debatten, die dort geführt werden.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus? Wie wenig das heute noch stimmt, zeigt allein die Struktur des Deutschen Bundestags. Mehr als die Hälfte der Bundestagsabgeordneten wurden in ihren Wahlkreisen nicht gewählt. Dennoch winken sie dem Wahlvolk von ihren königsblauen Stühlen im Reichstag freundlich zu. Sie profitieren von den Listen ihrer Parteien, die auch dann entsprechend ihrer Zweitstimmenzahl im Parlament vertreten sind, wenn sie keinen einzigen Wahlkreis für sich gewinnen können. 299 Abgeordnete sitzen im Bundestag, weil sie tatsächlich direkt gewählt wurden. 332 Mandatsträger sitzen da, obwohl sie nicht gewählt wurden.

Kämpfen, dass es so bleibt wie es ist

Das sind 332 Abgeordnete, die ihrer Partei alles verdanken: den Listenplatz, das Mandat, den Sitz im Ausschuss, 9327,21 Euro an monatlichen Abgeordnetendiäten, kostenlose Bahnfahrten. Gerade in den ersten Wochen des Jahres 2017 kann man gut beobachten, wem sich diese Bundestagsabgeordneten verpflichtet fühlen. Ihr ganzes Streben ist den Landeslisten ihrer Parteien gewidmet, die nun für die kommende Bundestagswahl aufgestellt werden. Leidenschaftlich werben sie in den Hinterzimmern und auf den Listenparteitagen für sich und ihre Arbeit. Ganz fest versprechen sie den Delegierten Unterstützung für deren politische Ambitionen im Bundesland oder in den Kommunen. Sie orientieren sich allein an den Prioritäten der eigenen Partei. Der Bürger im Wahlkreis soll noch ein wenig warten, bis er wieder dran ist.

An jenem warmen Septemberabend des Jahres 2011 gingen die Anhänger Angela Merkels beglückt und zukunftsfähig wie selten zuvor auseinander. Jeremy Rifkin hatte ihnen überzeugend dargelegt, warum Deutschland als führendes Land in Europa die besten Voraussetzungen habe, die Geschicke der Welt positiv zu beeinflussen und zu gestalten. Sechs Jahre später sind die Ambitionen bescheiden geworden. Heute kämpfen die meisten dafür, dass alles so bleibt, wie es ist. 

 

Dieser Text stammt aus der Februarausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.  

 

 

 

 

 

 

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