Kanzlerin in der Corona-Krise - Merkels undurchdachte Aussagen verschlimmern die Situation

Mit ihren teils sich selbst widersprechenden Aussagen verfehlt Kanzlerin Merkel ihr Ziel, die Bürger zu verantwortungsvoller Mitarbeit zu motivieren. Stattdessen verursacht sie in der Bevölkerung fatalistische Resignation und Egoismus.

Angela Merkel widerspricht sich in ihren Aussagen zur Corona-Pandemie selbst / dpa
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Rudolf Adam war von 2001 bis 2004 Vizepräsident des Bundesnachrichtendienstes. Von 2004 bis 2008 leitete er als Präsident die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er ist Senior Advisor bei Berlin Global Advisors. Foto: Bundesakademie für Sicherheitspolitik

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Bundeskanzlerin Merkel ist nicht bekannt für rhetorische Glanzleistungen. Ihre Pressekonferenzen zur Coronavirus-Pandemie erschöpften sich weitgehend in Allgemeinplätzen: „Wir werden das Notwendige, das Menschenmögliche tun. Wir haben seit Januar darüber geredet. Wir müssen Prioritäten setzen.“ Zuhörer hätten natürlich gerne gewusst, was bei den Gespräche herausgekommen ist oder welche Prioritäten wo von wem gesetzt werden.

Weshalb emphatisch fordern, wir dürften uns in Europa nicht abschotten, wenn Italien und Österreich dies gerade tun und selbst Deutschland dies drei Tage später tun wird? Vor fünf Jahren hieß es, Grenzen ließen sich nicht wegen ankommender Flüchtlinge schließen. Heute werden sie trotz EU-Freizügigkeit hermetisch abgeriegelt - nur Berufspendler und Waren dürfen passieren. Der Sprecherin kam es nicht in den Sinn, in einer Pandemie-Krise könnten das Notwendige und das Menschenmögliche auseinander klaffen. Was tun im Dilemma, zu wenige Ressourcen auf zu viele Bedürftige zu verteilen? Wer soll dann gerettet werden, wer ohne Hilfe gelassen bleiben? Wer trifft diese Entscheidung - und nach welchen Kriterien?

Pro Monat fünf Millionen Erkrankte

Merkel ist an zwei Stellen konkret geworden. Sie kündigte an, 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung werde an dem Virus erkranken. Und sie wiederholte, das Gesundheitssystem dürfe nicht überlastet werden.

Brechen wir diese Aussagen herunter: 60 bis 70 Prozent von 83 Millionen bedeuten 50 bis 58 Millionen Infektionen. Die Bundeskanzlerin hat keinen Zeitraum für ihre Vorhersage angegeben. Die meisten Virologen rechnen mit dem Höhepunkt der Infektionen im Sommer. So muss der Zuhörer annehmen, dass sich die Zahlen auf diesen Zeitraum beziehen. Bis August wäre demnach mit über 25 Millionen Erkrankungen zu rechnen, und danach bis zum Jahresende nochmals mit weiteren 25 Millionen. Das bedeutet, dass pro Monat fünf Millionen erkranken, auf dem Höhepunkt der Ausbreitung vermutlich bis zu 15 Millionen.

Frühe und rigide Maßnahmen

Bisherige statistische Erfahrungen belegen, dass etwa 20 Prozent der Erkrankten stationär behandelt werden, fünf Prozent auf die Intensivstation müssen und ein Prozent beatmet werden müssen. Die Sterblichkeitsrate schwankt zwischen 0,2 Prozent (bisher in Deutschland) und über 6 Prozent (Italien). Erfahrungen aus China belegen, dass die Infektionsrate und damit die Sterblichkeit davon abhängt, wie früh und rigide Maßnahmen zur strikter Isolation getroffen werden. Taiwan, Hongkong und Singapur sind engstens mit China verflochten, haben aber bisher am erfolgreichsten die Ausbreitung der Ansteckungen begrenzt. Taiwan zählt bei über 23 Millionen Einwohnern nur 53 nachgewiesen Fälle. Auf Deutschland übertragen entspräche das 200 Fällen. Tatsächlich haben wir weit über 5.000.

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Die Zahl von fünf Millionen Erkrankten pro Monat in Deutschland bedeutet, dass mindestens 10.000 Menschen sterben werden (0,2 Prozent); bei 25 Millionen sind es 50.000. Legt man italienische sechs Prozent zugrunde, wären es 300.000 beziehungsweise 1,5 Millionen. Das bedeutet, dass selbst im besten Fall jeden Monat mindestens eine Million Betten benötigt werden. 250.000 müssten intensiv behandelt werden, 5.000 benötigten Beatmung. In Deutschland sind etwa 500.000 Krankenhausbetten und 30.000 Plätze auf Intensivstationen vorhanden. Dies macht klar: Das Gesundheitssystem in seinen heutigen Dimensionen wird überfordert, sollten die Zahlen stimmen, die Frau Merkel so nonchalant genannt hat. Wenn die Zahlen der Kanzlerin stimmten, müsste China mit einer Milliarde Kranken rechnen. Gegenwärtig sind es knapp 100.000 - und die Zahl der Neuinfektionen sinkt.

Merkels angebliche Besonnenheit

Schon lange vor dem Ausbruch der Pandemie klagten Ärzte über Überlastung und Lähmung durch bürokratischen Aufwand, gab es einen eklatanten Mangel an Pflegepersonal. Selbst wenn man, wie in China, in wenigen Tagen Notlazarette aus dem Boden stampfte, würde der Personalmangel nur um so schärfer ersichtlich. Diese Personengruppe, die ständig in engstem Kontakt mit Infizierten arbeitet, ist einem besonders hohen Ansteckungsrisiko ausgesetzt. In China ist Li Wenliang, der erste Arzt, der vor der Epidemie warnte, daran gestorben.

Merkel habe Ruhe und Besonnenheit verströmt, rühmten die meisten Medien. Selbst der Spiegel bescheinigte ihr, jetzt die richtige Anführerin zu sein. Im Grunde hat die Kanzlerin jedoch genau das Gegenteil getan, weil ihre Aussagen in eklatantem Widerspruch zueinander stehen.

Fatalistische Resignation

Die Vorhersage der Kanzlerin war nicht nur inhaltlich widersprüchlich. Sie verfehlte das eigentliche Ziel, nämlich jeden Bürger zu verantwortungsvoller Mitarbeit zu motivieren. Wenn die Zahl von 60 bis 70 Prozent Infizierten uns wie ein auswegloses Verhängnis genannt wird, dann gibt es nur zwei rationale Alternativen: Entweder fatalistische Resignation, weil man sich in den 60 bis 70 Prozent sieht, die sich früher oder später ohnehin infizieren werden.

Oder aber man versucht mit allen Mitteln, zu den glücklichen 30 bis 40 Prozent zu gehören, die die Infektion vermeiden können. Das bringt uns aber in einen Kampf ums Überleben, in dem es keine Regeln und Gesetze mehr gibt. Die beabsichtigte Wirkung, jeden einzelnen Bürger zu motivieren, selbst zu einer Vermeidungs- und Verzögerungsstrategie beizutragen, hat die Kanzlerin verfehlt. Wenn die Regierung einräumt, dass sie wenig mehr tun kann, als das Unaufhaltsame zu verzögern, wie soll sich der Einzelne ohne Hoffnung motiviert fühlen?

Herausforderung bestenfalls verbal angenommen

Den alarmierenden Worte der Kanzlerin folgen wenig sichtbare Taten. Wo bleibt das medizinische Äquivalent zu der Zusage unbegrenzter Kredite an die Wirtschaft. Wo bleibt die Mobilisierung sämtlicher medizinischer Ressourcen? Studenten in fortgeschrittenem Semester als Hilfsärzte? Vorbereitung des Aufbaus modularer Notlazarette, wie China dies vorbildlich in zwei Tagen vorgemacht hat? Vielleicht sogar Ausrufung des Inneren Notstandes? Wenn bis zu einer Million Bürgern der Tod angekündigt wird, wäre dies keine exzessive Maßnahme.

Wer auf Freiwilligkeit bei der Seuchenbekämpfung setzt, muss diese täglich einfordern: Mit eindringlichen Beispielen, mit der ganzen Autorität des Amtes, mit wissenschaftlich gesicherten, aber verständlichen Argumenten. Weshalb sind die abendlichen Nachrichten- und die beliebten Sportsendungen immer noch von Werbung und nicht von Hinweisen der Bundesregierung bzw. Clips von Kanzlerin und Gesundheitsminister umrahmt? Was in Wahlkampfzeiten möglich ist, muss doch in einer nationalen Krise erst recht möglich sein. Weshalb keine Postwurfsendungen mit praktischen Hinweisen, wenn Schulen geschlossen werden und der Alltag für Familien sich plötzlich grundlegend ändert?

Dass es eine Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gibt, wissen die wenigsten. Diese Lücke füllen einige führende Virologen - aber der Kern der Krisenbewältigung ist kein medizinisch-wissenschaftliches, sondern ein politisch-administratives Problem. Bisher hat die Bundesregierung diese Herausforderung bestenfalls verbal angenommen. Die Kanzlerin verschlimmert mit undurchdachten Ansagen die Stimmung und scheitert erneut an der Aufgabe, politische Führung vorzugeben. Der Spiegel, hier wieder der alte, bemerkte ein wenig respektlos: „Ein erneutes ‚Wir schaffen das!‘ auf Magerstufe“

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