Merkels Corona-Rückzieher - Ist das Politik oder kann das weg?

Die Kanzlerin muss in den letzten Tagen unter enormem Druck aus den eigenen Reihen gestanden haben. Anders ist ihre heutige Bitte um Verzeihung und die Rücknahme der „erweiterten Ruhezeit“ nicht zu erklären. Doch die richtige Konsequenz zieht Merkel trotzdem nicht.

Angela Merkel bittet um Verzeihung / dpa
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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Für die Union läuft derzeit alles verkehrt: Die Corona-Infektionszahlen schießen wieder in die Höhe, während die Umfragewerte in den Keller rutschen. Erst Probleme bei der Impfstoffbeschaffung, dann diverse Maskenaffären – und nun eine in der Nacht auf Dienstag beschlossene „Osterruhe“, die anscheinend rechtlich auf so wackligen Füßen stand, dass die Kanzlerin sie heute wieder zurücknehmen musste.

Für ihren „Fehler“ bat sie um Verzeihung, als habe man sie dazu verdonnert: „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler, denn letzten Endes trage ich für alles die Verantwortung – qua Amt“, sprach Merkel in ihrem kurzfristig anberaumten Statement im Kanzleramt, das auf eine ebenso kurzfristig anberaumte Ministerpräsidentenkonferenz folgte, in der die noch nicht einmal 48 Stunden alten Beschlüsse zurückgenommen wurden. Ein politisches Desaster, ein administratives Chaos, das in der langen Amtszeit Merkels so offen noch nie zutage getreten ist.

Das Chaos scheint perfekt

Und tatsächlich scheint das Chaos perfekt, scheinen die Kanzlerin, die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten heillos überfordert zu sein vom nun mehr als einjährigen Kampf gegen das Virus. Unions-Bundestagsabgeordnete selbst können die Entscheidungen, die Merkel und die Länderchefs treffen, offenbar nicht mehr nachvollziehen. 

In der gestrigen Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion konnte die Kanzlerin laut Teilnehmern konkrete Fragen zum Gründonnerstag nicht beantworten. Wie es sich rechtlich mit dem Tag verhalte, was „Ruhezeit“ denn nun genau bedeute, ob es sich um einen gesetzlichen Feiertag handeln solle, ob Speditionen Sondergenehmigungen bräuchten, ob den Firmen die Arbeitsausfälle bezahlt würden. Merkel, die nur per Video zugeschaltet war, verabschiedete sich schnell wieder von den Abgeordneten, sie habe noch ein „wichtiges Telefonat“. Der Ärger über die Kanzlerin wurde danach nur noch größer, wie man aus Fraktionskreisen hört.

„Mit bester Absicht“

Merkel begründete dann am heutigen Mittwoch auch ihre Entscheidung, die „erweiterte Ruhezeit“ wieder rückgängig zu machen, damit, dass der kurzfristige Shutdown ab Gründonnerstag zwar „mit bester Absicht“ entworfen, in der Kürze der Zeit aber rechtlich und logistisch nicht umsetzbar gewesen sei. Ähnlich äußerte sich auch Ministerpräsident Markus Söder im bayerischen Landtag, der die Verantwortung mit übernahm. Die Idee einer „Ruhezeit“ sei zwar richtig gewesen und von allen Ministerpräsidenten mitbeschlossen worden, aber nicht realisierbar gewesen.

Es scheint, als sei es das Wording, auf das sich die heutige Ministerpräsidentenkonferenz geeinigt hatte, um mit einem blauen Auge und viel mea culpa davonzukommen. Doch die Frage steht im Raum: Warum ist ein Shutdown an Ostern plötzlich ein rechtliches Problem, wenn er es vor einem Jahr in der ersten Pandemiephase nicht war? Das Infektionsschutzgesetz bietet doch inzwischen sogar mehr Spielraum als noch vor zwölf Monaten. Und dass der damalige Shutdown ein logistisches Problem war, weiß jeder, der sich an die leergefegten Supermärkte und die langen LKW-Staus an den Grenzen erinnert. Doch sollte ein Land wie Deutschland nicht fähig sein, zumindest dieses logistische Problem innerhalb von anderthalb Wochen und für lediglich zwei zusätzliche Tage in den Griff zu bekommen?  

Kommt Ostern denn so überraschend?

Und überhaupt, kommt Ostern denn für die Entscheidungsträger so überraschend, dass sie erst in der Woche davor auf die Idee kommen, die Feiertage als Wellenbrecher nutzen zu können? Dass die Zahlen wieder ansteigen würden, nachdem man wieder Lockerungen beschlossen hatte, obwohl Deutschland noch auf einem hohen Infektionsniveau war, hätte man auch schon vor zwei oder drei Wochen wissen können. Es hätte also, wie so oft, viel Zeit gegeben, die Maßnahmen vorzubereiten. Mit der Wirtschaft zu sprechen. Den Bürgern einen Plan vorzulegen. Das merkelsche Fahren auf Sicht endet jetzt vor einer Wand, bei Tempo 180 und ohne Bremsen.

Man kann den Frust der Unions-Abgeordneten in der gestrigen Fraktionssitzung nachvollziehen, sind sie es doch, die in ihren Wahlkreisen den Menschen die Corona-Maßnahmen erklären, sie verteidigen müssen. Doch mitentscheiden können sie nicht, und stichhaltige Informationen scheinen die Politiker selbst ebenfalls nicht zu bekommen. 

Keine Vertrauensfrage

Zwar musste Merkel auch heute wieder in einer Regierungsbefragung den Abgeordneten Rede und Antwort stehen, doch das Parlament wird nach wie vor nicht an den Entscheidungen beteiligt. Konsequenzen aus ihrem „Fehler“ zieht die Kanzlerin nicht. Auf die Frage des FDP-Abgeordneten Marco Buschmann, ob sie endlich den Bundestag an den Entscheidungen beteiligt und die MPK nicht als Format ausgedient habe, sagte Merkel lediglich: „Über eine Verbesserung der Arbeitsweise werden wir in der Runde noch einmal reden.“ Dabei hatte schon vormittags NRW-Ministerpräsident Armin Laschet gefordert, die MPK als Hauptentscheidungsorgan in Sachen Corona-Maßnahmen zu überdenken. Man habe die Bevölkerung mit diesem Format enttäuscht.

Der Druck auf Merkel dürfte groß gewesen sein, sowohl in der Bundestagsfraktion als auch in der CDU generell. Anders ist ihr öffentliches Zu-Kreuze-Kriechen kaum zu erklären. FDP, AfD und Linke forderten von ihr, die Vertrauensfrage zu stellen, doch auf die Frage von Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch, ob sie sich sicher sei, dass sie noch die Unterstützung der Unions- und der SPD-Fraktion habe, sagte die Kanzlerin nur zwei Worte: „ja“ und „ja“. Auf die Frage von Gottfried Curio (AfD), ob sie nicht die Vertrauensfrage stellen müsse, sagte sie: „Ich habe meinen Worten von eben nichts hinzuzufügen.“

Die Dauerregierungskrise

Die „Worte von eben“, die sie am Anfang der Regierungsbefragung verlas, waren dieselben, die Merkel auch in ihrem Kanzleramts-Statement eine halbe Stunde zuvor verlesen hatte. Das Statement hatte es durchaus in sich: „Ein Fehler muss als Fehler benannt werden und wenn möglich korrigiert werden“, sagte da Merkel, und fast dachte man als Zuhörer, sie würde jetzt ihren Rücktritt anbieten. So kurz davor war Merkel jedenfalls schon lange nicht mehr. 

Nun ist es momentan, zu Beginn der dritten Welle, ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl, ein denkbar ungünstiger Moment für eine Regierungskrise, die durch den Rücktritt der Kanzlerin ausgelöst werden würde. Jedoch bekommt man zunehmend den Eindruck, dass wir es mit einer Dauerregierungskrise zu tun haben, die nur noch mit neuem Personal überwunden werden kann. Wer wirklich seinen Fehler korrigieren möchte, sei es die Kanzlerin, der Gesundheitsminister, der Wirtschaftsminister oder auch der Verkehrsminister, sollte vielleicht einfach sein Amt in andere, fähigere Hände übergeben. 

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