Merkels Corona-Pressekonferenz - Mut ist die kleine Schwester der Unvernunft

Einen „mutigen“ Schritt gehe Deutschland mit den Lockerungen der Corona-Maßnahmen, erklärte Kanzlerin Merkel auf der heutigen Pressekonferenz nach ihrer Videoschalte mit den Ministerpräsidenten. Das klingt nicht danach, als wäre Merkel wirklich einverstanden mit den Entscheidungen. Der Druck der Länder auf sie dürfte zu groß geworden sein.

Kanzlerin Merkel machte heute alles andere als einen überzeugten Eindruck / dpa
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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Einer der drei Termine der Bundeskanzlerin an diesem 6. Mai ist der EU-Westbalkan-Gipfel, der wie so viele Treffen in diesen Tagen als Videokonferenz stattfand, gewesen. Und man kann sich fragen, ob Angela Merkel wohl insgeheim bei dem schwierigen Verhältnis zueinander, das die Balkanstaaten seit dem Zerfall Jugoslawiens prägt, Parallelen zu ihrem föderalen Flickenteppich und dem Dissens mit ihren Ministerpräsidenten gezogen hat. 

Vom Bürgerkrieg ist Deutschland natürlich weit entfernt, aber die Zerrüttungen zwischen Bund und Ländern in der Frage der Corona-Maßnahmen sind kaum noch totzuschweigen. Schon in den letzten Tagen waren einzelne Bundesländer vorgeprescht, auch der sonst so besorgte und übervorsichtige Markus Söder hob weite Teile der Ausgangsbeschränkungen zum heutigen Mittwoch auf, schuf also schon Tatsachen, bevor die Ministerpräsidentenkonferenz überhaupt die Möglichkeit hatte zu beraten. 

Beschlüsse durchgestochen

Und selbst während der heutigen Konferenz, die weitaus länger dauerte, als die Hauptstadtpresse erwartet hatte - stundenlang standen sich die Reporter und Kameraleute im Kanzleramt die Beine in den Bauch - wurden immer wieder Beschlüsse durchgestochen. Halbstündlich hieß es, dass dieses und jenes wieder möglich sei, etwa die Bundesliga ab Mitte Mai weiterspielen dürfe. 

Das zeugt nicht davon, dass die Beschlüsse in großer Einigkeit gefasst wurden, wie Merkel, Söder und Tschentscher in der folgenden Pressekonferenz nicht müde wurden zu betonen. Es deutet eher darauf hin, dass während der Bund-Länder-Runde Druck auf die Kanzlerin aufgebaut werden sollte, denn was einmal in der Welt ist, ist nur schwer wieder zurückzunehmen. Aus Teilnehmerkreisen erfuhren denn auch Journalistenkollegen, dass Merkel „schwer genervt“ von der Debatte gewesen sein soll. Ihr soll sogar der Satz entflohen sein: „Bin kurz davor, aufzugeben“.

Die Kanzlerin wirkte ermattet

In der Pressekonferenz wirkte die Kanzlerin ermattet. Schwer atmend und oft in ihren Notizen hin und her blätternd berichtete sie: „Wir haben heute noch einmal sehr lange diskutiert“ und hielt es für nötig, deutlich darauf hinzuweisen, dass bis zum 5. Juni die Kontaktbeschränkungen weiter gelten, dass das eine „ganz klare Einschränkung der Kontakte“ sei, und fügte fast kleinlaut hinzu, dass „bereits getroffene Entscheidungen einzelner Länder davon unberührt“ blieben. 

Die Ministerpräsidenten, so scheint es, haben Merkel die Entscheidungsgewalt genommen. Bereits vor dem Treffen hieß es, dass die Verantwortung wieder in die Länder zurückgegeben werde. Als wäre das jemals anders gewesen. Der Förderalismus hat der Bundesregierung nie wirklich mehr als Empfehlungen ermöglicht. Nur haben sich die Länder bislang mit den Füßen scharrend daran gehalten. Aber die Ungeduld ist zu groß geworden. Indem behauptet wird, dass die Verantwortung von Merkel auf die Ministerpräsidenten übertragen wird, kann die Kanzlerin zumindest nach außen das Gesicht wahren. 

Ein „mutiger Weg“

Deutschland gehe mit den neuen Lockerungen einen „mutigen Weg“, sagte die Kanzlerin in dem ihr eigenen pastoralen Vokabular. Dieser „Mut“ sieht vor, dass sich nun nicht nur einzelne Personen aus zwei unterschiedlichen Hausständen treffen dürfen, sondern ein kompletter Hausstand mit einem anderen. Die Bundesliga darf ab Mitte Mai ihre Geisterspiele fortführen und die Saison zu Ende bringen. Hotels und Gaststätten dürfen ebenfalls öffnen, aber nur, wenn sie sich an strenge Auflagen halten.

Doch das Wort „Mut“, das Merkel mehrmals in den Mund nahm, ist verräterisch. Sie scheint persönlich nicht viel von den Lockerungen zu halten. „Mut“ ist die kleine Schwester von „Unvernunft“ und man wird sehen, ob es eine gute Idee war, die Regelungen aufzuweichen. Darauf wies die Kanzlerin immer wieder hin. Sie sprach davon, dass der Reiseverkehr nun zunehmen würde und das Infektionsgeschehen dadurch schwerer zu kontrollieren sei. Das „sicherlich Kritischste“ sei die Wiedereröffnung von Hotels und Gaststätten, man werde das „sehr gut beobachten“ müssen. 

„Dann können wir einpacken“

Dementsprechend war der wohl wichtigste Beschluss der Runde ein Notfallmechanismus, auch als „Notbremse“ bezeichnet, die immer dann gezogen werden soll, wenn es in einem Landkreis zu einem erneuten Anstieg an Infektionen komme. Dann sollen regional die Maßnahmen gegen das Virus wieder verschärft werden. Die Frage ist natürlich, wie zuverlässig ein solcher Notfallmechanismus sein kann, wenn es keine flächendeckenden Tests auch von symptomfreien Bürgern gibt. Denn bis ein Anstieg des Infektionsgeschehens in einem Landkreis nachzuweisen ist, vergehen ohne diese flächendeckenden Tests mitunter ein bis zwei Wochen, in denen sich die Bürger bundesweit mehr oder weniger frei bewegen können.

Eine andere Frage, die in der Pressekonferenz gestellt wurde, war, wer eigentlich am Hebel dieser Notbremse sitzt, der Bund oder die Länder, und ob es nicht sehr viel Vertrauen gegenüber den Landkreisen brauche, dass diese ihre Arbeit gut machen. Merkel klang in ihrer Antwort mehr als gereizt: „Wenn Sie nur noch der Zentrale vertrauen können und allen anderen im Land nicht, dann widerspricht das unserem Demokratieverständnis. Ich vertraue den Bürgerinnen und Bürgern, Vertrauen ist der Grundsatz und dann muss man natürlich auch ab und zu kontrollieren, das ist klar, aber wenn wir dieses Vertrauen nicht mehr haben, dass Landräte, Bürgermeister, Gesundheitsämter gut arbeiten, dann können wir einpacken. Das ist dann nicht unsere Bundesrepublik Deutschland.“ Sagte Merkel und ging zur Westbalkan-Konferenz. 

Ob Merkel dieses Vertrauen gegenüber den Ministerpräsidenten noch hat, ist nach dem heutigen Tag durchaus fraglich. Und ob sich deren „Mut“ als richtig erweisen wird, werden wir erst in einigen Wochen wissen.   

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