Andreas Nölke über das Aufstehen nach "Aufstehen" - Linkspopulär: Auf der Suche nach den verlorenen Wählern

Vor wenigen Tagen wurde im Vorfeld des anstehenden Linken-Parteitages der Aufruf „Für eine populäre Linke“ bekannt. Eine der wesentlichen Initiatorinnen: die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht. „Cicero“ sprach mit dem wahrscheinlichen Stichwortgeber für eine „populäre Linke“, dem Politikwissenschaftler Andreas Nölke.

Politikwissenschaftler Nölke: "Akademiker wählen eher links, Unterprivilegierte entweder die AfD oder gar nicht" / grenzgaengerin.eu
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Andreas Nölke ist Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

 

Herr Nölke, Sie haben vor ein paar Jahren bei der Bewegung „Aufstehen“ rund um Sahra Wagenknecht mitgemacht. Wie ist es dazu gekommen?

Ich wurde direkt von ihr angesprochen und gehörte dann auf wissenschaftlicher Seite neben Bernd Stegemann und Wolfgang Streeck zum innersten Kreis.

Wie ist es dazu gekommen?

Ich hatte gerade mein Buch mit dem Titel „Linkspopulär“ veröffentlicht, und das ist bei den Organisatoren von „Aufstehen“ gelesen worden. Offenbar hat es ihnen ganz gut gefallen. Darin geht es um eine Analyse der Schwäche der derzeitigen Linken. Ich führe sie auf einen tiefen Entfremdungsprozess linker Parteien gegenüber ihren traditionellen Wählern zurück: sozial Schwache, Arbeiter, Ausgegrenzte. „Aufstehen“ war als überparteiliche Sammlungsbewegung gedacht, die genau diesen Entfremdungsprozess überwinden wollte. Es passte also ganz gut zusammen. Sowohl mein Buch als auch meine Aktivitäten bei „Aufstehen“ verdanken sich dabei nicht meiner Stellung als Professor. Ich habe mich als politischer Bürger engagiert.

Nach einem fulminanten Start ist „Aufstehen“ innerhalb kürzester Zeit wieder implodiert. Woran hat’s gelegen?

Im Kern waren wir selbst schuld. Wir haben im Grunde nicht über den Start der Bewegung hinausgedacht. Als dann innerhalb kürzester Zeit mehr als 100.000 Bürger mitmachen wollten, brach organisatorische Überforderung aus. Gerade die Engagiertesten hat das total frustriert zurück gelassen.

Und der Rückzug Wagenknechts hat der Bewegung dann endgültig das Rückgrat gebrochen?

Es gab noch andere Gründe. Im inneren Kreis gab es auch Streit, das war teilweise ein unglaubliches Desaster. Und einige wollten aus der Bewegung auch symbolisches Kapital für die Stellung in ihrer eigenen Partei schlagen. Das passt nicht recht zu einer überparteilichen Initiative. Aber de facto haben Sie recht: Als Sahra Wagenknecht ihren Rückzug verkündete, war es das im Grunde, auch wenn „Aufstehen“ weiter aktiv ist.

Nun ist rund um Sahra Wagenknecht im Vorfeld des kommenden Parteitags der Linken eine neue Aktion gestartet worden. Diesmal richtet sie sich an die Partei selbst und fordert eine „populäre Linke“. Kommt Ihnen das bekannt vor?

(lacht) Natürlich, aber ich darf Ihnen versichern, dass ich in den Aufruf nicht eingebunden bin und ihn auch nicht unterschrieben habe, ich bin ja kein Parteimitglied. Aber es gibt schon große inhaltliche Schnittmengen zwischen meinem Buch und dem Aufruf, und es sind auch viele alte Bekannte unter den Unterzeichnern.

Worin bestehen denn diese Schnittmengen und der Kern Ihrer Analyse genau?

Seit geraumer Zeit verschiebt sich die Wählerbasis der Parteien von rechts wie links. Das ist ein internationales Phänomen und keinesfalls auf Deutschland beschränkt. Früher wählten die Akademiker eher rechts, also konservativ und die unteren Milieus und Arbeiter links. Heute wählen vor allem Akademiker linke Parteien und Unterprivilegierte entweder die AfD oder gehen gar nicht mehr wählen. Vor allem der letzte Punkt treibt mich um. Wir haben in NRW bei den Landtagswahlen teilweise sozial benachteiligte Wahlkreise mit einer Wahlbeteiligung von nur noch gut 20 Prozent erlebt. Das ist eine klare Botschaft.

Und woran liegt das?

Weil sich große Teile des traditionellen linken Wählermilieus nicht mehr vertreten fühlen, daher weichen sie aus. Normalerweise wird die politische Landschaft an der Achse links/rechts vermessen, hier geht es vor allem um Themen wie Gleichheit und Ungleichheit. Aber das reicht nicht aus. Genauso wichtig ist die Achse Kommunitarismus/Kosmopolitismus.

Was verstehen Sie unter Kommunitarismus?

Eine Weltsicht, die eher auf das Lokale und auch kulturell Vertraute setzt. Der Kosmopolit blickt umgekehrt auf die ganze Welt und hat Spaß an Buntheit und Veränderung. Es ist nicht schwer zu erraten, wer sich wo wiederfindet: Die Akademiker sind eher Kosmopoliten. Sie verfügen über die kulturellen Ressourcen und auch über den sozialen Status, um mit Vielfalt und Veränderung umgehen zu können. Die Nicht-Akademiker hingegen bevorzugen das Vertraute und damit Sicherheit. Und beide Welten sind nicht miteinander vereinbar. Aus den beiden Begriffspaaren lassen sich vier Kombinationen bilden. Es gibt in Deutschland für drei dieser Kombinationen politische Parteien, für eine aber nicht: links-kommunitaristisch. Wir haben hier eine massive Repräsentationslücke. Die sollte letztlich auch mit „Aufstehen“ geschlossen werden.

Das klingt noch etwas theoretisch, geht es auch lebensnaher?

Natürlich! Nehmen Sie zum Beispiel die Themen Nationalstaat, Migration und Globalisierung. Der europäische Kosmopolit träumt von den Vereinigten Staaten von Europa, offenen Grenzen und globalem Freihandel. Für den weniger gut ausgebildeten Kommunitaristen klingt das wie eine Bedrohung: Offene Grenzen würden die Wohnungsknappheit im unteren Preissegment massiv erhöhen und damit auch die Mieten, ähnliches dürfte auf dem Arbeitsmarkt eintreten - und die Vereinigten Staaten von Europa wären mit einer Entmachtung des Nationalstaates verbunden. Der aber ist seit über 100 Jahren nicht nur der Garant für Demokratie, sondern vor allem soziale Sicherheit. Dass diese Positionen schwer miteinander vereinbar sind, dürfte klar sein. Und vor allem: Ursache und Wirkung wären nicht angemessen verteilt. Für das, was sich Kosmopoliten wünschen, müssten am Ende die Kommunitaristen die Rechnung bezahlen.

Aber was hat das alles mit einer „populären Linken“ zu tun?

Das ist, ehrlich gesagt, ein Marketingvorschlag aus meinem Buch. Man kann nicht mit dem Schlagwort „Linkskommunitarismus“ um die Menschen werben, das versteht ja keiner. „Linkspopulär“ schien mir da passend. Es soll signalisieren, dass es um eine linke Politik geht - aber eben konsequent für die „kleinen Leute“ und nicht die linksliberalen akademischen Milieus.

In den linken Parteien sind aber gerade diese linksliberalen akademischen Milieus an der Macht, die sich vor allem mit ihrer eigenen Identitätspolitik beschäftigen. Woher nehmen Sie die Hoffnung, diese könnten sich irgendwann wieder für die Malocher einsetzen - und nicht für sich selbst?

Da habe ich eigentlich genau deshalb keine große Hoffnung. Alle deutschen linken Parteien sind in Kommunitaristen und Kosmopoliten gespalten, am meisten vielleicht in der Linken selbst - und immer sitzen vor allem Kosmopoliten an den entscheidenden Hebeln. Man muss heute nüchtern feststellen, dass Sahra Wagenknecht ihren Machtkampf verloren hat. Der Aufruf für eine „populäre Linke“ ist zwar ehrenwert, aber wahrscheinlich chancenlos. Mich wundert es nicht, dass sich die Linksjugend sofort von dem Aufruf distanziert hat. Das zeigt die Richtung an.

Und was tun?

Ich schlage vor, was nicht zusammenwachsen kann, einfach zu trennen. Eine Art friedlicher Scheidung quasi. Ich weiß, dass das am Reißbrett entworfen und vielleicht unrealistisch ist. Aber als Wissenschaftler kann ich es mir leisten zu sagen, was ich für richtig halte, auch wenn es vielleicht nicht umsetzbar ist. Also konkret: Die Linke müsste sich in zwei Parteien aufspalten, in eine kosmopolitische Linke und eine kommunitaristische Linke. Die eine könnte konsequent und ohne Störfeuer eher akademisch geprägte Wähler an sich binden und die andere traditionelle Milieus glaubwürdig aus der Nichtwählerschaft zurückholen. Das Erste ginge wahrscheinlich im Sinne kommunizierender Röhren zu Lasten der Grünen, aber das Zweite könnte das linke Lager massiv stärken. Die Parole wäre anschließend: Getrennt marschieren, vereint schlagen.

Wer sollte an der Spitze einer solchen links-kommunitaristischen Partei stehen?

Na, Sahra Wagenknecht wäre die naheliegende Option.

Und, wird Sie es machen?

Ich glaube nicht, sie hängt an ihrer Partei.

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