Ampelkoalition - Abschied vom Sandkasten

Kaum gestartet, schon wurde es gescholten. Doch vielleicht ist das Ampelbündnis Erfolgstreiber einer neuen deutschen Konkordanzgesellschaft. Aber werden die Habeck-Baerbock-Özdemir-Grünen wirklich erwachsen?

Robert Habeck wird zum Prototypen des erwachsenen Grünen / dpa
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass der Gang über den grünen Catwalk nicht mehr genügt, um den gewünschten Marketingeffekt zu provozieren – dass also Spektakuläreres nötig ist. Luisa Neubauer jedenfalls wird den strengeren Marktbedingungen gerecht, wenn sie in härteren Zeiten mit Gewalt zündelt: Man könne ja, nur mal so als Idee, eine Ölleitung in die Luft jagen, um den Anforderungen an eine rigorosere Klimapolitik gerecht zu werden. Die grüne Leitfigur von Fridays for Future knüpft damit an die Tradition höherer deutscher Töchter an, man denke nur an Ulrike Meinhof oder Gudrun Ensslin, die ihre RAF-Karriere damit begannen, Gewalt gegen Sachen, später auch Personen als legitimes Protestmittel zu propagieren. 

Doch in Europa herrscht Ukrainekrieg – und die Grünen sind gerade dabei, sich in der neuen Wirklichkeit zurechtzufinden, indem sie die Schlüsselministerien Äußeres und Wirtschaft durch Lernfleiß und politische Kreativität aus der somnambulen Unverbindlichkeit der Merkel-Jahre wachküssen. Was Annalena Baerbock und Robert Habeck zu sagen haben, ist von Belang – in Deutschland und in der erschütterten Welt!

Die grüne Speerspitze

Diese wirkliche Welt ist die Gegenwelt zur Puppenstubenwelt der Neubauers – einer Protestwelt auf Autobahnen festgeklebter Schuhsohlen. Man könnte, liebenswürdig gemeint, auch sagen: Das Postergirl wird vom Posterboy abgelöst – der attraktiv graumelierte Herr Habeck zeigt den Jüngeren, was eine Harke ist. 

Doch es gibt noch mehr kompetentes Personal: beispielsweise Cem Özdemir, Landwirtschaftsminister, oder Steffi Lemke, Umweltministerin, oder Anton Hofreiter, Parlamentarier mit internationalem Echo. Politische Persönlichkeiten, die verkörpern, was Deutschland dringend braucht: sozialdemokratisierte Grüne. 

Die Analogie zu diesem Politikwechsel findet sich in der Geschichte der demokratischen Genossen: Sie lösten sich nach dem Ersten Weltkrieg von den extremistischen Kräften, von Spartakisten und Kommunisten, die weiterhin marxistischem Dogmatismus huldigten. Die gemäßigten Linken versöhnten die Arbeiterschaft mit dem Bürgertum und entwickelten eine eigene Bürgerlichkeit: sozial hartnäckig-­aufsässig, aber unnachgiebig-demokratisch – das fortschrittliche Bürgertum der späteren Bundesrepublik. 

Die neuen Strömungen

Die linke Erfolgsgeschichte könnte Modell sein für eine grüne: hartnäckig-aufsässig in Umweltfragen, aber unnachgiebig-demokratisch in den politischen Mitteln, vor allem freiheitsbewusst gegen den Volkserziehungskult der Umweltextremisten – von FfF-Fanatikern bis zu Neubauer-Narzissten.

Die Ampelkoalition bietet dazu das politisch-kulturelle Umfeld: Sie operiert in einer Phase völlig ungewohnter Umstände und hat – wie zu erwarten war – so manches falsch gemacht. Aber sie lernt. Sie löst sich vom Gewohnten. Denn sie muss die Bürgerinnen und Bürger für die Transformation der Bundesrepublik gewinnen. Ein zweites deutsches Erfolgsmodell? Möglich wär’s! Die drei Regierungsparteien vertreten, was es dazu braucht: die Grünen das neue Umweltthema; die Sozialdemokraten das klassische Sozialthema; die Freien Demokraten das existenzielle Freiheitsthema. 

Zur neuen Erzählung, die überzeugend genug ist, um von der Bürgerschaft angenommen zu werden, gehört auch die christdemokratische Opposition, angeführt von Friedrich Merz, flankiert von einer aufkeimenden konservativen Denkkultur um Intellektuelle wie die Ex-Familienministerin Kristina Schröder, den Historiker Andreas Rödder oder den Islamexperten Ahmad Mansour, die jüngst die Denkfabrik R21 ins Leben gerufen haben. 

Macht sich die Bundesrepublik auf den Weg? Und wenn ja, wohin? 

Schluss mit Kindergarten?

Weg jedenfalls vom Kinderspielplatz, zu dem die Millennials das Land verzwergt haben: Was kümmert die verwöhnten Wohlstandskids der Ukrainekrieg, wenn die Gendersternchen noch nicht Gesetz sind? Wenn das Geschlecht noch nicht frei gewählt werden kann? Wenn der Verzehr von Fleisch noch nicht verboten ist? Wenn Autofahrer noch Parkplätze finden? 

Vom Papa mit dem SUV in die Kita chauffiert, an der Universität die Spätpubertät als Protest ausgelebt, vom Akademikerhochsitz herab die Abgehängten belehrt, die Gesellschaft in Gute und Böse eingeteilt im reichlich bezahlten Job als NGO-Mitarbeiter, als Bewirtschafter einer Universitätspfründe oder als Nachhaltigkeitsberater eines Unternehmens. Wokismus im Sandkasten. 

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow sieht es so: „Wir sind in den Flegeljahren, in der letzten Welle der Pubertät.“ Er meint mit diesem Satz selbstkritisch seine eigene Partei „Die Linke“, beschreibt jedoch zugleich präzise die deutsche Nach-Mauer-Wohlfühlsociety. 

Die Habeck-Baerbock-Özdemir-Grünen werden erwachsen. Werden sie es wirklich? 

Die Neuerung der Ampel

Vier Verantwortungsparteien könnten die Bundesrepublik in eine erwachsene Zukunft führen: SPD, CDU/CSU, Grüne und FDP. Vor allem die FDP. Denn woran es der Bundespolitik besonders mangelt, ist – Freiheit! Die Freiheit, kapitalistisch zu wirtschaften, ohne unter Generalverdacht gestellt zu werden; die Freiheit, kreativ zu sein, ohne durch Gesetz und Bürokratie gleich wieder ausgebremst, wenn nicht gestoppt zu werden; die Freiheit, Probleme zu benennen, ohne vom linksgrünen Kartell des Reflexjournalismus gleich als Rechtsaußen gebrandmarkt zu werden.  Dem Land fehlen Hunderttausende handwerkliche Fachkräfte – kein einziger Akademiker. 

Möglich ist eine Konkordanzgesellschaft, deren Regierungszusammensetzung wechselt, deren neuer Gründergeist geteilt und gelebt wird über die Grenzen der Parteien hinweg. Die Ampelkoalition arbeitet – nach Jahren der Unpolitik – gemäß Poppers Prinzip von Versuch und Irrtum an einer politischen Kultur der Gemeinsamkeit unter Ungleichen. 

Man gerät ins Schwärmen. Als Schweizer. Und ins Zweifeln.

 

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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