Der Blick von außen auf die Ära Merkel - „Ein äußerst schwieriger Drahtseilakt“

In einer sechsteiligen Folge ziehen Beobachter aus dem Ausland eine Bilanz der Amtszeit von Angela Merkel. Hier schreibt der US-amerikanische Geopolitik-Analyst George Friedman, wie die Stabilität Deutschlands nach dem Abgang der Kanzlerin erhalten werden kann und vor welchem Dilemma die nächste Bundesregierung steht.

Angela Merkel im Jahr 2007 bei einer Pressekonferenz vor dem Weißen Haus / picture alliance
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Ich wurde 1949 in Ungarn als Sohn jüdischer Eltern geboren, die Mauthausen überlebt hatten. Als ich sechs Monate alt war, flohen sie aus dem sowjetisch besetzten Ungarn und zogen in die Vereinigten Staaten. Als Kind wurde mir beigebracht, dass Deutschland eine Monstrosität sei, die Europa zerstört und verseucht habe.

Eines Tages kam ein Freund der Familie zu Besuch und brachte mir ein Spielzeug mit. Mein Vater sah es sich genau an, um sicherzustellen, dass es nicht in Deutschland hergestellt worden war. Dieses Spielzeug jedoch war tatsächlich „made in Germany“. Mein Vater schnaubte vor Wut und ging sogar zum Spielwarenladen, um dort seinem Ärger Luft zu machen. Die Wut auf Deutschland bestimmte sein Leben. Ich dagegen fand das Spielzeug großartig und wollte es einfach nur behalten. Das waren meine ersten Erlebnisse mit Blick auf Deutschland.

Gespalten als junger Mensch

Jahre später begann ich mein Grundstudium und beschäftigte mich mit der deutschen politischen Philosophie – Kant, Hegel, Heidegger und Marx. In meinen Zwanzigern habe ich dann viel Zeit in Deutschland verbracht und das getan, was man in diesem Alter eben tut: fleißig studieren, Freunde finden, sich verlieben und einander wieder verlieren. Stets begleitete mich die Wut meines Vaters auf die Deutschen und gleichzeitig meine Freude am deutschen Denken und an meinen Freundschaften. Beunruhigt stellte ich mir die Frage, wie ich erklären soll, wer ich bin.

Meine Bekannten waren, wie ich, nach dem Krieg geboren. Sie kamen in einem Deutschland zur Welt, das physisch und psychisch zerschlagen und in zwei Länder aufgeteilt worden war. Aber das Wirtschaftswunder hatte begonnen. Einmal war ich zu Besuch in Köln und bemerkte, wie sauber und modern es dort war. Als Amerikaner verstand ich nicht sofort die Bedeutung der Städte, die wir zerstört hatten; für mich war es einfach ein Kriegsereignis gewesen. Für meine Freunde hingegen war es eine Gräueltat – eine Gräueltat, die sie als solche aber nicht benennen konnten angesichts der überragenden Gräueltaten der Deutschen.

Die unausgesprochene Anklage

Meine deutschen Freunde und ich standen einander mit einem großen Unbehagen gegenüber. Ich fragte mich, was ihre Väter im Krieg getan hatten. Sie wiederum fragten sich, was mein Vater ihnen angetan hatte oder angetan hätte, wenn ich nicht als Ungar geboren worden wäre. Aber in uns allen steckte eine unausgesprochene Anklage. Sie war unausgesprochen, weil das Verbrechen gegen Deutschland ein ganz anderes war als das Verbrechen von Deutschland selbst.

Von einem bestimmten Moment an wurde die Diskussion sinnlos und vergiftet. Unsere Generation hatte keine Verbrechen begangen. Unsere Pflicht war es, niemals zu vergessen, wozu Menschen fähig sind. Aber nun waren wir Brüder. Wir standen Seite an Seite Wache an der Fulda, wir saßen Seite an Seite im Hörsaal, der Gedanke an die Vergangenheit plagte uns – ohne jedoch die Menschlichkeit und Vernunft des jeweils anderen infrage zu stellen.

Wendejahr 1991

1991 war eine entscheidende historische Wegmarke: Die Sowjetunion war zusammengebrochen, die Berliner Mauer niedergerissen worden – und all das auf friedlichem Weg, weil Deutschland zu Europa und Europa zu den Vereinigten Staaten gestanden hatte. Der Kalte Krieg war vorbei, die Deutschen waren Teil einer Koalition der Anständigen, die unter anderem die Wiedervereinigung Deutschlands bewerkstelligt hatte. Der Zweite Weltkrieg gehörte endgültig der Vergangenheit an.

1991 war auch das Jahr von Maastricht. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war ein Triumph der europäischen Einheit, und die Lehre daraus war, dass der Nationalismus, der Europa gespalten hatte, überwunden werden musste, damit sich so etwas wie der Schrecken der beiden Weltkriege nicht wiederholen konnte. 1991 war das Jahr, in dem Deutschland neu gegründet wurde, umgeben von alten und neuen Freunden – und die Aufgabe bestand nicht mehr darin, Europa wieder aufzubauen, sondern vielmehr darin, eine Kathedrale des Wohlstands und des Friedens zu errichten, wie sie Europa noch nie gesehen hatte. Dies würde kein deutscher oder italienischer Triumph sein, sondern ein europäischer, der auf der Industrie und dem Finanzsystem aufbaut.

Verwundbare Dominanz

Deutschland verhielt sich in einzigartiger Weise, ähnlich wie bei seiner Gründung 1871. Es erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung und stieg von der führenden Wirtschaftsmacht zu einer Wirtschaftsmacht auf, die die europäische Landschaft dominiert und in gewissem Sinne das historische Deutschland nachahmt. Die deutsche Wirtschaft prägt die europäische Wirtschaft. Gleichzeitig ist Deutschland aber auch ein äußerst verwundbares Land, denn es bezieht fast die Hälfte seines Bruttoinlandsprodukts aus Exporten, und zwar innerhalb der EU.

Sollte auf globaler oder regionaler Ebene irgendetwas passieren, das die Exporte behindert, wäre Deutschland in einer katastrophalen Lage. Deshalb muss die Bundesrepublik dafür sorgen, dass die Importeure in Europa ihre Nachfrage aufrechterhalten. Gleichzeitig muss Deutschland die Stabilität seiner eigenen Wirtschaft bewahren und für eine strenge Kontrolle über Defizit und Schulden eintreten.

Dilemma in der Geldpolitik

Daraus ergibt sich für Deutschland ein grundlegendes Problem. Seine Märkte, insbesondere in Südeuropa, verlangen, dass die Europäische Zentralbank die Geldmenge erhöht. Nur so kann Deutschland seine Exporte halbwegs auf derzeitigem Niveau halten. Die Bundesrepublik ist daher gefangen zwischen ihrem alten Albtraum von der Inflation sowie einer massiven Rezession in weiten Teilen der EU aufgrund mangelnder Liquidität. Es ist ein klassisches Dilemma, das die Unvereinbarkeit unterschiedlicher nationaler Interessen verdeutlicht.

Deutschland sah in der EU einen Weg jenseits des Nationalismus. Jetzt muss Deutschland die EU aus nationalem Interesse heraus bewahren. Gleichzeitig stehen viele Länder in der EU, etwa Italien, vor erheblichen Krisen – es sei denn, sie ändern ihre Geldpolitik, was Deutschland nicht verkraften kann. Deutschland muss also seinen Exportmarkt in Europa erhalten (und nicht zuletzt die entsprechende Kaufkraft) sowie eine Inflation vermeiden. Dies ist ein äußerst schwieriger Drahtseilakt.

Oberstes Interesse Stabilität

Deutschland hat in der Vergangenheit bereits mit vergleichbaren Szenarien zu kämpfen gehabt. Die Lösungen waren selten sanft, und die Europäische Union hat sich in ein mächtiges Instrument zur Durchsetzung einer deutschen Wirtschaftsordnung entwickelt, die die deutsche Position stabilisiert. Es geht nicht um Deutschland als einer aggressiven Macht. Es ist einfach so, dass jedes Mitglied der EU seine eigene Staatlichkeit und damit seine eigenen wirtschaftlichen Bedürfnisse hat – und dass jede Regierung ihren eigenen Bürgern gegenüber verantwortlich ist.

Wenn Angela Merkel demnächst aus dem Amt scheidet, wird sich alles um die Frage drehen, wie die Stabilität Deutschlands erhalten werden kann und welche Gefahren bestehen, sollte dies nicht gelingen.

Bei meinem ersten Besuch in Deutschland fand ich eine Nation vor, die Angst vor Nationalismus hatte und verzweifelt versuchte, ihre Vergangenheit zu überwinden. Jetzt erleben wir ein Deutschland, das dazu gezwungen ist, anderen Nationen seine wirtschaftlichen Interessen aufzudrängen. Jede deutsche Bundesregierung wird versuchen, dem zu entkommen. Aber ich vermute, dass es keinen Ausweg gibt.

Geopolitische Notwendigkeiten

Deutschland ist die europäische Großmacht, und es wird seinen Willen durchsetzen – zum Schrecken der anderen europäischen Nationen. Kein Staat kann sich dem Zwang entziehen. Das Grauen des Dritten Reiches bestand darin, dass Dinge getan wurden, die nicht notwendig waren. Aber die Bundesrepublik kann dem Schicksal der Rückkehr eines Europas mit Grenzen und einem überragenden Deutschland, das seine Nachbarn sowohl verärgert als auch von ihnen beneidet wird, nicht entgehen.

Das ist die Position, die Deutschland seit 1871 eingenommen hat – mit Ausnahmen. Die Ausnahme trat ein, als Nachbarländer und weiter entfernt liegende Staaten Deutschland für zu gefährlich hielten. Es gibt bereits Unmutsäußerungen, die Vorboten einer abermaligen Wende im europäischen Zyklus sind.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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