Afghanistan - Die Außenpolitik des guten Denkens

Die außen- und sicherheitspolitische Bilanz der 20 Jahre währenden Intervention des Westens in Afghanistan ist so desaströs wie der Truppenabzug dilettantisch. Die deutsche Außenpolitik der jüngeren Vergangenheit erinnert auf bizarre Weise an das längst vergangene Zeitalter von Imperialismus und Kolonialismus.

Deutsche Fallschirmjäger steigen Mitte August auf dem Flughafen in einen Airbus A400M / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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„Es gibt auch nichts zu beschönigen. Wir alle, die Bundesregierung, die Nachrichtendienste und die internationale Gemeinschaft, wir haben die Lage falsch eingeschätzt“, erklärte der sichtlich angefasste deutsche Außenminister Heiko Maas vor wenigen Tagen vor laufenden Kameras. Die Kritik an der deutschen Regierung konzentriert sich dabei dieser Tage vor allem darauf, deutsche Staatsbürger und afghanische Hilfskräfte nicht rechtzeitig evakuiert zu haben. Nur wenige holen grundsätzlicher aus, wie der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi (Die Linke) und der Europaabgeordnete Maximilian Krah (AfD).

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Gysi hatte schon am 16. November 2001 bei der Abstimmung des Deutschen Bundestages über eine Beteiligung deutscher Streitkräfte am „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan für seine Fraktion kategorisch die Ablehnung begründet. An dieser Haltung hat sich bei ihm nichts geändert. Er ist weiterhin der Meinung, dass „Kriegseinsätze der absolut falsche Weg sind und stattdessen Außenpolitik und Diplomatie herrschen müssen.“

Wo Gysi irrt

In der Politik im Unterschied zur Theologie verursacht das Absolute allerdings so manche Schwierigkeit. Dass gilt ausgerechnet dann, wenn man sich in Deutschland von links „absolut“ gegen Kriegseinsätze positioniert. Das hat nämlich die banale Konsequenz, dass Gysi sich dann eigentlich auch von den Alliierten einschließlich der ruhmreichen Sowjetarmee distanzieren müsste. Hitler-Deutschland war nur im Krieg zu bezwingen und nicht mit weichen Worten. Nach Auschwitz kann man eigentlich kein Pazifist mehr sein.

In ein ganz anderes Problem verstrickt sich auf der rechten Seite Maximilian Krah (AfD). In Reaktion auf das Afghanistan-Debakel gab er am 16. August 2021 eine sehr selbstbewusste öffentliche Erklärung ab. Der kann man entnehmen, dass auch er den Afghanistan-Einsatz für einen grundsätzlichen Fehler hält. Aber aus anderen Gründen als Gysi. Der Westen hätte nämlich den Fehler begangen, mittels „wertebasierter Außenpolitik“ den Afghanen die westliche Lebensweise aufzwingen zu wollen. Das sei von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, da diese Werte nicht „universal“ seien. Es gebe daher gute Argumente für die „Notwendigkeit des Interventionsverbots für raumfremde Mächte“, zitiert Krah den Staatsrechtler Carl Schmitt, ohne ihn beim Namen zu nennen. Oder anders gesagt: Soll sich doch jeder Staat gefälligst um seinen eigenen Kram kümmern.

Angriff auf die Geschichte der Aufklärung

Was sich vielleicht ganz sympathisch anhören mag, enthält in Wahrheit einen Angriff auf die gesamte Geschichte der Aufklärung und damit die Substanz unseres Demokratie- und Verfassungsverständnisses. Für Krah sind die Menschenrechte offenbar bloß eine kleine Erzählung, eine Erfindung der westlichen Welt ohne universellen Wahrheitsanspruch. Ungefähr das lässt auch die chinesische Staatsführung regelmäßig die staunende Öffentlichkeit immer genau dann wissen, wenn Menschenrechtsverletzungen in China öffentlich an den Pranger gestellt werden.

Aber die These von der relativen Gültigkeit der Menschenrechte ist kein bloßes Problem der Außenpolitik, sondern unseres moralischen Selbstverständnisses schlechthin. Nimmt man Krahs Thesen ernst, hätte es gegen die Judenvernichtung Hitlers nämlich genau dann kein Argument gegeben, wenn er auf Eroberungskriege verzichtet und seinen „eliminatorischen Antisemitismus“ (Daniel Goldhagen) auf das damalige deutsche Staatsgebiet begrenzt hätte. Wenn nämlich die Menschenrechte nicht universell gelten und insofern auch nicht „wahr“ sein können, hätten die deutschen Juden auch kein Recht gehabt, sich auf sie zu berufen.

Politik macht „unschuldig schuldig“

Und so stehen sie sich unversöhnlich und dennoch seltsam einträchtig gegenüber: Hier der rechte EU-Abgeordnete, der die deutsche Politik ganz ohne Moral und Werte offenbar bloß auf nationale Interessen stützen will – und dort der linke Bundestagsabgeordnete, der gerade aus Gründen der Moral den Kontakt mit der Realität scheut – und beide darum bemüht, sich ihre Hände an der Welt nicht schmutzig zu machen. Die Politik allerdings hat zumindest in den großen Fragen etwas mit einer Schillerschen Tragödie gemein. Für die Folgen des Handelns ist man nämlich in ähnlicher Weise verantwortlich wie für die Folgen des Nicht-Handelns. Politik macht wie das ganze Leben letztlich immer „unschuldig schuldig“ (Friedrich Schiller). Allerdings muss man das aushalten können.

Das mit dem Aushaltenkönnen ist in der deutschen Politik aber schon seit geraumer Zeit nicht mehr ganz einfach. Es ist dabei gar kein Widerspruch, von der universalen Gültigkeit der Menschenrechte überzeugt zu sein und zugleich, aufgrund realer Umstände, deren Durchsetzung nicht immer für möglich, manchmal sogar nicht einmal für sinnvoll zu halten. Eine solche Sichtweise ist nichts anderes als ein wertebasierter außenpolitischer Realismus. Aber er tut mitunter weh.

Fischers „Zonen der Ordnungslosigkeit“

Man muss daher Krah durchaus Recht geben, dass auch die deutsche Politik in Afghanistan stets mehr wollte als „bloß“ die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. Das bestätigte am 11. Oktober 2001 vor dem Deutschen Bundestag der damalige Außenminister Joseph Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) höchstselbst. Mit Blick auf die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten kündigte er „den Entwurf einer Friedenspolitik im 21. Jahrhundert“ an und dies bedeutete für ihn nichts anderes, als „eine Weltordnung zu schaffen, die Zonen der Ordnungslosigkeit oder gar, wie es in weiten Teilen der Fall ist, des völligen politischen Ordnungsverlustes nicht mehr zulässt.“ „Zonen der Ordnungslosigkeit“ – man kann das kaum anders als so verstehen, dass es sich um eben jene Räume der Welt handelt, die nicht der westlichen Interpretation von Demokratie und Menschenrechten entsprechen.

Über 20 Jahre versuchte sich der Westen in Afghanistan am Aufbau elementarer staatlicher Organe (vor allem Armee und Polizei) und der Entwicklung demokratischer Strukturen und muss sich nun eingestehen, dass die westliche Zivilisation auf kulturellen Überzeugungen und Praktiken beruht, die über hunderte von Jahren entwickelt wurden und ohne die Demokratie und Rechtsstaat nicht funktionieren können. Genau das meinte Ernst-Wolfgang Böckenförde einst mit dem Satz, dass der „freiheitliche, säkularisierte Staat“ von Voraussetzungen lebe, „die er selbst nicht garantieren kann.“

Menschenrechte nur für 20 Prozent wichtig

Dabei zeigte schon eine Untersuchung des „National Center for Policy Research“ der Universität Kabul aus dem Jahr 2004 im Umfeld der Verfassungsreform, dass die kulturelle Basis für Demokratie und Menschenrechte in der afghanischen Bevölkerung dünn gesät ist. Die Menschenrechte waren für nur knapp 20 Prozent der Befragten wichtig, die Gleichstellung von Mann und Frau für nur rund 25 Prozent, aber einen „wohlwollenden Diktator“ fanden fast 60 Prozent der Befragten keine ganz schlechte Idee.

Unter solchen kulturellen Bedingungen bestehen für die westliche politische Kultur denkbar schlechte Überlebensbedingungen. Die deutsche Außenpolitik der jüngeren Vergangenheit erinnert daher auf bizarre Weise an das längst vergangene Zeitalter von Imperialismus und Kolonialismus. Standen seinerzeit wirtschaftliche Expansion und Unterwerfung fremder Territorien im Zentrum, geht es heute um die schulmeisterliche Belehrung der Welt durch den Westen.

Man muss dabei nicht wie Maximilian Krah das Kind mit dem Bade ausschütten und die universale Gültigkeit der Menschenrechte suspendieren. Es reicht völlig hin, seinen politischen Werten treu zu bleiben und zugleich auf weltpolitische Anmaßung zu verzichten. Oder wie der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering einmal treffend sagte: „Es reicht nicht, Recht zu haben. Man muss auch Recht bekommen.“

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