Abgeordnetenwahl - „Eine Aushöhlung des Demokratieprinzips“

Bei der Wahl am 26. September in Berlin kam es zu erheblichen Pannen. Marcel Luthe (Freie Wähler) hat deswegen einen Eilantrag eingereicht, mit dem die Konstituierung des Landesparlaments untersagt werden sollte. Der Verfassungsgerichtshof hat den Antrag nun abgelehnt – im Interview erklärt der Politiker, warum er zur Not bis vor den Europäischen Gerichtshof ziehen würde

Marcel Luthe will sich weiter für die Interessen seiner Wähler einsetzen. / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Herr Luthe, der Verfassungsgerichtshof hat den Eilantrag abgelehnt, mit dem Sie die Konstituierung des Landesparlaments untersagen lassen wollten. Am Donnerstag tritt das Berliner Abgeordnetenhaus wie geplant zusammen. War`s das jetzt für Sie?

Nicht im Mindesten. Ich habe bereits wenige Stunden, nachdem der Beschluss eingegangen ist, eine Anhörungsrüge erhoben – was die meist notwendige Vorstufe zu einer Verfassungsbeschwerde ist. Letztlich haben wir in dieser Frage insgesamt drei Instanzen vor uns: den Berliner Verfassungsgerichtshof, der als Wahlprüfgericht agiert, das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof.

So weit würden Sie gehen?

Auf jeden Fall. Der Europäische Gerichtshof ist zuständig für die Frage, ob Unionsrecht eingehalten wird, insbesondere die Grundrechtecharta der Europäischen Union, die das Demokratieprinzip hochhält. Wenn man auch dort der Auffassung  ist, dass sich ein Parlament konstituieren kann, obwohl massive Zweifel bestehen, ob es nach den Grundsätzen des Art. 20 Abs. 2 GG besteht, die das Bundesverfassungsgericht in seiner ständigen Rechtsprechung ausgelegt hat, dann ist das eine interessante Erkenntnis, mit der ich werde leben müssen. Allerdings würde diese Entscheidung zu interessanten Verwerfungen führen.

Wofür rügen Sie das Gericht?

Dass es sich mit dem Kern des Einspruchs nicht auseinandergesetzt hat – wie man anhand der Begründung ja schon sehen kann.

Der Verfassungsgerichtshof stützt seine Entscheidung auf die Berliner Verfassung. Demnach hat das neugewählte Abgeordnetenhaus spätestens sechs Wochen nach der Wahl zusammenzutreten – auch, wenn Rechtsverstöße bei der Wahl vorgebracht werden. Einwände gegen die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses seien im Wahlprüfungsverfahren vorzubringen. Erst wenn dieses abgeschlossen sei, könnte eine Wiederholungswahl stattfinden, um festgestellte Fehler zu beheben. Warum sollten Ihre Argumente triftiger als die Rechtslage sein?

Stellen Sie sich mal vor: Die Landeswahlleitung verkündet ein völlig absurdes Ergebnis, 98 % der Stimmen für irgendwelche Extremisten. Aufgrund dieses verkündeten Ergebnisses setzt sich ein Verfassungsorgan zusammen, ohne dass wirksam überprüft werden kann, ob das, was der Landeswahlleiter mitteilt, auch tatsächlich der Wählerwille ist. Dazu sagt der Verfassungsgerichtshof, hier könne man nichts machen, das sei dann eben erstmal so, bis man in Ruhe geprüft hat. Das heißt, in der Zwischenzeit entschiede ein Parlament, das gar keine demokratische Legitimation hat, über Staatsverträge und Verfassungsänderungen! Das Argument des Gerichtshofs ist ein klassischer Zirkelschluss, denn um eine Frist in Gang zu setzen, in der ein neu gewähltes Parlament sich konstituieren muss, braucht es erst einmal die Feststellung, dass das Parlament tatsächlich gewählt worden ist. Aber nicht alles, was eine Wahl genannt wird, erfüllt die Anforderungen der Artikel 28 und 38 des Grundgesetzes. In einem solchen Fall muss das Gericht nur prüfen, ob ein größerer Schaden durch Erlass oder Verweigerung der Einstweiligen Regelung entsteht – und das hat es offenbar nicht.

Als jemand, der sich mit der Rechtslage auskennt: Haben Sie nicht damit gerechnet, dass der Gerichtshof sich auf die Landesverfassung stützen würde?

Nein, das ist auch absolut absurd, weil dieses Argument nichts mit der Frage zu tun hat, ob es sich um ordnungsgemäße Wahlen handelt oder nicht. Wenn man sich mit dem Hintergrund von Art. 54 Abs. 5 der Verfassung von Berlin beschäftigt, dann sieht man, dass es nicht heißt, dass ein wie auch immer gewähltes Parlament unbedingt innerhalb einer gewissen Zeit Bestandskraft erhalten soll. Sondern dass es eine Regelung ist, die auf die Zeit zurückgeht, in der es theoretisch in der Bundesrepublik eine parlamentslose Zeit hätte geben können, bis zur Reform des Grundgesetzes 1976. Diese Norm hat also überhaupt nichts mit der Frage zu tun, ob ein Parlament ordnungsgemäß gewählt ist oder nicht.

Wie erklären Sie sich, dass Ihre Ansicht und die des Gerichts so auseinanderklaffen?

Es ist ist nicht meine Aufgabe, Gerichtsschelte zu betreiben.

Aber Sie würden gerne?

Nein, ich bin schlichtweg nicht dafür zuständig, zu beurteilen, ob das Gericht die Verfassungsnormen richtig angewendet hat oder nicht. Dafür sind die Verfassungsgerichte zuständig.

Wie gesagt, am Donnerstag tritt das Abgeordnetenhaus zusammen. Das werden Sie in der kurzen Zeit doch nicht mehr verhindern können.

Das werden wir sehen. Über die Anhörungsrüge ist, wie in jedem einstweiligen Verfügungsverfahren, unverzüglich zu entscheiden. Und wenn darüber nicht rechtzeitig entschieden wird, dann werde ich eben das Bundesverfassungsgericht anrufen.

Was würde es bedeuten, wenn Ihr Anliegen von allen Instanzen abgelehnt wird?

Ich hielte das für eine absolute Aushöhlung des Demokratieprinzips. Die Kernaufgabe aller staatlichen Gewalt ist es, diese Demokratie zu schützen. Dazu gehört auch, dass es einen wirksamen Rechtsschutz geben muss, der vor dem schützt, was ich gerade als hypothetisches Horrorszenario ausgemalt habe. Es ist eine ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass nur solche Wahlen demokratische Legitimation im Sinne von Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes haben, die ohne Verletzung der Integrität der Willensbildung des Volkes erfolgt sind. Das ist hier ganz offensichtlich aus einer Vielzahl von Gründen nicht der Fall. Sogar die ehemalige Landeswahlleiterin hat gesagt, dass es gute Gründe für Zweifel an der Rechtmäßigkeit gibt. Auch der SPD-Innensenator hat sich endlich ähnlich geäußert. Also selbst diejenigen, die von der missglückten Wahl profitiert haben, sind der Auffassung, dass das alles nicht richtig ist.

Sie sind Mitglied des bisherigen Abgeordnetenhauses. Nach dem amtlichen Ergebnis der Wahl gehören sie dem neu gewählten Abgeordnetenhaus nicht mehr an. Inwiefern treibt Ihre persönliche Betroffenheit Sie an?

Überhaupt nicht. Auch wenn meine Partei zehn Prozent der Stimmen zugerechnet bekommen hätte, hätte ich die Wahl nicht akzeptiert. Selbst das wäre durchaus möglich gewesen, wenn ich mir angucke, wie es an allen Stellen komische Überraschungen bei den Nachzählungen gegeben hat. Da hatten Parteien in einzelnen Wahllokalen plötzlich 100 Stimmen weniger und andere 50 mehr. Das halte ich für völlig inakzeptabel. Und selbst wenn man mich direkt zum Regierenden Bürgermeister gewählt hätte – wenn die Wahl nicht demokratisch abläuft, fehlt die Legitimation. Das kann nicht im Sinne irgendeines Demokraten sein!

Wie geht es für Sie politisch weiter, wenn Sie nicht mehr im Abgeordnetenhaus sind?

Parlamentarisch geht es für mich dann erstmal gar nicht weiter. Aber das kann ich Ihnen gegenwärtig nicht genau sagen. Ich bin vor fünf Jahren wegen einer Sachfrage ins Parlament eingezogen, nämlich wegen des von mir initiierten Verfahrens zum Erhalt des Flughafens Tegel. In diesen fünf Jahren habe ich sehr viel darüber gelernt, wie Kollegen parlamentarisch mit solchen Verfahren umgehen. Diese Erkenntnisse habe ich in meinem Buch „Sanierungsfall Berlin“ niedergeschrieben. Und aktuell betreibe ich einen Volksentscheid zu den notwendigen Entschädigungen für die Corona-Verordnungen. Ich habe den Menschen, deren Interessen ich in den letzten fünf Jahren vertreten habe, das Angebot gemacht, diese Arbeit fortzusetzen.

Stichwort Sanierungsfall Berlin. Inwiefern ist die missglückte Wahl berlinspezifisch?

Sehr stark. Berlin hat ein massives Problem der inneren Führung der Verwaltung. Es herrscht eine gefährliche Mischung aus Laissez-faire und planvoller Absicht. Der Untertitel meines Buches lautet „unsere Hauptstadt zwischen Missmanagement und Organisierter Kriminalität“. Ich glaube, dass diese Betrachtungen sich durchaus auf die Situation am 26. September übertragen lassen.

Was halten Sie von Franziska Giffey als Bürgermeisterin?

Jede Regierung, an der Franziska Giffey beteiligt ist, kann nichts werden.

Warum?

Na, Frau Doktor Giffey, reden wir von der?

Ja.

Wenn man sich mit dem Wirken von Frau Giffey etwa in Neukölln beschäftigt, wird schnell deutlich, dass sich alles in Ankündigungen erschöpft, die Umsetzung aber eher mangelhaft ist. Wenn man alleine ihr Wirken als Schatzmeisterin der SPD in Neukölln betrachtet, kann man nur sagen: Das ist sicher etwas, was in Zukunft nicht nur Historiker interessieren wird.

Das Gespräch führte Ulrich Thiele.

 

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