Chaos bei der Abgeordnetenhauswahl in Berlin - „Wähler haben die Polizei gerufen, weil sie nicht reinkamen“

Weil es in einigen Berliner Wahllokalen nicht genug Stimmzettel gab, konnten etliche Bürger nicht wählen. Einer von ihnen ist Winfried Schneider. Was er an diesem Tag erlebt hat, klingt grotesk.

Schlange stehen für ein Kreuz: Nicht jeder Berliner konnte am Sonntag seine Stimmen abgeben / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Winfried Schneider, 90, ist gebürtiger Berliner. Der Diplom-Ingenieur gehört zu den Bürgern, die am Sonntag nicht wählen konnten, weil es nicht genug Stimmzettel für alle gab. 

Herr Schneider, in Berlin und im Bund hat die SPD die Wahl mit knappem Vorsprung vor den Grünen, bzw. vor der CDU gewonnen. Viele haben diesen Sieg gefeiert. Sie auch? 

Weniger. Ich hatte eine andere Präferenz, aber das ist jetzt egal. Ich konnte ja nicht wählen. Ich habe drei Anläufe unternommen. Ich bin jedesmal nicht reingekommen ins Wahllokal in Charlottenburg-Wilmersdorf. 

Darf ich fragen, wem Sie Ihre Stimme gegeben hätten?

Ich hatte geschwankt zwischen FDP und CDU. Die sind beide dagegen, dass sich der Staat weiter verschuldet. Aber ich glaube, ich hätte meine Stimme der CDU gegeben. 

Haben Sie schon immer CDU gewählt? 

Im Großen und Ganzen ja, aber nicht immer. Es ist auch ein bisschen personenbezogen. Viele Leute sagen, sie würden ihre Entscheidung von den Wahlprogrammen abhängig machen. Aber das stimmt gar nicht. Wer liest denn heute noch Wahlprogramme? Das ist doch viel zu langweilig. Wahlen sind immer personenbezogen heutzutage. 

Das heißt, Sie haben auch schon Helmut Kohl und Angela Merkel gewählt?

Sicher, ich bin ja schon ein alter Knopp. 

Dieses Jahr war eine besondere Wahl. Nach 16 Jahren geht die Ära Merkel zu Ende. Welche Note geben Sie der Kanzlerin? 

Also, in Außenpolitik kriegt sie eine Eins. Nicht umsonst hat der Economist sie mal „Miss World“ genannt, na ja. In Innenpolitik kriegt sie von mir aber nur eine zwei plus. Das hat alles zu lange gedauert. Viel ist auch aufgeschoben worden.  

Sie klingen wie ein glühender Merkel-Verehrer. Wie enttäuscht waren Sie, dass Sie am Sonntag nicht über Ihre Nachfolger abstimmen konnten? 

Ich bin maßlos enttäuscht. Ich verstehe nicht, warum der Bezirk das nicht geschafft hat, dass jeder seine Stimme abgeben konnte. Die Wahlleitung weiß doch ganz genau, wie viele Wahlberechtigte es in einem Bezirk gibt. Und wenn der Wahlleiter schon um acht Uhr feststellt, dass es eng wird, müsste er sich doch eigentlich melden. Aber offenbar hat das keiner getan. Das ist wieder ein gutes Beispiel für unsere Bürokratie: Wenn es keine Wahlzettel mehr gibt, kann man eben nicht wählen. 

Dass man in Berlin für diesen Wahlgang mehr Zeit benötigen würde, war bekannt. Gewählt wurden nicht nur der Bundestag und das Abgeordnetenhaus, sondern auch noch die Bezirksverordneten-Versammlungen. Dazu kam der Volksentscheidung zur Enteignung großer Wohnungsbaufirmen. Warum haben Sie nicht sicherheitshalber Unterlagen für die Briefwahl bestellt?

Weil ich zu faul war. Ich sag es ganz offen. Ich wohne genau gegenüber vom Wahllokal. Ich dachte, das geht schneller. 

Aber das war ein Irrtum?

So ist es. Das erste Mal habe ich es um elf Uhr versucht. Da war alles dicht. Es waren mindestens sechs oder sieben Polizisten da und zwei Polizistinnen. Die waren sehr nett. Und die haben mir gesagt, dass die Wahlzettel ausgegangen sind. Ach, du lieber Gott. 

Aber wozu war die Polizei da? 

Das Wahllokal war verschlossen. Es kam keiner mehr rein oder raus. Die Polizei wurde gerufen von Wählern, die wählen gehen wollten – und nicht reinkamen. Es waren ungefähr 35, 40 Personen, die da draußen standen. 

Wie war die Stimmung? Wütend?

Nee, die waren ganz friedlich. Die haben nix zerschlagen oder zerdeppert. Die dachten, irgendwie wird es ja gleich weitergehen. Aber es ist nichts passiert. Und dann ist einer nach dem anderen wieder gegangen. Da standen zwei Damen in meinem Alter, die haben eine Viertelstunde gewartet. Dann haben sie gesagt: „Ach, das wird nüscht.“ Dann waren sie weg. 

Aber Sie sind wiedergekommen?

Genau, ich habe von meinem Fenster aus die Schlange beobachtet. Um 14 Uhr bin ich ein zweites Mal runtergegangen. Und wissen Sie, bis wohin die Schlange da schon reichte? Bis zur Bundesallee, also das sind ungefähr 130 Meter. Aber auch diese Schlange hat sich plötzlich in Luft aufgelöst. Die sind alle wieder weggegangen. 

Nach Hause? 

Das weiß ich nicht. Um 17.30 Uhr habe ich mir auf Arte ein Tschaikowsky-Konzert angehört. Das ging bis 18 Uhr. Dann habe ich mir die Schuhe angezogen und bin ein drittes Mal runter. Da war die Schlange nur noch fünf, vielleicht zehn Meter lang. 

Und warum sind Sie wieder nicht reingekommen?

Eine junge Wahlhelferin fragte: „Wollen Sie Ihre Stimme abgeben?“ „Ja, sicher.“ „Das geht nicht mehr.“ „Warum nicht?“ „Der letzte Besucher vor Ihnen ist um 18 Uhr gekommen. Und um 18 Uhr schließen wir offiziell. Sie kommen nicht mehr rein.“ Ich habe dann gesagt, ich will den Wahlleiter sprechen. 

Hat der nicht ein Auge zugedrückt? 

Doch, er wollte alle Wartenden reinlassen, aber die Wahlhelferin hat gesagt: „NEEEIIIIN!.“ 

Haben Sie ihr nicht gesagt, dass Sie schon zweimal da waren?

Doch, ich habe gesagt: Was kann ich dafür, wenn das Wahllokal zwischendurch zwei Stunden schließen musste, weil keine Wahlzettel da waren. Da müssen die doch abends länger öffnen, damit jeder seine Stimme abgeben kann. Und wissen Sie, ich kann nicht mehr so lange in einer Schlange stehen. Ich bin keine 18 mehr. Ich hab ein Problem im linken Knie. Aber das hat keinen interessiert. Die hat mich regelrecht weggejagt. 

Um 18 Uhr wurden die ersten Prognosen bekanntgegeben. Nach dem Gesetz dürfen danach keine Stimmen mehr abgegeben werden, weil die Prognosen die Entscheidungen beeinflussen könnten. 

Na, hörense mal! Dieses erste Ergebnis ist doch immer ungenau. Wer orientiert sich denn daran? Das ist doch Unsinn. 

Sie sind 90 Jahre alt. Ist Ihnen schon einmal passiert, dass Sie Ihre Stimmen nicht mehr abgeben konnten, weil es zu voll war?

Noch nie. 

Es gibt Leute, die sagen, so etwas könne nur in Berlin passieren. Das Land sei ein „failed state“. Teilen Sie den Eindruck?

Wenn man das Chaos um den neuen Flughafen Revue passieren lässt, muss man sagen: Ja. 

Was läuft denn sonst noch nicht rund in Berlin?

Na ja, die Bürokratie ist immer mehr geworden. Sehen Sie, das ist auch so ein Wahlversprechen, was die Parteien schon vor 20 Jahren gegeben haben: Die Bürokratie muss abgebaut werden. Passiert aber nüscht. Wird immer noch schlimmer.   

Wie soll es denn jetzt weitergehen? Wollen Sie die Wahl anfechten? 

Ach, um Gottes Willen. Dabei habe ich gehört, dass mein Wahllokal nicht das einzige war, dem die Unterlagen gefehlt haben

In einem Wahllokal wurden auch Stimmzettel für die Bezirksverordnetenwahl vertauscht. 

(lacht) Da könnse mal sehen. Ich habe die Geschichte meiner Schwester erzählt, die seit der Wende in Erfurt lebt. Die hat gesagt, man kann gegen die DDR sagen, was man will. Aber so etwas wäre dort nicht passiert. Die hätten eher zu viel Wahlscheine in die Urnen geworfen als zu wenig. 

Laut dem Verfassungsgericht muss eine Wahl wiederholt werden, wenn die Fehler „erheblich“ waren. Nach Ihrer Erzählung war die Lage im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf 3 dramatisch. 

Würde ich sagen. Aber ich kann das nicht mit Sicherhejt beurteilen. Ich habe ja nicht die ganze Zeit am Fenster gesessen. 

Der Bezirk ist seit 2001 fest in der Hand der SPD-Abgeordneten Ülker Radizwill. Ihre Stimme für die CDU hätte an dem Sieg der SPD auch nichts verändert. 

Nee, gar nüscht. 

Was müsste die Stadt Berlin tun, um Sie wieder mit der Politik zu versöhnen?  

Ach, ich bin ja eigentlich mit der Politik versöhnt. Aber dass ein Wahllokal wegen fehlender Unterlagen geschlossen wurde, das hat mich echt geärgert. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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