Zahl der Abgeordneten im Bundestag - Da schaukelt sich was hoch

Möglicherweise wird Deutschland am Sonntag nicht nur den größten Bundestag seiner Geschichte wählen, sondern sich auch auf Neuwahlen vorbereiten müssen. Das Bundeswahlgesetz sieht 598 Abgeordnete vor, doch ist mit mehr als 800 zu rechnen. Das Bundesverfassungsgericht wird das umstrittene Gesetz wohl einkassieren – wieder einmal.

Blick in eine Sitzung des Deutschen Bundestages / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Am 26. September 2021 wird nicht nur darüber entschieden, welche Parteien in welcher Stärke in den Bundestag einziehen. Aus dem Wahlergebnis ergibt sich auch, wie viele Abgeordnete das Parlament überhaupt haben wird. Nach Expertenmeinung könnten es mehr als 800 sein. Das Bundeswahlgesetz hingegen sieht eigentlich nur 598 vor. Das könnte letztlich sogar zu Neuwahlen führen.

Das Problem entstünde dann nicht, wenn in Deutschland, wie es in anderen Demokratien durchaus üblich ist, ausschließlich Wahlkreiskandidaten zur Wahl stünden – und nicht auch Parteien selbst. Das Bundeswahlgesetz sieht aber vor, dass Deutschland in 299 Wahlkreise eingeteilt ist, aus denen 299 direkt gewählte Abgeordnete hervorgehen. Diese werden mit der Erststimme gewählt.

Eigentlich sollten es nur 598 Abgeordnete sein

Mit der Zweitstimme wiederum wählt jeder Wähler eine der jeweiligen Parteien, über deren Kandidatenlisten weitere 299 Abgeordnete in den Bundestag einziehen. Eigentlich besteht der Bundestag somit aus 598 Abgeordneten. Aber nur eigentlich. Während dieser Zielwert in der Legislatur 2002-2005 mit 603 Abgeordneten noch annähernd erreicht wurde, explodierte die Zahl der Mandatsträger im aktuellen Bundestag auf 709.

Der Grund hierfür ist einfach zu erklären: Es entsteht immer dann ein Problem, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erringt, als der Partei Abgeordnete nach ihrem Zweitstimmenergebnis eigentlich zustehen. Für die Bundestagswahl wird in Mecklenburg-Vorpommern derzeit zum Beispiel prognostiziert, dass die SPD mehr als 80 Prozent der Wahlkreise gewinnen könnte, obwohl sie bei den Zweitstimmen nur 25 Prozent erreicht. In einem solchen Fall entstehen sogenannte Überhangmandate, die die Gesamtzahl der Abgeordneten erhöhen.

Illegitime Mehrheitsverhältnisse

Allerdings führen Überhangmandate zu einem handfesten demokratietheoretischen Problem: Erlangt eine Partei durch Überhangmandate mehr Mandate, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, verschieben sich illegitimerweise die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag. Im Jahre 2012 hat das Bundesverfassungsgericht das deutsche Wahlrecht daher auch für verfassungswidrig erklärt.

Die Lösung sollte die Wahlrechtsänderung des Jahres 2013 bringen. Der unberechtigte Vorteil durch Überhangmandate sollte dadurch ausgeglichen werden, dass die anderen Parteien so viele Ausgleichsmandate erhalten, bis die Zusammensetzung des Bundestages wieder dem Zweitstimmenergebnis der Parteien entspricht. Und so schaukeln sich die Effekte aus Überhang- und Ausgleichsmandaten immer weiter hoch, und der Bundestag wird immer größer.

Um das zu verhindern, wurde das Bundeswahlgesetz im Jahre 2020 erneut geändert. Das durch das Gesetz beschriebene Verfahren ist aber derart kompliziert, dass nur noch wenige Experten überhaupt wissen, wie es tatsächlich funktioniert. Dass eine Mehrheit der Bundestagsabgeordneten seinerzeit verstanden hat, welches Gesetz da auf den Weg gebracht wurde, darf getrost bezweifelt werden.

Namhafte Experten haben vor dem Deutschen Bundestag das nunmehr geltende Wahlgesetz nach allen Regeln der Kunst zerpflückt. Für Sophie Schönberger von der Universität Düsseldorf ist völlig klar, dass der Gesetzesentwurf „an mehreren Stellen massiven verfassungsrechtlichen Bedenken“ begegnet. Neben verfassungsrechtlichen Problemen sind allerdings die Wirkungen des Gesetzes auf die Zahl der Mandate besonders problematisch.

Ziel komplett verfehlt

Eigentlich sollte die Wahlrechtsänderung des Jahres 2020 ja dafür sorgen, dass die Zahl der gewählten Abgeordneten künftig zumindest in der Nähe von 598 liegt. Folgt man Joachim Behnke von der Zeppelin Universität in Friedrichshafen wird das Ziel nicht nur nicht erreicht, sondern komplett verfehlt. Für ihn ist das derzeit gültige Gesetz als „auf ganzer Linie als gescheitert“ anzusehen. Um dieses harsche Urteil zu belegen, hat Behnke insgesamt 4.000 Simulationsrechnungen für Wahlergebnisse rund um das Wahlergebnis 2017 und aktuelle Umfragen aus dem Jahr 2020 durchgeführt. Das Ergebnis ist niederschmetternd: In mehr als 80 Prozent der Fälle würde demnach die Zahl der Mandate sogar größer und nicht kleiner als 709 sein.

Vor diesem Hintergrund kann man sich die Frage stellen, ob das Bundeswahlgesetz – inhaltlich betrachtet – überhaupt noch die Bezeichnung „Gesetz“ verdient. Ein Gesetz erfüllt zwei Funktionen. Erstens soll die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten individueller Willkür entzogen werden. Gesetze stellen daher allgemeine Regeln auf, die für alle Bürger gleichermaßen gelten. Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz ist einer der entscheidenden Kerne des Rechtsstaatssystems. Und zweitens muss, um dieses Ziel erreichen zu können, die aufgestellte Regel aber tatsächlich allgemein sein, das heißt, eine deutliche Mehrheit von gleichartigen Lebenssachverhalten muss durch sie erfasst werden.

Beim gültigen Wahlrecht hingegen ist es genau umgekehrt: Das eigentliche Ziel, die Zahl der Abgeordneten auf eine Zahl in der Nähe von 598 zu begrenzen, wird nur in wenigen der simulierten Fälle erreicht. Weniger als 660 Abgeordnete entstehen in nicht einmal zwei Prozent der Fälle.

Wundersame Mandatsvermehrung

Tatsächlich ist das strukturelle Problem des deutschen Wahlrechts, dass es inhaltlich aus der Zeit zweier echter Volksparteien stammt, die stets das Rennen unter sich ausmachten. Je mehr Parteien allerdings dem Bundestag angehören und je näher die Wahlergebnisse der Parteien beieinander liegen, desto größer wird das Problem der wundersamen Mandatsvermehrung.

Seit dem Jahr 2020 ist nun aber einige Zeit vergangen. Die Umfrageergebnisse haben sich deutlich verändert – und damit helfen auch Behnkes damalige Simulationen nicht, um abzuschätzen, welche Folgen die Bundestagswahl für die Anzahl der Abgeordneten haben könnte. In Wahrheit macht das die Lage aber schlimmer und nicht besser.

Thema fürs Bundesverfassungsgericht

Behnke ist sich nämlich sicher, dass die Zahl der Mandate angesichts der aktuellen Situation vor allem durch die CSU bestimmt werden wird. Derzeit sieht es danach aus, dass die CSU zwar nur auf ein Zweitstimmenergebnis von rund 30 Prozent kommt, aber dennoch fast alle oder im Extremfall sogar alle der 46 Wahlkreise in Bayern gewinnen könnte. Wäre das der Fall, würde der Bundestag bis auf eine Größe von ungefähr 850 Abgeordneten anwachsen. Behnke jedenfalls hält es für „sehr wahrscheinlich“, dass die Zahl der Abgeordneten des nächsten Bundestages „irgendwo zwischen 750 und 850“ liegen wird. Und käme es so, hätte die Wahlrechtsänderung zum genauen Gegenteil dessen geführt, wozu sie offiziell gedacht war.

Die Gesetzesänderung hatte seinerzeit für erhebliche Diskussionen gesorgt. Es gelang nicht, eine parteiübergreifende Lösung zu finden. Die Fraktionen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linken zogen daher auch vor das Bundesverfassungsgericht. Die Opposition wirft den Regierungsfraktionen vor, mit dem Gesetz gegen den Grundsatz des Bestimmtheitsgebotes verstoßen zu haben. Man muss dem Gesetz also genau entnehmen können, was es eigentlich wie regeln will. Das sei nicht an allen Stellen der Fall. Zudem stelle das Bundeswahlgesetz eine „Verletzung der Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien“ dar.

Zweifel an „Verständlichkeit“ des Gesetzestextes

Zwar hat das Bundesverfassungsgericht am 20. Juli 2021 den Eilantrag der Opposition abgelehnt, aber nur in ausdrücklicher Abwägung praktischer Konsequenzen. Im Hauptsacheverfahren ist noch keine Entscheidung ergangen. Ausdrücklich weist das Bundesverfassungsgericht darauf hin, dass infolge des Hauptsacheverfahrens auch „gegebenenfalls die Anordnung einer Neuwahl in Betracht käme“. Hierzu trägt auch bei, dass es Zweifel an der „Klarheit und Verständlichkeit“ des Gesetzestextes gibt. Das wiegt bei Wahlgesetzen besonders schwer: Immerhin haben die Bürger ein Recht darauf, verstehen zu können, wie unsere Demokratie funktioniert.

Möglicherweise wird Deutschland am 26. September daher nicht nur den größten Bundestag seiner Geschichte wählen, sondern sich sogar auf Neuwahlen vorbereiten müssen. Was jedoch sicher sein dürfte, ist, dass das Bundesverfassungsgericht das geltende Bundeswahlgesetz einkassieren wird – wieder einmal.

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