Migration - Illusionen eines Einwanderungslands

Manche Probleme lassen sich nicht schnell lösen. Das Dilemma der Migration gehört dazu. Auch wenn linke und rechte Polemik uns etwas anderes vormachen: Ein Wundermittel gibt es nicht. Trotzdem darf man nicht aufhören, an einer Lösung zu arbeiten

Flüchtlinge in Spanien: Migrationswellen hat und wird es immer geben / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Zu den Zumutungen der liberalen Demokratie gehört es, dass ein Terrorprozess 56 Millionen Euro kostet. Steineschmeißer können nicht einfach aus ihrer Wohnung geschmissen werden, zumindest nicht, solange sie ihre Miete zahlen. Zu den Zumutungen, welche die liberale Demokratie ihren Bürgern abverlangt, gehört auch, dass ein Terrorverdächtiger, den die Bild-Zeitung „Leibwächter Bin Ladens“ nennt, der sich an den Rechtsstaat wendet, ohne rechtsgültige Abschiebeverfügung nicht einfach außer Landes geschafft werden dürfte. Wer dagegen einen „kurzen Prozess“ fordert und sich dabei sogar auf ein wie auch immer ermitteltes gesundes Volksempfinden beruft, der stellt den Rechtsstaat und die liberale Demokratie in Frage.

Zu den Zumutungen der Demokratie zählt auch, dass es gesellschaftliche Probleme gibt, die sich nicht mit einem Handstreich oder ein paar schnellen gesetzlichen Maßnahmen aus der Welt schaffen lassen. Auch nicht mit einem Masterplan, völlig egal, ob dieser am Ende 62 oder 63 Punkte umfasst. Es gibt in jeder Gesellschaft Probleme, Herausforderungen und Konflikte, mit denen man irgendwie umgehen muss, die die Politik aber nicht lösen kann. Das Migrationsproblem gehört sicherlich dazu. Ohne Zweifel muss die Migration nach Deutschland und nach Europa eingedämmt, begrenzt und gesteuert werden. Die Sicherung der Außengrenzen gehört genauso dazu, wie effektive Verfahren und die konsequente Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern. Es steht außer Zweifel, dass Fluchtursachen bekämpft werden müssen und dass zugleich Korridore und Kontingente für die Einwanderung nach Europa da sind. Und natürlich müssen die Bürger in einer Demokratie über die Bedingungen der Aufnahme von Migranten in einem demokratischen Prozess mitbestimmen können, auch über deren Grenzen.

Migrationsproblem ist Migrationsdilemma

Aber zur ganzen Wahrheit gehört auch: Migrationswellen hat es in der Vergangenheit gegeben und wird es weiter geben. Gerade in einer vernetzten und globalisierten Welt werden in Asien, Afrika, Lateinamerika oder auch Osteuropa immer wieder Menschen in den reichen Westen aufbrechen. Aus welchen Motiven auch immer, seien es Kriege, Umweltkatastrophen, politische Unterdrückung, Abenteuerlust oder die Suche nach einem wirtschaftlich besseren Leben. Oft wird es ein Mix aus mehreren Motiven sein. Mauern führen deshalb nicht dazu, dass sie sich davon abhalten lassen, sondern nur dazu, dass der Preis der Schleuser steigt. Wege ins Gelobte Land gibt es unendlich viele. Wer hingegen Zäune bauen will, die tatsächlich niemand mehr überwinden kann, muss dafür einen ziemlich hohen Preis zahlen: die Freiheit. Schließlich setzt totale Sicherheit totale Abschottung und totale Überwachung voraus.

So ist das Migrationsproblem letztendlich ein Migrationsdilemma und eine der ganz großen Zumutungen, welche die liberale westliche Demokratie bereithält und bei der es nur eine Gewissheit gibt: Nämlich die, dass es keine Gewissheiten gibt, keine einfachen Antworten, keine schnellen Lösungen. Die Politik kann immer nur auf neue Entwicklungen reagieren. Migrationspolitik ist zudem permanentes Trial und Error, permanentes Durchwursteln. Also muss die Politik handeln, wohl wissend, dass jede Maßnahme auch an ihre Grenzen stößt.  

Die Migrationsdebatte in Deutschland jedoch krankt daran, dass sie am linken und am rechten Rand von weltanschaulichen Versprechen und von populistischer Polemik dominiert wird, die in ihrer Konsequenz die westliche Demokratie gefährden. Jedes realpolitische Durchwursteln, jede unvermeidlich nicht ausreichende Maßnahme gerät so politisch unter Legitimationsdruck durch linke und rechte Ideologen.

Migration als Frage der Moral

Auf der einen Seite stehen diejenigen, für die das Migrationsdilemma vor allem ein moralisches ist. Dem Dilemma, nicht alle Not, alle globalen Ungerechtigkeiten und ökonomischen Interdependenzen auf einen Schlag beseitigen zu können, versucht ein Teil der Linken dadurch zu entgehen, dass sie offene Grenzen einschließlich einer Fährverbindung über das Mittelmeer fordern, damit sich jeder selber helfen kann. Der Asylantrag ist für sie eine Eintrittskarte. Eine Differenzierung nach Fluchtursachen wird genauso abgelehnt wie Abschiebungen und jeder Gedanke an Obergrenzen. Obwohl es evident ist, dass die Aufnahmefähigkeit jedes Landes irgendwo an ihre Grenzen stößt, spätestens dann, wenn jährlich mehrere Millionen Menschen nach Europa drängen würden. Es sei denn, man betrachtet die weltweite Migration als großes neoliberales Experiment, bei dem jeder seine Arbeitskraft überall auf der Welt unter Inkaufnahme von Lohndumping feilbieten kann.

Manche Arbeitgeber würden da vielleicht sogar frohlocken. Nur den Sozialstaat als Basis für gesellschaftliche Solidarität und politische Stabilität müsste man dann wohl abschreiben. Aber allein der Hinweis darauf, dass die Lasten einer unregulierten und unbegrenzten Zuwanderung auf dem Wohnungsmarkt, auf dem Arbeitsmarkt und in den Schulen vor allem die kleinen Leute, die sozial Schwachen und die Arbeitnehmerin prekären Arbeitsverhältnissen tragen, darunter vor allem Migranten, die schon länger in Deutschland leben, wird von Linken als unzulässig abgetan und mit dem Hinweis gekontert, Geld sei doch genügend vorhanden, man müsse es nur von oben nach unten umverteilen.

Migranten werden politisch instrumentalisiert

Zum moralischen Rigorismus gesellt sich also eine vulgäre Kapitalismuskritik, die für alle Probleme der Einwanderergesellschaft und der Welt überhaupt das Kapital und den Kolonialismus, die Ausbeutung von Arbeitskräften im sogenannten Trikont und imperiale Rohstoffkriege verantwortlich macht. Letztendlich kann einem also der Verdacht kommen, dass die moralischen Argumente lediglich Teil einer Kampagne sind, in der es um grundsätzlich andere politische Vorstellungen geht. Es geht ihnen um die Überwindung des Kapitalismus sowie der liberalen und sozialen westlichen Demokratie. Die Migranten werden für diese innenpolitische Debatte instrumentalisiert.

Einerseits ist der moralische Horizont mancher linker politischen Aktivisten dabei sehr begrenzt. In den vergangenen Wochen zum Beispiel entspannte sich eine öffentliche Debatte um die Frage der Legitimität privater Seenotrettung im Mittelmeer. Fast alle Schiffe, die zuletzt im Mittelmeer unterwegs waren, hatten neben der moralischen Agenda auch eine politische. Die lautet: offene Grenzen. Um keinen Zweifel aufkommen zulassen: Natürlich müssen Menschen vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet werden, das ist eine moralische conditio sine qua non, ohne diese würde Europa sich und die europäische Idee aufgeben. Aber schon die Frage, ob Menschen mit der Rettung das unbedingte Recht zur Einreise nach Europa erwerben, ist keine moralische, sondern eine politische. Da ist Widerspruch erlaubt, sind im Rahmen des Migrationsdilemmas auch andere Antworten möglich. Auch das Asylrecht gehört im Übrigen zur europäischen Idee, aber nur eines, das mit kurzen, effektiven Verfahren dem kleinen Kreis der tatsächlich politisch Verfolgten hilft und nicht eines, dass mit langen Verfahren und ewigen Klagewegen die Hoffnung vieler Migranten nährt, auf dem Umweg über das Asylverfahren und einem schier endlosen Aufenthalt in engen Flüchtlingsunterkünften am Ende nach Deutschland einwandern zu können.

Linker Zynismus

Andererseits ereignen sich die größten humanitären Katastrophen der Welt derzeit nicht auf dem Mittelmeer, sondern zum Beispiel in Bangladesch, im Südsudan sowie in den gigantischen Flüchtlingslagern im Norden Kenias, in den syrischen Städten, die vom Assad-Regime bombardiert werden, oder auch in der Sahara, wo zur Zeit vermutlich mehr Migranten verdursten als im Mittelmeer ertrinken. Dort Leben zu retten, wo sterbende Menschen nicht im Kameralicht stehen, überlassen die moralisch-politischen Aktivisten gerne Hilfsorganisationen, die mit wenig Geld und großem persönlichen Engagement die größte Not zu lindern versuchen.

Manchmal wird man deshalb nicht den zynischen Verdacht los, dass sich der eine oder andere linke Aktivist für die Not eines Migranten erst dann interessiert, wenn dieser in Nordafrika oder der Türkei in ein Schlauchboot gestiegen ist und so unmittelbar vor den Toren Europas seine Bereitschaft demonstriert hat, sein Leben zu riskieren. Wirft dagegen jemand die Frage auf, ob es nicht überlegenswert wäre, zumindest einen Teil der vielen Milliarden, die die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in Deutschland kostet, darauf zu verwenden, möglichst vielen Kriegsflüchtlingen oder Katastrophenopfern vor Ort zu unterstützen und vor allem solchen, die sich die teure Flucht über das Mittelmeer nicht leisten können, gilt man bereits als mitschuldig am Tod durch Ertrinken.

Die Hilfsbereitschaft der Rechten endet am Grenzzaun

Hier kommt dann die ideologisierte Rechte ins Spiel. Das Argument, man könne vor Ort mit weniger Geld mehr Menschen erreichen, wird dort zwar gerne aufgegriffen, aber nicht wirklich ernst genommen. Denn spätestens, wenn das Geld im Bundeshaushalt für Flüchtlings- oder Entwicklungshilfe zum Beispiel in Afrika bereitgestellt werden soll, ist das nationalistische Geschrei groß. Ein paar Brosamen wäre man vielleicht bereit zur Verfügung zu stellen, damit „die Neger“ in Afrika nicht verhungern. Aber nicht jenen zweistelligen Milliardenbetrag, den Entwicklungsminister Gerd Müller in die wirtschaftliche Entwicklung, politische Stabilität und Fluchtprävention in Afrika investieren will. Auch auf Handelsprivilegien oder Lebensmittelsubventionen zu Lasten Afrikas wollen sie nicht verzichten. Da spottet man lieber über „den deutschen Drang zur Weltrettung“ und die „Fernstenliebe“. Nächstenliebe gibt hingegen gibt es nur bis zum nächsten Grenzzaun, einen moralischen Kompass außerhalb der eigenen vier Wände gar nicht mehr. Noch nicht mal Griechenland will man helfen, sondern nur noch sich selbst.

Die Antwort der Rechten auf das Migrationsdilemma heißt Abschottung, Renationalisierung sowie Rückbesinnung auf eine konstruierte deutsche Identität und eine historisch ziemlich fragwürdige christlich-abendländische Tradition. Bleiben darf nur, wer sich dieser unterwirft, wobei der Kreis derjenigen Migranten, die per se für nicht integrationswillig und auch nicht integrationsfähig erklärt wird, sehr weit definiert wird. Muslime gehören dazu und auch Afrikaner. Chinesen und Pakistani vermutlich nur deshalb nicht, weil sie bislang nicht in großer Zahl nach Deutschland kommen.

So wie es auf der politischen Linken die Neigung verbreitet ist, den Kapitalismus für alle Probleme der Welt verantwortlich zu machen, so sind für die Rechten die Flüchtlinge Schuld an allem, was in diesem Land schief läuft. Sogar für die Niederlagen beim Fußball. Auf welche absurden Pfade die Identitätsdebatte der ideologisierten Rechten mittlerweile abgeglitten ist, zeigte sich in Rechten Foren rund um die Fußball-Weltmeisterschaft. Da wurde ersthaft angezweifelt, ob man angesichts der vielen Migranten überhaupt von einer französischen Nationalmannschaft sprechen könne. Selbstredend hätten die Özils, Khediras und Gündogans in der deutschen Nationalmannschaft überhaupt nichts zu suchen, auch wenn sie alle drei in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Die Russen hingegen wurden gefeiert, Kroatien zum wahren Weltmeister erkoren, weil beide Mannschaften ohne Zuwanderer ausgekommen sind.

Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft

Wie kaum ein anderes Land der Welt ist Deutschland jedoch ökonomisch von freiem Handel abhängig und wie kaum eine andere Weltregion profitiert Europa von globaler Arbeitsteilung. Wer da glaubt, gegen die Zumutungen der globalisierten Welt sein Heil in einer ethnisch und kulturell homogenen Gesellschaft suchen zu müssen, auch der spielt nicht nur mit dessen ökonomischer Basis, sondern vor allem auch mit dem Fundament der liberalen Demokratie.

Fragmentierte Identitäten und gespaltene Loyalitäten, kulturelle und religiöse Vielfalt sind konstitutiv für Einwanderergesellschaften. Und Deutschland ist zweifelsohne eine Einwanderergesellschaft. Integration von Migranten, kulturellen Zusammenhalt und Akzeptanz rechtsstaatlicher Regeln erreicht man nur, wenn dies alles als Teil eines weiten gesellschaftlichen Konsenses akzeptiert wird. Homogenität hingehen lässt sich nur mit Repression und der Aufgabe gesellschaftlicher Liberalität erzwingen.

Ein Einwanderungsgesetz löst das Dilemma nicht

Zum Königsweg aus dem Migrationsdilemma und gegen den Druck linker und rechter Ideologen haben die etablierten Parteien die Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes erkoren. So notwendig dieses ist, trügt doch auch hier die Hoffnung, dieses würde tatsächlich aus diesem Dilemma befreien. Einerseits werden mit einem Einwanderungsgesetz von links und rechts ganz unterschiedliche Erwartungen verknüpft. Hier ist es die Fortsetzung der Politik der offenen Grenzen ohne Umweg über das Asylrecht, dort ist es ein Gesetz zur Verhinderung von Zuwanderung beziehungsweise zur ethnisch, kulturellen Selektion.

Doch auch aus der etablierten Politik wird ein Einwanderungsgesetz zugleich mit allerlei Erwartungen aufgeladen. Die Wirtschaft braucht dieses im weltweiten Kampf der Industrieländer um Experten und Fachleute. Zudem sollen Einwanderer den Pflegenotstand lindern und den Arbeitskräftemangel in Landwirtschaft, Gastronomie und Handwerk beheben. Das Demografieproblem, dass die Renten der kommenden Generationen gefährdet, sollen sie außerdem lösen. Wirtschaftsforscher gehen davon aus, dass dafür bis zu 500.000 Einwanderer pro Jahr in Deutschland nötig sein werden.

Wundermittel gibt es nicht

Und schon öffnet sich im Migrationsdilemma eine neue Front. Schließlich kommen nicht nur Arbeitskräfte nach Deutschland, sondern Menschen, womöglich ganze Familien, die ganz selbstverständlich ihre eigene kulturelle Identität und Religion mitbringen. Vor allem Fachkräfte, die auch von Kanada, Australien oder Großbritannien umworben werden, erwarten eine offene Einwanderungsgesellschaft, um nicht zu sagen eine Willkommenskultur. Auf der anderen Seite lähmt das die wirtschaftliche Entwicklung in den Heimatländern, wenn permanent gut ausgebildete Fachkräfte abgeworben werden. Ein solcher Braindrain wirft diese Länder ökonomisch wieder zurück, was wiederum schwer kontrollierbare Migrationsströme fördert.

Auch ein Einwanderungsgesetz befreit die liberale Demokratie also nicht von einer ihrer größten Zumutungen. Es kann vielleicht Vorurteile abbauen, kultureller Heterogenität zu mehr Akzeptanz verhelfen, Integration fördern. Aber es kann das Migrationsdilemma nicht lösen. Es hilft der Politik nicht, sich vom ideologischen Druck von Links und Rechts zu befreien. Es gilt für ein Einwanderungsgesetz vielmehr dasselbe wie für jede andere repressive oder integrative Maßnahme der Migrationspolitik. Man muss es machen, man muss es versuchen. Man darf aber nicht so tun, als gäbe es ein Wundermittel.

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