Eckhard Jesse über den Aufstieg der AfD - „Ein Rücktritt Merkels wäre Triumph und Rückschlag zugleich“

Laut Umfragen liegt die AfD derzeit vor der SPD. Obwohl sie ihre Themen längst nicht mehr allein besetzt, schaffen es die etablierten Parteien nicht, die AfD einzuhegen. Warum? Antworten von Politikwissenschaftler Eckhard Jesse

Auf Merkel „eingeschossen“: Alice Weidel und Alexander Gauland im Deutschen Bundestag / picture alliance
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Tobias Maydl ist Student und freier Journalist.

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Herr Jesse, als Wahl- und Parteienforscher haben Sie sich intensiv mit der AfD beschäftigt. Laut einer aktuellen Umfrage verzeichnet die Partei mit 17,5 Prozent ein Allzeit-Hoch. Ist die AfD auf dem Weg zu einer neuen Volkspartei?
Die AfD ist vor allem eine Protestpartei, keine Volkspartei. Sie versucht unterschiedliche Strömungen zu integrieren, auch wenn die Partei, freilich in höchst unterschiedlichem Ausmaße, Stimmen von Parteien unterschiedlicher Richtung abzieht. Sie profitiert von deren Versäumnissen. Im Übrigen: Das Ergebnis einer Umfrage ist nicht das Ergebnis einer Wahl. Wer auf kurzatmige demoskopische Bestandsaufnahmen fixiert ist, kann sein blaues Wunder erleben. Die Fluktuation der Wählerschaft ist beträchtlich.

Dennoch rangiert die AfD offenbar vor der SPD. Wie erklären Sie sich die Stärke der AfD?
Das jetzige Stimmungshoch ist sehr stark dem irrationalen Streit zwischen CDU und CSU geschuldet und auch dem zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer. Da ist ein Scherbenhaufen entstanden. Die leidigen Querelen um Seehofers Masterplan haben der Union geschadet. Mancher Anhänger Seehofers in der Sache ist von seinem Stil angewidert und votiert für die AfD. Zum anderen nützt der AfD generell die Existenz der Großen Koalition, die ja immer sagt, die „Großen“ seien eine Art geschlossener „Block“.

Der Eindruck eines „geschlossenen Blocks“ bei der Flüchtlingspolitik ab 2015 hat dann zu einer „Repräsentationslücke“ geführt, welche die AfD füllen konnte. Gegen mehr Flüchtlinge und offene Grenzen ist jetzt aber auch die CSU. Wieso kann sie kein politisches Kapital daraus schlagen?
Die AfD vertritt noch immer Positionen, die andere Parteien in dieser Schärfe so nicht repräsentieren. Vielen Bürgern widerstrebt der Kurs Seehofers und Söders, weil der Eindruck von Wahlkampftaktik entsteht: Es werde geredet, aber nicht gehandelt. Allerdings: Dass die AfD für die Landtagswahl in Bayern keinen Spitzenkandidaten aufgestellt hat, dürfte ihr im Wahlkampf schaden. Die Personalisierung der Politik ist nämlich weit fortgeschritten.

Hat die CSU also die falsche Strategie gegen die AfD?
Die Strategie ist wenig konsequent. Auf der einen Seite beschimpft die CSU die AfD, sie sei radikal und „unbayerisch“. Auf der anderen Seite greift sie Forderungen dieser Partei auf, um die Stimmen der Wähler flugs zurückzugewinnen, die bei der Bundestagswahl für die AfD votiert haben. Das passt irgendwie nicht recht zusammen. Und die AfD kontert: „Die AfD hält, was die CSU verspricht.“ Man wird sehen, ob das am 14. Oktober verfängt.

Eckhard Jesse / picture alliance

Die AfD fällt anders als ihre politischen Konkurrenten jedoch immer wieder durch ihre rassistischen und hetzenden Aussagen auf. Wäre sie noch erfolgreicher, wenn sie diese unterließe?
Provokationen und Tabubrüche sind bei der AfD an der Tagesordnung, teils geplant, teils unkalkuliert. Dadurch erregt sie große Aufmerksamkeit, weil ihr wütende Kritik entgegenschlägt. Gegenwärtig schneidet die AfD am besten dort ab, wo sie radikaler auftritt, im Osten nämlich. Protest wirkt. Auf Dauer aber dürfte ihr damit nicht gedient sein. Das schreckt die potenzielle Anhängerschaft wohl ab, zumal der Partei dann auch seriöse Leute weitaus weniger beitreten als bei einem gemäßigten Auftreten.

Sie schreiben, nicht alle würden die AfD nur aus Protest wählen. Ein Drittel der Wähler auch aus Überzeugung. Auf die Bundestagswahl 2017 angewandt wären das ca. 2 Millionen Menschen. Was heißt das konkret: Was sind die Überzeugungen dieser 2 Millionen?
Die AfD ist zwar jetzt noch im Wesentlichen ein Protestpartei, aber sie hat es immerhin in fünf Jahren geschafft, eine gewissen Stamm für sich gewonnen zu haben. Viele der Wähler sehnen sich nach der „alten“ Union zurück. Die AfD ist, wie immer man zu ihr stehen mag, keine „Eintagsfliege“. Die Erfahrungen in anderen Ländern mit rechtspopulistischen Parteien sprechen Bände.

Die AfD ging als Professoren-Partei an den Start, jetzt gilt sie manchen hingegen als die neue Arbeiterpartei. Haben die Arbeiter in Deutschland eine neue politische Heimat gefunden?
Die AfD profitierte bei der Bundestagswahl 2017 neben den Nichtwählern außerdem stark von bisherigen Wählern kleinerer Parteien, ferner von bisherigen Wählern dreier Konkurrenten: der Union (fast eine Million), der SPD (fast eine halbe Million), der Partei Die Linke (400.000). Von ihnen konnte sie insgesamt knapp zwei Millionen Wähler dazugewinnen. Die Zahl bisheriger Wähler der Grünen und der Liberalen ist nicht erwähnenswert, weil das Wohlstandsmilieu beider Parteien ein ganz anderes ist. Auf den ersten Blick muss überraschen, dass Die Linke derart viele Stimmen an die AfD abgegeben hat. Da Die Linke im Kern die Flüchtlingspolitik Angela Merkels unterstützt hat, ist ein Teil ihrer Wähler aus Unzufriedenheit mit der „Willkommenskultur“ Angela Merkels und ihrer Partei zur AfD gegangen. Außerdem gilt Die Linke mittlerweile, jedenfalls im Osten des Landes, als eine etablierte Kraft, so dass bisherige linke Protestwähler ein neue Heimstatt bei der rechten Protestpartei gefunden haben. Die Zahl der Arbeiter und der Arbeitslosen ist bei der AfD etwas überrepräsentiert. Allerdings trifft die Kennzeichnung als „Arbeiterpartei“ für die AfD insofern nicht zu, als sie in vielen Schichten beheimatet ist, am wenigsten bei den Gutbetuchten.

Am wenigsten bei Gutbetuchten also, am meisten jedoch bei Ostdeutschen. Diese haben für die AfD bei der Bundestagswahl 2017 mehr als doppelt so häufig gestimmt wie die Wähler im Westen. Wie erklären Sie sich diese enormen Unterschiede zwischen den neuen und alten Bundesländern?
Bei der Bundestagswahl 2017 wählten 21,9 Prozent der Ostdeutschen die AfD, aber „nur“ 10,7 Prozent der Westdeutschen. Die Hauptgründe für diese Diskrepanz sind: Zum einen ist in den neuen Bundesländern die nationale Identität stärker ausgeprägt, das Verständnis für grüne Minderheitsthemen geringer. Zum anderen ist hier der Prozentsatz der sozial schwächeren Schichten stärker. Und was der AfD auch zugute kommt: Im Osten ist die Bindung an eine Partei ohnehin nicht so stark, sodass Proteststimmen stärker durchschlagen.

Sehen Sie in den Unterschieden der politischen Kultur ein Problem für den politischen Zusammenhalt Deutschlands?
Das muss kein Manko sein. „Der Osten“ setzt stärker auf Gleichheit, „der Westen“ stärker auf Freiheit. Während hier stärker eine Konfliktkultur besteht, dominiert im Osten eher eine Konsenskultur. Aber diese Differenzen gefährden ganz und gar nicht das Zusammenwachsen der Menschen in Ost und West. Schließlich gibt es zwischen dem Norden und dem Süden des Landes auch Unterschiede, etwa im Wahlverhalten. In Deutschland gibt es, im Gegensatz etwa zu Belgien, Großbritannien, Italien und Spanien, keine Sezessionsbestrebungen. Selbst der schärfste Kritiker will nicht die Einheit des Landes rückgängig machen.

Viele werfen der AfD vor, sie hätte außer ihrer Kritik an der Migrationspolitik nichts zu bieten. Stimmt das?
Hatte die AfD in ihrer Anfangszeit die Eurokrise in den Vordergrund gerückt, so ist es jetzt die Migrationspolitik. Ansonsten befürwortet die Partei Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild – sie wendet sich als Anti-68er-Partei gegen die Positionen der Grünen. Und in einigen wichtigen Fragen hat sie noch nicht Farbe bekannt. Das gilt etwa für die Rentenpolitik. So ist sie nicht einig darüber, ob sie eher auf Leistungsträger setzen oder stärker Sozialpopulismus propagieren soll. Ostdeutsche Vertreter stehen eher für diese Richtung. Auch in der Außenpolitik laviert sie, wenngleich hier eine insgesamt positive Haltung zum autoritären Russland überwiegt.

Die AfD kontert gerne damit, das Volk würde in Deutschland unterdrückt von einem „Meinungsregime“. Alexander Gauland nennt es „DDR light“. Was ist dran an dieser These?
Wer „DDR light“ sagt, weiß nicht, was eine Diktatur ist. Aber in der Tat gibt es bei bestimmten Themen einen gewissen Konformitätsdruck. Wer hier liberal-konservative Positionen einnimmt, muss gewissen Mut haben. „Meinungsdiktatur“ ist jedoch etwas anders. Eine weniger stickige Debattenkultur könnte zu mehr Offenheit beitragen und die AfD schwächen. Political Correctness nützt keiner Seite etwas.

Ein Gutteil der Kritik scheint sich auch gegen die Kanzlerin zu richten, was in der Forderung kulminiert: „Merkel muss weg“. Wie ist Merkel zu einer Hassfigur geworden?
Die Partei hat sich in der Tat auf Merkel „eingeschossen“. Die Aussage „Merkel muss weg“ ist eine Aussage, die zum legitimen politischen Meinungskampf gehört. Schließlich wird der Bundeskanzlerin vorgeworfen, in der Flüchtlingspolitik versagt und einsame Entscheidungen getroffen zu haben. Allerdings verbietet es sich, und dieses Diktum kommt auch aus den Reihen der AfD, sie als „Kanzlerdiktatorin“ zu bezeichnen. Im Kern aber ist der Hauptgegner nicht die Union, sondern die Partei der Grünen. Die AfD ist eine Art späte Reaktion auf die Programmatik dieser Partei.

Laut AfD scheint Merkel für diese „grüne Programmatik“ also zu stehen. Wäre ein Rücktritt Merkels strategisch nicht eine Katastrophe für die AfD?
Sollte Angela Merkel zurücktreten, so wäre dies für die AfD beides: ein Triumph und ein Rückschlag. Triumph deshalb, weil sie dann sagen kann, zu diesem Ergebnis durch harte Kritik beigetragen zu haben. Das zeige ihren Einfluss auch ohne Regierungsamt. Rückschlag deshalb, weil ihr so das Feindbild Merkel fehlt. Wahrscheinlich ist für die AfD ein Weiterregieren Merkels besser. Schließlich liegt es nahe, dass von ihr nach einer Kanzlerschaft von fast 13 Jahren keine innovativen Ideen mehr kommen, zumal sie einer Großen Koalition mit einer angeschlagenen SPD vorsteht und die CSU ihr das Leben eher schwer macht.

Jetzt ist die AfD im Bundestag vertreten. Ist das eine Gefahr für die Demokratie im Lande?
Die parlamentarische Repräsentanz einer solchen Kraft im Parlament ist positiv zu sehen. Gleiches gilt für die Partei Die Linke. Das kann unsere gefestigte Demokratie ertragen. Die Debatten im Parlament werden nicht nur lebendiger, sondern auch rauer. Die anderen Parteien müssen sich mit der AfD kritisch auseinandersetzen, und die AfD muss zeigen, dass sie Lösungsansätze zu bieten hat. Es verbietet sich, diese politische Kraft mit Geschäftsordnungstricks auszugrenzen.

Was müssten die Volksparteien also stattdessen tun, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen?
Sie müssen viel tun, aber nicht die AfD dämonisieren. Die oft abgehobenen Volksparteien, die sich von der Lebenswirklichkeit ihrer Wähler entfernt haben, sind entkernt, ja in einer Krise. Das gilt zumal für die SPD, die mit kosmopolitischen Ideen einen Teil ihrer Wähler an die AfD verloren hat und sich auf die Lösung handfester Probleme im sozialen Bereich konzentrieren muss. Und der Union ist zu raten, wieder eine Partei mit erkennbaren Flügeln zu werden: einem christlichen, einem liberalen, einem sozialen und einem konservativen Flügel. Wer die eigene Politik als alternativlos ansieht, verliert Wähler. Gesundbeterei hilft nicht. Angesichts einer verbreiteten Individualisierung ist es aber unwahrscheinlich, dass Volksparteien zu alter Stärke zurückfinden.

Einen anderen Weg schlug vor kurzem Jürgen Habermas vor. Er forderte von der Politik, die Wähler nicht weiter „normativ zu unterfordern“. Damit will er ein europäisches Bewusstsein fördern entgegen einem angeblichen Trend hin zum Nationalismus. Was halten Sie davon?
Ein europäischer Bundesstaat ist eine Chimäre. Wer Nationalstaaten befürwortet, muss deswegen kein Nationalist sein. Europa muss stark sein – das kann es gerade durch funktionierende Nationalstaaten sein. Krieg ist zwischen den Staaten der Europäischen Union nicht denkbar. Das ist ein riesiger Fortschritt gegenüber vergangenen Zeiten. Wer allerdings einen europäischen Bundesstaat zu forcieren sucht, fördert indirekt Nationalismus.

Sie schreiben, dass unser Parteiensystem in Deutschland durch die Bundestagswahl 2017 „europäisiert“ wurde. Das heißt vor allem, dass rechte Parteien jetzt auch im Parlament sitzen. Was erwartet uns konkret in den nächsten Jahren?
Durch die Last der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945 gab es in diesem Land lange keine größere Kraft rechts der Union. Dieser deutsche Sonderweg ist nun wohl vorbei. Deutschland, erwachsen geworden, kann eine solche Kraft nicht mehr unter Quarantäne halten. In den nächsten Jahren erwartet uns keine Koalition mit der AfD. Sie ist weder regierungswillig noch regierungsfähig. Aber in einem Jahrzehnt dürfte dies anders aussehen, wenngleich dies heute geleugnet wird. Was sich auf dem linken Spektrum mit den Grünen Anfang der 1980er und mit der PDS Anfang der 1990er Jahre vollzogen hat, wiederholt sich nun mit der AfD. Eine Anti-System-Partei ist allerdings zum Scheitern verurteilt.

Eckhard Jesse ist emeritierter Politikwissenschaftler an der TU Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Feld der Extremismus-, Wahl- und Parteienforschung. Auch mit dem Aufstieg der AfD hat sich Jesse intensiv beschäftigt.

 

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