Chance der AfD-Erziehung verspielt - Es läuft hinaus auf harte Konfrontation

Die Union hat in den ersten Jahren der AfD die Möglichkeit einer zukunftsfesten Reaktion auf deren Herausforderung nicht genutzt. Eine fatale Rolle spielte aber auch die Fünf-Prozent-Hürde bei der Bundestagswahl 2013.

Beschmiertes Wahlplakat der AfD im August 2013 in Hamburg
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Wahlabend des 22. September 2013, demnächst zehn Jahre her. Ein schicksalhafter Tag für die deutsche Politik, wie sich bald zeigen sollte, und das nicht nur, weil die FDP mit 4,8 Prozent der Stimmen erstmals seit Gründung der Bundesrepublik aus dem Bundestag flog. Gleichzeitig verfehlte die erst fünf Monate zuvor gegründete Alternative für Deutschland den Einzug in eben diesen Bundestag mit 4,7 Prozent nur knapp.

Im Thomas-Dehler-Haus der FDP herrschte Untergangsstimmung. 700 Meter südlich im Hotel Maritim pro Arte an der Dorotheenstraße, wohin die AfD zur Wahlparty geladen hatte, war die Laune zwar nicht euphorisch, aber durchaus freundlich bis hoffnungsfroh, auch wenn der erste Anlauf die Neuen noch nicht zum Ziel geführt hatte. Direkt nach der Gründung um ein Haar ins Hohe Haus – das war für die anderen schon ein echter Gong. Doch er wurde falsch gedeutet. Eine erwachsene, kluge, vor allen Dingen zukunftsfeste Reaktion auf das Phänomen „AfD“ ist der Union bis heute nicht eingefallen.

Trauer um eine verpasste Chance

Was wäre geschehen, hätten beide Parteien an jenem Tag die Fünf-Prozent-Hürde wenigstens knapp überwunden? Angela Merkel hätte ihre Koalition mit den deutlich geschwächten Liberalen selbstverständlich fortgesetzt, was im September 2015 die schlimmsten Fehlentscheidungen gerade so verhindert hätte. Stattdessen verpasste sie Guido Westerwelle und den Seinen zum Abschied noch einen Tritt und machte mit der SPD Halbe-Halbe, die es ihr mit der Ernennung zur virtuellen Ehrenvorsitzenden und zum weltweiten Idol in Sachen Nächstenliebe dankte.

Gleichzeitig hätte die AfD mit einem damals noch passablen Führungspersonal, die radikalen Knallköpfe, Putin-Freunde und Ausländerhasser hatten jedenfalls noch nicht das Sagen, vier Jahre lang in der Opposition Parlamentarismus üben können, anstatt sich als rechte APO zu radikalisieren und ihre als vermeintliche Versager beschimpften Gründungsleute, grundanständige Professoren, systematisch zu vertreiben.

Merkels Erbe – existentielle Bedrohung

Einem cleveren Chef der Unionsfraktion wäre es vielleicht sogar gelungen, die Ex-CDUler aus einer AfD-Bundestagsfraktion nach und nach herauszulösen und in die eigenen Reihen zu holen, vielleicht sogar so viele, dass es genügt hätte, sich von der SPD unabhängig zu machen. Das wiederum hätte CDU und CSU vor jenen haarsträubenden Fehlern und Irrtümern bewahren können, denen sie ihre Reduktion von 2017 um 8,6 Prozentpunkte verdankte, gefolgt vom beispiellosen Absturz 2021 auf 24,1 Prozent, noch hinter eine nicht wirklich satisfaktionsfähige SPD, der sie daraufhin das Kanzleramt überlassen musste.

Die Folgen sind bekannt und noch lange nicht ausgestanden. Frau Merkel hinterließ eine gespaltene, zerrüttete Partei, mehr denn je auf der Suche nach einem funktionierenden Kompass anstelle eines wild je nach Tagesform und Opportunität kreisenden. Gelingt es Friedrich Merz nicht, den Merkel-Flügel und seine Protagonisten ein für allemal zur Räson zu bringen, fällt alles weitere unter das Kapitel DC, Democrazia Christiana. Eine fünfte grüne Partei braucht kein Mensch.

Koalitionspartner statt Konkurrenz

Alternativ folgender Gedanke: Vielleicht hätte sich ein Wolfgang Schäuble gefunden, der geeignete Frauen und Männer der AfD nicht nur identifiziert, sondern zumindest für konstruktiven Parlamentarismus gewinnt und damit auf lange Sicht einen potentiellen Koalitionspartner, und ihnen zur Belohnung für Wohlverhalten nach ein, zwei Jahren einen Platz im Bundestagspräsidium verschafft, so, wie er es 1994 mit Antje Vollmer gemacht hatte, zu Lasten der wütenden SPD übrigens, die für die grüne Theologin einen ihrer beiden Vize-Posten abgeben musste.

Mit der leisen, besonnenen Vollmer als Vorbild und Leitfigur schlossen die Grünen ihren Frieden mit dem Bundestag, Erfüllung einer Voraussetzung, die sie vier Jahre später sogar erstmals in die Bundesregierung bringen sollte. Motto: Benehmt Euch anständig, arbeitet fleißig zu den Inhalten, dann wird das von den Konservativen belohnt und führt in die engsten Zirkel der Macht.

Jedenfalls wäre es im 18. Bundestag schwieriger gewesen, die AfD dauerhaft aus dem Bundestagspräsidium fernzuhalten, als es ab 2017 im 19. wieder und wieder geschah, was das Verhältnis zu den übrigen Fraktionen im Parlament endgültig ruinieren und vergiften und jede da bereits notwendige Resozialisierung illusorisch erscheinen lassen sollte. Daran änderte dann auch die Tatsache nichts mehr, dass Alexander Gauland als Oppositionsführer zwei oder drei der besten Reden dieser Legislaturperiode hielt, womit er seiner Partei 2021 den ungefährdeten Verbleib im Parlament sicherte. Wie dem auch sei: So, wie es die Union ab 2013 mit der AfD machte, war es maximaler Bockmist.

Fatale Fünf-Prozent-Hürde

Das Wahlergebnis von 2013 bedeutete auch insofern eine Zäsur, als es dem Konzept der repräsentativen Demokratie einen herben Schlag versetzte. Von den Qualitätsmedien blieb das bis heute unbeanstandet, weil sie die Ergebnisse goutierten: Gleich zwei in ihren Augen böse Parteien draussen, Guido Westerwelle mit seiner spätrömischen Dekadenz abgemeiert, hahaha, ist doch super gelaufen.

2013 hätte Angela Merkel deshalb mit 41,5 Prozent fast die absolute Mehrheit der Mandate errungen. Das gab es noch nie seit 1949. Helmut Kohl holte 1976 satte 48,6 Prozent der abgegebenen Stimmen und blieb doch in der Opposition, weil die FDP an der Seite der SPD verharrte und die Fünf-Prozent-Klausel lediglich 0,9 Prozent „Sonstige“ in Kasch fallen liess. Die Fünf-Prozent-Klausel blieb in diesem Vier-Parteien-Parlament so gut wie wirkungslos. Das hat sich fundamental geändert.   

Wie man Wählerstimmen ausschaltet

Fast jede sechste Stimme blieb 2013 für die Machtverhältnisse im neuen Bundestag wegen der Fünf-Prozent-Hürde wirkungslos, wobei FDP und AfD nur die prominentesten Fälle darstellen. Die Wahlbeteiligung betrug 71,5 Prozent, aber tatsächlich hatten die Stimmen von weniger als 60 Prozent der Wahlberechtigten Einfluss auf die Sitzverteilung und damit auf die Regierungsbildung. Insgesamt waren 6,6 Millionen Wählerstimmen gültig, aber ohne für Laien erkennbaren Einfluss auf die Sitzverteilung. Wären die Leute zuhause geblieben, wäre das immerhin folgenreicher gewesen.

Wer eine Ursache für schwindende Wahlbeteiligungen sucht, Lieblingsthema der etablierten Parteien für ihre regelmässigen Wählerbeschimpfungen am Montag danach, könnte hier fündig werden. Die jüngste Wahlrechtsreform, mit der SPD, Grüne und FDP die Grundmandatsklausel abschafften und die kümmerlichen Spuren eines Mehrheitswahlrechts vollends tilgten, könnte diese massenhafte Entwertung von Wählervoten potentiell noch bis hin zur Delegitimierung des gesamten Wahlgangs steigern.

Fünf statt vier Jahre: Entmachtung

Der nächste Plan, die Verlängerung der Legislaturperiode von vier auf fünf Jahre, wird den Einfluss des Wahlvolks ohne jeden Skrupel noch einmal verringern. Versager, Enteigner, Verarmer, Deindustrialisierer und Hasardeure muss es noch ein Jahr länger ertragen als ohnehin bereits. Das entspricht einem Machtverlust von 25 Prozent, gemessen an der derzeitigen Legislaturperiode. Demokratisch geht anders. Gleichzeitig ist von Volksabstimmungen, wissend um die vielfach fundamentalen und wöchentlich in allen Umfragen dokumentierten Auffassungsunterschiede zwischen Regierenden und Regierten, schon lange keine Rede mehr.    

So läuft es nun, mit einigen Jahren Verspätung, auf eine vom Wähler brachial erzwungene AfD-Teilhabe an der Macht hinaus, zunächst in den ostdeutschen Ländern, irgendwann, wenn die übrigen Parteien nicht endlich ein Minimum an Vernunft annehmen, auch im Bund. Das Konzept des Containments, des Einhausens mit irgendwelchen höchst einseitigen Brandmauern – von einer Brandmauer nach links ist ja keine Rede mehr – , ist für alle erkennbar an sein Ende gekommen.

Björn Höcke und sein „Wetterleuchten“

Fürwahr idiotische Reaktionen auf eine Landratswahl in Südthüringen, etwa Boykottaufrufe eines MDR-Nachrichtenredakteurs, der seine Verachtung für die eigenen Landsleute nicht mehr unter Kontrolle halten konnte, werden ein übriges tun, Björn Höckes Charakterisierung eines lokalen ostdeutschen Ereignisses als „Wetterleuchten“ spätestens im Herbst 2024 zu bestätigen.

Cicero warnt seit Jahr und Tag vor einer politischen Strategie von Grünen und Linken, nach der jede Position, ja jeder Satz eines AfD-Politikers umgehend auf politische Verwertbarkeit gescannt, archiviert, instrumentalisiert und umgewidmet wird zur No-Go-Area von CDU und CSU – je vernünftiger, ja zwangsläufiger, augenfälliger dieser Satz, und solche gibt es wirklich, desto schneller und zuverlässiger.

 

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Krassestes Beispiel: Jeder nicht völlig ideologisch Verstrahlte hat längst erkannt, dass Angela Merkels von der Antifa übernommene Zuwanderungs-Prinzip der offenen Grenzen „No border, no nation“ (Keine Grenze, keine Nation) heillos gescheitert ist und unser Leben mehr und mehr chaotisiert, wobei die vulnerablen Gruppen, die nicht auf ein eigenes Auto, bessere Schulen und bessere Wohnviertel ausweichen können, Frauen, Mädchen, Juden, Schwule, in den Schulen mehr und mehr Christen und Weiße, am härtesten in Mitleidenschaft gezogen werden, in Berlin vielfach bereits beim Verlassen des Hauses und Nutzung der U-Bahn. Wer kann, zieht weg und flieht der Verwahrlosung und Brutalisierung des öffentlichen Raums und der staatlichen Infrastruktur.

Schlimme Rolle der „Zivilgesellschaft“

Tagesschau an: Messerstecher massakriert in Regionalbahn ahnungslose Bahnpassagiere. Zeitung auf: Polizeibekannter Flüchtling aus Burundi vergewaltigt zehn Jahre altes Mädchen. Internet an: Clans ziehen bundesweit Angehörige zusammen, um Massenschlägereien auszutragen. Wer es wagt, auszusprechen, er wolle solche Leute bei aller Nächstenliebe nicht im Land haben, die nur zu gut begründete Mehrheitsmeinung der Bevölkerung, muss sich unverschämte Belehrungen und „Rassismus“-Vorwürfe irgendwelcher Antidiskriminierungsexpert*innen anhören und sollte besser beruflich nicht mehr viel zu verlieren haben.   

Dieselben Parteien, befeuert von Vertretern der staatlich alimentierten „Zivilgesellschaft“, die für die Verwahrlosung des öffentlichen Raums mit verantwortlich sind und sogar Angriffe auf Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste als hinzunehmende Begleiterscheinung von Buntheit und Toleranz verharmlosen oder ignorieren, stimmen innerhalb von Minuten zuverlässig ein großes und Monate anhaltendes Geschrei an, wenn ein Konservativer einmal seinen ganzen Mut zusammenkratzt und zehn Sekunden lang Klartext redet, wobei die Benennung „kleiner Paschas“ ja noch als verharmlosend, fast liebevoll gelten sollte, weil im Lebensverlauf mit dem Erwachsenwerden korrigierbar.

Ziel: AfD-Alleinstellungsmerkmal

Alles dient nur dem Zweck, den Raum des Sagbaren immer mehr zu begrenzen – stets aber nur nach rechts, niemals nach links. Scheitert dieser Versuch, wie es in Folge einer selbstverschuldeten Schwächung der kulturellen Hegemonie aktuell häufiger vorkommt, ist die Empörung grenzenlos.    

Dass die AfD damit bei immer mehr Themen ein Alleinstellungsmerkmal behält oder sogar erst erringt, wird nicht nur billigend in Kauf genommen. Es ist sogar Absicht, weil es in Ostdeutschland selbst Dauerversager wie SPD und Grüne mit ihren vielerorts nur noch einstelligen Wahlerfolgen an der Macht hält. Normalerweise hätten sie nichts mehr zu melden, weil der Souverän sie dort nicht mehr sehen will, aber er wird sie nicht los, egal, wie er abstimmt.

Wählst CDU, bekommst Ramelow

In Thüringen kann man sogar CDU wählen und behält mit ihrer Unterstützung einen Linken als Ministerpräsidenten. Alles dank der dort besonders kräftigen AfD. Bodo Ramelow behielt so auch ohne parlamentarische Mehrheit seinen Job. Ohne Björn Höcke hätte er schon vor vier Jahren nach Hause gehen können. Ramelow weiss genau, was er an Höcke hat, und pflegt ihn bei allen passenden Gelegenheiten als nützliches Gespenst, wo er nur kann. Es ist eine seltsame Symbiose, aber keiner der beiden schämt sich dafür.

Bewahrung der AfD-Alleinstellungsmerkmale auf Teufel komm ‘raus – ein zynisches, ein perverses Konzept und es wird, wenn die AfD erst stärkste Partei ist, in Thüringen, in Sachsen oder in Brandenburg, vor aller Augen krachend scheitern. Dann hilft nach Meinung von Linken und Grünen und den von ihnen finanzierten Vorfeldorganisationen nur noch ein Verbotsantrag in Karlsruhe.

Doch egal, wie dieser ausgeht, kann die AfD nur gewinnen. Entweder sie bekommt Verfassungskonformität attestiert oder sie löst sich auf, um sich eine Woche später unter anderem Namen, aber mit demselben Personal neu zu gründen und die grösste und erfolgreichste Märtyrer-Nummer aller Zeiten abziehen. Dann wird es endgültig sehr ungemütlich, nicht nur in den Landtagen, sondern auch auf den Straßen.

Karlsruhe als letzter Teufelsaustreiber?

Wenn sich bei einem ausreichenden Anteil der Bevölkerung erst einmal die Überzeugung verfestigt hat, die AfD sei die einzige verbliebene Partei, die unhaltbare Zustände ernsthaft anzugehen bereit ist, dann hilft auch Karlsruhe nicht mehr, zumal die Legitimitätsvermutung, auf die auch ein Bundesverfassungsgericht angewiesen ist, ob es das in seiner gelegentlich durchscheinenden Arroganz und Unfehlbarkeitsattitüde erkennt oder nicht, durch eine Serie fragwürdiger Personal- und Gerichtsentscheidungen ohnehin nicht mehr so stabil ist wie noch vor zehn Jahren. Der Erfolg der AfD korrespondiert eins zu eins mit der Mißachtung des Souveräns und seiner legitimen Interessen durch ihre politischen Gegner.     

Diese in immer kürzeren Abständen wiederkehrende Bürger-Erfahrung der Machtlosigkeit droht in einer heftigen Eruption zu enden. Und solange man nicht im Wahn einer allumfassenden, nicht fakten-, sondern gefühlsbasierten Überlegenheit ein totalitäres Regime anstrebt, ist am Ende der Wähler der Stärkere.

Ist er nicht der Stärkere, ist es noch nicht das Ende.

 

 

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