Die 68er-Revolution und ihre Folgen - Reflexion verpönt, Kritik unerwünscht

Von der 68ern ist außer der Political Correctness wenig übrig geblieben. Statt Debatten über grundlegende Zukunftsfragen zu führen, wird Stillstand mit Scheinaktivitäten kaschiert. Deutschland ist schon mal weiter gewesen

Bye-bye, 68er: Von den Idealen von Fritz Teufel & Co. ist nur noch die Political Correctness übrig geblieben / picture alliance
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Peter Derschka ist Unternehmer, Wirtschaftspublizist und Maler.

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Reinold Rehberger, Jahrgang 1946, studierte von 1965 bis 1969 an der Münchner Hochschule für Politische Wissenschaften und trat im Mai 1968 dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund bei. Er arbeitet als Redakteur u.a. bei der Wirtschaftswoche und und als Freier für manager-magazin.de.

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Die Erinnerung verklärt vieles. Liegen Geschehnisse ein halbes Jahrhundert zurück, mag sich selbst im Gedächtnis kritischer Zeitzeugen längst ein überhöhtes Bild dieser Vorgängen eingebrannt haben. Versuchen wir trotzdem, einen von  nachträglicher Schönfärberei ungetrübten Blick auf die Ideale der damals revoltierenden Jugend zu werfen. Transparenz, Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, Teilhabe sind ja keine Erfindungen der 68er, sondern unverändert aktuelle Werte der Aufklärung. Wichtige Forderungen der Außerparlamentarischen Opposition waren keine sozialromantischen, esoterischen oder totalitären Auswüchse, nein, sie waren notwendig und überfällig. Nachdem die Studenten ihre Verwirklichung vehement eingefordert hatten, verblasste aber die Präsenz großer Ideen in der politischen Auseinandersetzung zusehends.

Zwar existierte nie ein gemeinsamer Ideen-Kanon, dazu war die 68er-Bewegung viel zu heterogen und zu zerstritten. Auch war sie zu rasch wieder von der Bildfläche verschwunden, um ein Programm aufstellen zu können. Aber ihre Kraft lag gerade im Unorganisierten, in der Freiheit des universellen Infragestellens. Ein gemeinsamer Nenner beim vielfältigen Streben nach Gesellschaftsveränderung lässt sich gleichwohl ausmachen – die Ideen und Werte der Aufklärung, insbesondere Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Demokratie, Solidarität, Bildung. Die Achtundsechziger wollten der Vernunft eine Chance geben, indem sie Traditionen und gesellschaftliche Zustände ständiger Kritik aussetzen und die Verbesserung der Lebensverhältnisse nach Maßgabe der Aufklärung zur Daueraufgabe aller Menschen machen wollten.

Vom Weltverbesserern zu Beamten

Ein Abgleich ihrer Ansprüche und Ideale mit der Gegenwart fällt nicht nur für Achtundsechziger ernüchternd aus – nicht, weil die Realität am utopischen Ideal scheitern musste, sondern weil die alten Ideale selbst als vage Zielvorstellung heute keine Rolle mehr spielen. Sie haben einfach keinen Platz in der kleinkarierten Durchwurstelpolitik und in einer entsolidarisierten Gesellschaft. Deren bequeme Unmündigkeit und Politikverdrossenheit lassen der Politik freie Hand. Die einst ersehnte freiheitliche, offenere Gesellschaft scheint weiter entfernt zu sein, als sie es vor 50 Jahren war.

Die Träume von einer sozialen und emanzipatorischen Gesellschaft sind zerplatzt, und die ehemaligen Weltverbesserer haben daran einen gehörigen Anteil. Sie fanden zu einem beträchtlichen Teil Unterschlupf im öffentlichen Dienst. Allenfalls theoretisierten sie als unkündbare Hochschullehrer über die ferne Welt der Werktätigen. Oder sie pflegten, moralisch längst korrumpiert von Karriere, Geld und Macht, nur noch ihre linksintellektuelle Tarnung – bis auch das niemand mehr von ihnen erwartete und die Nachteile eines unangepassten Image allmählich überwogen.

Eine permanente kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen kam nach 1968 niemals mehr in Gang. Sektiererische linke Splittergruppen blieben im Abseits, und die Grünen, die sich immer noch als Nachfolgeorganisation des studentischen Protests sehen, folgten ihrer beamteten Klientel und wurden sehr schnell Teil der von Kartellparteien definierten, machtgeilen und sozial wenig interessierten Mitte, die sich den Staat zur Beute machte.

Political Correctness als Abklatsch

Aus Achtundsechziger Sicht sieht die Abrechnung mit der Gegenwart so aus: Einiges angeschoben, viel zu wenig davon erreicht – bis auf ein wenig mehr Toleranz hinsichtlich sexueller Orientierung oder äußerer Erscheinung vielleicht. Ein armseliger Abklatsch des studentischen Innovationsstrebens findet sich in der selbstgerechten Political Correctness, der zunehmend grotesken Gendersprache oder der hilflosen Frauenquote. Der wesentliche 68er-Impuls, die permanente Revolution, oder bürgerlich moderat ausgedrück: das unermüdliche Ringen auf breiter Basis um Verbesserungen im Zusammenleben, ist heute kein Thema. Parteitage sind nur eine schale Persiflage dieser Vision.

Schleichend hat sich ein Klima der Unfreiheit und Dogmatisierung breit gemacht. Das ist genau das Gegenteil dessen, was die Masse der Achtundsechziger antrieb, von den vielen unbedeutenden K-Gruppen abgesehen. Dieses Klima resultiert aus der Verabsolutierung oberflächlicher Political Correctness und der Dominanz eines grenzwertfixierten Umweltverständnisses. Symptomatisch dafür ist die aktuelle „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung, in der Sozialforscher einem Fünftel der Bevölkerung rechtspopulistische Haltungen unterstellen, obwohl die allermeisten Deutschen nicht ausländerfeindlich, antidemokratisch oder antieuropäisch sind. Die Diffamierung, und diese Erfahrung macht ein in der Schweigespirale gefangener Durchschnittsdeutsche seit Jahren andauernd, speist sich aus dem beckmesserischen, aber politisch korrekten Vorurteil, jede Kritik an asylpolitischen Missständen sei rechtsextrem motiviert.

Vernunft macht Mühe

Vergleichbar undifferenziert und ungerechtfertigt ist die Verteufelung aller Kritiker des Bekenntnisses zu mittlerweile sakrosankten Klimazielen und Grenzwerten. Dass Umweltschutz nur als angewandte Aufklärung funktionieren kann, weil er global eine soziale Aufgabe ist, begreifen Grenzwertfetischisten, Reglementierer und grüne Fanatiker nicht ansatzweise. Expertenhörigkeit (kritisch-distanzierte Experten finden kein Gehör) und ungetrübter Glaube an die umfassende Naturbeherrschung beseelen auch die jugendlichen Klimaschutz-Protestanten. Kaum einer der engagierten Schüler wird stutzig angesichts der beflissenen Zustimmung vonseiten der Politikerkaste und großer Teile der Bevölkerung – muss an einem Protest, den die Adressaten ziemlich unisono prima finden, nicht etwas faul sein?

Migrations- und Umweltprobleme, auf juristische und technische Problemlösungen reduziert und ideologisch abgeschottet gegen kritische Auseinandersetzungen, werden ein Elend bleiben, solange die Vernunftbegabung des Menschen nicht, wie von den Achtundsechzigern gefordert, ständig beansprucht wird. Zwar werden die Leute ihr Umweltbewusstsein immer zur Schau stellen. Aber sie werden trotzdem nicht zum Laden um die Ecke gehen, sondern zehn Kilometer zum Discounter fahren, der ein Produkt für 20 Cent günstiger anbietet – Vernunft hat es schwer, und sie macht Mühe.

Chance zur Teilhabe 

Aber wenn Bürger sich endlich emanzipieren würden von Parteiengeschwätz, Medienmanipulation und Expertenanmaßung, indem sie außerparlamentarisch in unzähligen herrschaftsfreien Diskursen Lösungen erarbeiteten, um Volksvertreter und Behörden unter Druck zu setzen, würden sie ihre persönlichen Verhältnisse verbessern und die gesellschaftliche Situation insgesamt. Selbstbestimmung anstelle ideologischer Bevormundung ist möglich, wenn  spontane Diskurse und ihre Regeln, die Herrschaftsfreiheit ermöglichen, bereits in der Schule geübt werden. Wäre diese Chance zur Teilhabe und Einmischung nicht 50 Jahre lang ungenutzt geblieben, hätten wir heute einige reflektierte Antworten auf wichtige Fragen und weniger Wichtigtuer auf entscheidenden Positionen. Deshalb gilt es, die versäumten Erfahrungen nachzuholen.

Peter Derschka/ Reinold Rehberger, Das haben wir nicht gewollt! Was aus den Idealen der 68er geworden ist – eine Abrechnung mit der Gegenwart. Finanzbuch Verlag, 320 Seiten, 24,99 Euro.

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