30 Jahre Wiedervereinigung - Einheit mit Mängeln ist besser als Teilung

30 Jahre nach der Wiedervereinigung steht die Mauer in einigen Köpfen noch immer. Doch ein vereintes Land mit Problemen ist immer noch die bessere Alternative zum perfekt geteilten Land. Eine Bilanz aus 30 Jahren deutscher Einheit.

Erinnern noch immer an die Teilung: Reste der Grenzmauer in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Das Urteil des britischen Historikers Timothy Garton Ash ist eindeutig: „Es gibt Grund genug zu feiern am 3. Oktober. Diese vereinigte Bundesrepublik ist das beste Deutschland, das wir je hatten.“ Genau so ist es: Die friedliche Revolution von 1989/90, die Erringung der Freiheit für 16 Millionen Deutsche, war eine der großartigsten Leistungen in der deutschen Geschichte. 
Die Bürgerrechtler, die im Herbst 1989 auf die Straßen gegangen sind und das SED-Regime in die Knie gezwungen haben, hatten Mut. Sie wussten nicht, ob der Stasi-Staat kampflos abdanken würde. Aber sie hatten das Glück, dass der Kreml – anders als 1953 – keine Panzer schickte, um die Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei blutig zu verteidigen. Sie hatten das Glück, dass Gorbatschow seine Einflusssphäre nicht um jeden Preis behaupten wollte. Das unterschied die DDR damals von dem, was heute in Belarus vor sich geht. Lukaschenko genießt, was Egon Krenz nicht hatte – die Rückendeckung Moskaus.

1989/90 nutzte Helmut Kohl die Gunst der Stunde. Die Regierung Kohl/Genscher hatte diese Situation nicht herbeigeführt, aber sie erkannte diese einmalige Chance. Denn den Mantel der Geschichte – um dieses Bild aufzugreifen – kann nur ergreifen, wer ihn auch ergreifen will. Die Chance zur Wiedervereinigung nutzen konnte nur, wer dieses Ziel noch nicht aufgegeben hatte. Das bleibt das historische Verdienst des Kanzlers der Einheit. So wie es das historische Verdienst Willy Brandts bleibt, mit der neuen Ostpolitik den Weg von der Konfrontation zur Koexistenz zwischen Ost und West geebnet zu haben.  

Die Mauer in den Köpfen steht teilweise noch

Das Zusammenwachsen des seit vier Jahrzehnten geteilten Landes hatten sich viele im Westen viel einfacher vorgestellt, mich eingeschlossen. Die Vorstellung war, ohne Mauer und ohne SED würden die beiden Deutschlands wieder schnell zusammenwachsen, würde die D-Mark zu einem zweiten Wirtschaftswunder im Osten führen und würden sich die Lebensverhältnisse relativ schnell angleichen. Namhafte Ökonomen waren damals von etwa zehn Jahren ausgegangen. Aber wir hatten nicht erkannt, wie unterschiedlich die Ausgangslagen westlich und östlich der Mauer waren, vor allem, wie sehr sich Ost- und Westdeutsche in Bezug auf ihre Mentalität und ihre Befindlichkeit unterschieden. 

Den meisten Politikern, Managern und auch Journalisten war nicht bewusst, dass die Ostdeutschen durchaus stolz waren auf das, was sie erreicht hatten; dass manche Errungenschaften des real existierenden Sozialismus dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen durchaus entgegenkamen; dass das Leistungsgefälle zwischen der ostdeutschen und der westdeutschen Wirtschaft noch viel größer war, als die Statistiken das angezeigt hatten. Schließlich konnte man sich nicht vorstellen, dass die SED-Kader und ihre Nachfahren nach dem Mauerfall politisch noch so viel Einfluss behalten würden. Ja, die Ostdeutschen waren ein Volk – und wir im Westen auch. Das führte zu vielen Missverständnissen, zu Überheblichkeit in den alten und zu Minderwertigkeitsgefühlen in den neuen Ländern. 

Stolz auf Errungenschaften der DDR

Die DDR war ein Unrechtsstaat. Er musste seine Bevölkerung einsperren, damit sie dem „sozialistischen Paradies“ nicht entfliehen konnte. Aber die Bürger der DDR haben trotz dieser widrigen „Rahmenbedingungen“ versucht, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Sie haben im Vergleich zu Ostblockstaaten wie Polen oder Ungarn ihr eigenes kleines Wirtschaftswunder zustande gebracht. Sie haben im Sport und in manchen wissenschaftlichen Disziplinen Weltniveau erreicht. Dass sie darauf auch nach dem Fall der Mauer weiterhin stolz waren und stolz sind, damit hatten wir im Westen nicht gerechnet.

Die Bürger der DDR genossen keine nennenswerten politischen Freiheiten. Wer seine Religion ausüben wollte, machte sich beim Regime verdächtig. Der Lebensstandard war viel niedriger, die Lebenserwartung deutlich geringer als im Westen. Doch fanden und finden nicht wenige Menschen die Sicherheit eines schlecht bezahlten Arbeitsplatzes verlockender als die Chancen einer Wettbewerbswirtschaft, in der den besonders Tüchtigen ein größeres Stück des Kuchens winkt. Denn das muss man auch sehen: Wenn die Armut mehr oder weniger gleich verteilt ist – von der bevorzugten Nomenklatura mal abgesehen –, dann fühlen sich diejenigen besser, die im Leistungswettbewerb nicht mithalten können oder wollen.  

Misere der DDR-Wirtschaft

Vollbeschäftigung, freie medizinische Versorgung und niedrige Mieten, das waren die viel gerühmten Errungenschaften des real existierenden Sozialismus. Doch die Vollbeschäftigung wurde erkauft durch eine niedrige Produktivität. Und der Zustand vieler Wohnungen war so, dass sie nach westlichen Maßstäben nicht bewohnbar waren. 
Die Misere der DDR-Wirtschaft lässt sich an einigen wenigen Zahlen festmachen: Die Arbeitsproduktivität der DDR lag im Jahr 1988 bei etwa 20 bis 25 Prozent des Westens. Fast die Hälfte der Produktionsanlagen war verschlissen. Und die Devisenreserven der DDR waren so geschrumpft, dass sie 1989 nur noch 35 Prozent ihrer Westimporte und nur noch 35 Prozent ihrer Zins- und Tilgungsleistungen finanzieren konnte. 
In ihrer Not verkaufte die DDR selbst Kunstgegenstände gegen Devisen. Ja, sogar Kopfsteinpflaster wurden herausgerissen und als nostalgischer Straßenbelag im Westen zu Geld gemacht. Mit anderen Worten: Die DDR war pleite. Ohne die Währungsunion im Juli 1990 wäre die DDR zahlungsunfähig gewesen. Deshalb wurde der Wiederaufbau auch so schwierig. 

Privates Glück im Pleitestaat war möglich

Allerdings gab es auch im Unrechtsstaat DDR viele glückliche Menschen. Wer sich damit abgefunden hatte, sich politisch nicht frei äußern zu dürfen, wer seine Religion ohnehin nicht praktizieren wollte, wer nicht darunter litt, nicht ins westliche Ausland reisen zu dürfen, der konnte sein privates Glück durchaus finden und genießen.
Kein Wunder, dass bei den Ostdeutschen im Blick zurück viele positive Erinnerungen sehr präsent sind – an Familie und Freunde, an einen nicht gerade gut bezahlten, aber sicheren Arbeitsplatz, an eine Gesellschaft, in der es weniger Wettbewerb, weniger Ungleichheit und weniger Neid gab, vom Klassenunterschied zwischen der SED-Nomenklatura und den Werktätigen einmal abgesehen. Es ist im Übrigen menschlich, dass wir uns an das Positive besser erinnern als an das Negative. Wir wären alle ein Fall für die Couch, wenn wir alles Schlimme, das uns jemals widerfahren ist, ein Leben lang mit uns herumschleppten. 
Apropos Klassenunterschiede in der DDR: Beim Umtausch der Ost-Mark in die D-Mark mussten alle Konten offengelegt werden. Da stellte sich heraus, dass 10 Prozent der Konteninhaber 60 Prozent des Geldvermögens besaßen. Auch in der DDR waren halt nicht alle gleich. Nur waren die Privilegien dort eher durch die politische Stellung begründet als durch unternehmerische Fähigkeiten. 

Die Systemfrage stellen stets die Unzufriedenen 

Wir haben vom Westen aus nicht erkannt, welch große Anpassungsleistung den Ostdeutschen abverlangt wurde. Die Ostberliner, Leipziger oder Dresdner wurden nach 1989/90 quasi über Nacht zu Einwanderern im eigenen Land. Nichts war mehr wie vorher. Das betraf das Arbeitsleben wie die medizinische Versorgung und nicht zuletzt die staatlich oder betrieblich organisierten Freizeit- und Urlaubsangebote. Betreute Menschen mussten plötzlich selbständig werden, Wettbewerb wurde zu einem tragenden Element des Lebens. 

Offenkundig haben wir nicht geahnt, wie schwer es vielen Menschen fällt, sich von einer Gesellschaft der mehr oder weniger Gleichen auf ein System umzustellen, in dem es nicht immer Arbeit für alle gibt. Ein System, in dem plötzlich große Unterschiede sichtbar werden – zwischen denen, die mehr leisten oder schlichtweg Glück haben, und denen, die weniger leisten, weniger leisten können oder schlichtweg Pech haben. Ein hohes Maß an Unzufriedenheit im Osten dürfte darauf zurückzuführen sein, dass schnell die Systemfrage stellt, wer sich in der Leistungsgesellschaft nicht zurechtfindet. Da erstrahlt dann der graue DDR-Alltag auf einmal in hellem nostalgischem Licht. 
Genau an diese unterschwellige Verbundenheit vieler Menschen mit „ihrer DDR“ appellieren die Gysis und Bartschs, wenn sie die real existierende Unmenschlichkeit des SED-Regimes verharmlosen und die wirtschaftlichen Probleme nicht in erster Linie auf 40 Jahre Planwirtschaft zurückführen, sondern auf den Kapitalismus im Allgemeinen und die Treuhand im Besonderen.

Wiedervereinigung – eine Erfolgsgeschichte 

Der Hinweis auf Schwierigkeiten bei der Vollendung der Einheit besagt nicht, dass die Wiedervereinigung – alles in allem – keine Erfolgsgeschichte wäre. Im Gegenteil. Wer heute durch die neuen Länder fährt, der kann dort unschwer blühende Landschaften erkennen, um eine viel strapazierte Formulierung aufzugreifen. Nein, nicht alles blüht. Und an manchen Stellen muss noch zusätzlich gesät und gedüngt werden. 
Bei allen Vergleichen zwischen den alten und neuen Ländern sollte man sich nicht allein auf wirtschaftliche und soziale Kennziffern stützen. Man muss immer mitdenken, wie es in der ehemaligen DDR heute aussähe, wenn die Modrows die Chance bekommen hätten, mit westdeutschem Geld den Sozialismus zum x-ten Mal neu zu erfinden.  Es gab 1989/1990 ja nicht wenige, die eine neue DDR anstrebten, eine sozialistische DDR mit menschlichem Antlitz. Eine „richtige“ sozialistische DDR als Gegenmodell zur alten, angeblich kapitalistischen BRD, das war der Traum der Linken östlich wie westlich des ehemaligen Todesstreifens. 

Die Gewinner der Einheit

Dazu ist es nicht gekommen. Die Ostdeutschen hatten bei der ersten freien Volkskammer-Wahl im März 1990 die Chance, die Weichen zu stellen. Und sie haben sie gestellt – in Richtung Schwarz-Rot-Gold, nicht in Richtung dunkelrot.
Das Ergebnis ist bekannt: Die Wirtschaftskraft der neuen Länder einschließlich Berlin beträgt 79 % des gesamtdeutschen Durchschnitts. Was für ein Fortschritt gegenüber den etwa 30 % vor dreißig Jahren. Die Ausstattung der Haushalte mit Konsumgütern ist auf westlichem Niveau. Wer jemals mit dem Auto durch die DDR gefahren ist, der wähnt sich heute in einem anderen Land. Das gilt für die Telekommunikation ebenso wie für die soziale Infrastruktur in Bezug auf Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime. Gewinner der Einheit sind auch die Rentner. Der ostdeutsche Rentnerhaushalt bezieht im Durchschnitt eine höhere gesetzliche Rente als der westdeutsche, weil in der DDR mehr Frauen berufstätig waren als in den alten Bundesländern.

Der größte Erfolg: Freiheit für alle

Jenseits aller materiellen Fortschritte ist das Kapitel „Freiheit“ das allerwichtigste in der Erfolgsgeschichte der Wiedervereinigung. Wir haben im Zusammenhang mit Corona erlebt, dass elementare Grundrechte plötzlich eingeschränkt werden: das Recht auf Freizügigkeit, die Versammlungsfreiheit, das Demonstrationsrecht, die Gewerbefreiheit oder die Freiheit von Forschung und Lehre. 
Wenn die DDR-Bürger vor 1989 mit denselben Regelungen konfrontiert worden wären, wie wir alle seit März, hätte sie diese nicht als Einschränkung beklagt, sondern als Freiheitsgewinn begrüßt. Und wenn heute auch in den neuen Ländern gegen Corona-Einschränkungen demonstriert wird, dann ist das – ungeachtet der Qualität mancher Argumente – der Beleg, dass die „Einheit in Freiheit“ Realität geworden ist. 
Natürlich haben wir in Ost und West nicht die gleichen Lebensverhältnisse. Aber die haben wir in der alten Bundesrepublik auch nicht. Den Menschen im Rhein-Main-Gebiet oder in München geht es besser als denen im Ruhrgebiet oder in Bremen. Aber wie sehr der Osten aufholt, zeigt sich daran, dass Sachsen und Brandenburg das Saarland bei der Wirtschaftskraft überholt haben.

Linke und AfD bedienen enttäuschte Ostdeutsche

Eines macht dennoch besorgt: 57 % der Ostdeutschen fühlen sich noch immer als Bürger zweiter Klasse. Die meisten haben verdrängt, wie ihre wirtschaftliche Lage vor dreißig Jahren war – von den eingeschränkten Freiheiten ganz zu schweigen. Viele halten es für ungerecht, dass sie – anders als die Westdeutschen – keine nennenswerten Vermögen aufbauen konnten und auch beim Erben viel schlechter abschneiden. Davon profitieren zwei Parteien, die – mit unterschiedlichen Argumenten – das Minderwertigkeitsgefühl der Ostdeutschen bedienen: die Linke und die AfD.

Bei nüchterner Betrachtung muss man feststellen, dass der Zuspruch zu Demokratie und Rechtsstaat im Osten schwächer ausgeprägt ist als im Westen, dass der Staat und seine Institutionen im Westen mehr respektiert werden als im Osten, dass Fremdenhass und Ausländerfeindlichkeit in den neuen Ländern weiter verbreitet sind als in den alten. 
Darüber zu jammern, hilft nicht weiter. Das muss vielmehr alle demokratischen Kräfte motivieren, denen entschieden entgegenzutreten, die eine andere Republik propagieren, die Demokratie verächtlich machen, den Rechtsstaat verhöhnen, Hass predigen, völkische Parolen verbreiten, antisemitische Hetze betreiben und so den Boden für Gewalttaten vorbereiten. 
Politische Gewalt ist kein ostdeutsches Thema, politische Gewalt ist ein gesamtdeutsches Thema. Und im Kampf dagegen kann es für Demokraten keinen Unterschied geben zwischen rechtsextremistischer und linksextremistischer Gewalt. 

Einheit mit kleinen Mängeln ist besser als Teilung

Das vereinte Deutschland steht 30 Jahre nach dem 3. Oktober 1990 gut da. Wir brauchen Vergleiche mit anderen westlichen Demokratien nicht zu scheuen. Und wenn wir auf die Pandemie und ihre Folgen schauen, kann ich nur sagen: Ich möchte gerade jetzt in keinem anderen Land leben. 
Wir Deutsche neigen bekanntlich dazu, ein halb-gefülltes Glas nicht als halb-voll, sondern stets als halb-leer bezeichnen. Aber der Satz von Willy Brandt, „Deutsche, wir können stolz sein auf dieses Land,“ ist unverändert aktuell. Ein vereintes Land mit Problemen ist immer noch die bessere Alternative als ein perfekt geteiltes Land. Oder anders ausgedrückt: Es ist allemal angenehmer, heute über Probleme unseres vereinten Landes zu sprechen, als vor 30 Jahren über die Sicherheitslage des geteilten Deutschlands.

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