Entscheidungen in Deutschland, Italien und der Schweiz - Die Systemfrage ist zurück

Ob in Italien, der Schweiz oder in Deutschland: Die Ära des absoluten Kompromisses neigt sich dem Ende zu. Das bisher Fraglose wird fraglich. Politik steht unter Rechtfertigungsdruck, stärker denn je

Abstimmungen können echte Veränderungen bringen / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Ihre Autobiographie nannte Hillary Clinton „Entscheidungen“. Spötter behaupten, die erfolglose Gegenspielerin von Donald Trump habe in ihrer Zeit als Außenministerin wenig entschieden, was des Aufschreibens wert wäre. Dieses Wochenende ist nun tatsächlich eine Zeit der Entscheidung: Das italienische und das schweizerische Wahlvolk und die Mitglieder der SPD entscheiden über die Zukunft ihres Landes, ihres Rundfunks, ihrer Partei. In allen drei Fällen ist die Systemfrage zurück – und sie könnte auf eine Weise beantwortet werden, die die Systeme ins Wanken bringt.

Bisher galten in den Demokratien des Westens eherne Gesetze: Wer die Macht auf den Tisch des Parlaments serviert bekommt, der greift zu. Wem unabhängige Berichterstattung am Herzen liegt, der lässt sich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk etwas kosten. Wer in wirtschaftlich unruhiger Zeit eine neue Regierung sucht, der vertraut sie keinen Glücksrittern an. Damit könnte an diesem Wochenende Schluss sein. Bei den italienischen Parlamentswahlen machen die linkspopulistisch genannte Fünf-Sterne-Bewegung und das Mitte-Rechts-Bündnis unter Führung des vorbestraften Gauklerkönigs Silvio Berlusconi den Sieg unter sich aus. In der Schweiz könnte die Initiative „No Billag“ der öffentlich-rechtlichen SRG den Geldhahn zudrehen. In Deutschland lehnt die Basis der SPD womöglich den Koalitionsvertrag mit CDU und CSU ab, provoziert Neuwahlen und schüttelt die eigene Partei tüchtig durch: Faites vos jeux, mesdames et messieurs.

Das Fraglose ist fraglich geworden

Der Ausgang ist dreimal offen, zumindest in der Schweiz und Deutschland liegen die Besitzstandswahrer vorne. Überall jedoch – längst nicht nur auf diesen Feldern – ist das Zeitalter der Konventionen vorbei. Das Fraglose ist fraglich geworden, das Überkommene muss sich rechtfertigen. Hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk wirklich das Recht, auf ewig von der Allgemeinheit finanziert zu werden, auch von denen, die ihn nicht nutzen, und von denen, die sich durch ihn ausgegrenzt, vernachlässigt, verächtlich gemacht sehen? Wenn hierfür in Deutschland nur der lahme Legalismus spricht, den der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen heranzog, um den geräteunabhängigen Rundfunkbeitrag zu verteidigen („das ist ja über das Bundesverfassungsgericht alles geklärt worden“), lautet die Antwort Nein. Sie lautet auch dann nicht unbedingt Ja, wenn man die Pathosformeln bedeutungsberauschter Fernsehalphatiere beim Wort nimmt.

Gehörig unter Rechtfertigungsdruck stehen auch Parteien, die lange für unverzichtbar galten. Gewohnheitsrechte schmelzen schnell. Was immer ein absehbarer Sieg der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien nach dem Untergang der dortigen Christdemokraten und dem Bedeutungsverlust der demokratischen Linke um das entzauberte Wunderkind Matteo Renzi im Einzelnen bedeuten mag: ein Krisenzeichen wäre es allemal, ein Schrei nach Liebe derer, denen man einmal zu viel das Gutenachtlied von den Strukturzwängen gesungen hat. Ob Beppe Grillos Nachfolger, ob „Cavaliere“ Berlusconi: ihre Wähler eint das brennende Verlangen, dass Politik mehr sein müsse als Verfahrenstechnik. Dass sie nicht ein smartes In-sich-Geschäft sein dürfe von Politikern untereinander, sondern Interessenvertretung für die Bürger, die Wähler, das Volk. Dass also das wohltemperierte Expertengespräch und mit ihm die Ära des absoluten Kompromisses aufzuhören habe.

Die SPD entscheidet über Große Koalition

Auch in Deutschland lodert die Sehnsucht nach dem Ende einer Zeit, die Politik zum Nullsummenspiel umbog. Die FDP sprang bereits aus dem fertig bezogenen Regierungsbett, in das sich nun vielleicht auch die SPD nicht legen mag. Moderieren, Kalkulieren, jeder mit jedem, und alles wird nachgebessert: Das kleine Polit-Karo trägt nicht mehr. Erprobte Parolen klingen schief. Wer sich auf den Standpunkt des Alternativlosen zurückzieht, hat schlechte Karten.

Nichtkommunikation wird bestraft, das So-war-es-schon-immer-Mantra ebenso. Wähler begehren auf, Konsumenten verweigern Gehorsam. Ob aus dem Neuen, das sich da ankündigt, bessere Politik erwächst, weiß niemand. Hoffnungsfroh stimmt der Blick in die Viten der neuen oder zurückgekehrten Protagonisten nicht. Doch das Feuer der Veränderung lodert. Alte Konzepte geraten unter Feuer, Systeme bersten. Schwer vorstellbar, dass die Bundesrepublik davon dauerhaft und in der Fläche ausgenommen bleibt: Alles auf Anfang.

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