Studie zum Mediensuchtverhalten - Die Opfer des Digitalisierungswahns

Wieder einmal bescheinigt eine Studie einer zunehmenden Anzahl von Kindern und Jugendlichen digitales Suchtverhalten. Ein verlogenes Ergebnis. Nicht einige Jugendliche sind internetabhängig, sondern unsere gesamte Gesellschaft. Ganz nach dem Willen der Tech-Konzerne.

Schülerinnen arbeiten an Tablets im Primarschulhaus St. Johann in Basel / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Vor wenigen Tagen auf einem Platz in München vor einem Imbissstand. Die Sonne schien von einem makellos blauen Himmel. Es gab viel zu beobachten und zu sehen. Doch niemand der Wartenden beobachtete irgend etwas. Stattdessen starrten alle wie hirnmanipulierte Marionetten auf ihre Smartphones, wischten, scrollten und tippten. Allenfalls für Sekundenbruchteile blickte der eine oder andere unwillig auf, wenn es einem Außenreiz doch mal gelang, durch den medialen Nebel bis zum Großhirn vorzudringen.

Wer mit offenen Augen durch unsere Städte läuft und sich einen distanzierten Blick auf seine Mitmenschen bewahrt hat, muss zu dem Ergebnis kommen, dass wir es mit einer hochgradig suchtkranken Gesellschaft zu tun haben. Menschen sitzen sich in Lokalen wortlos gegenüber, das unvermeidliche Smartphone in der Hand. In Zügen, Bussen und Straßenbahnen stiert man auf die bunten Bildchen vor der Nase. Wie zwanghaft werden für die belanglosesten Dinge Chat- oder Whatsapp-Gruppen eingerichtet. Lesen, bezahlen, flirten: Immer mehr Menschen können sich ein Leben ohne digitale Krücke kaum noch vorstellen.

Massiver Anstieg der Mediensucht

Die Ergebnisse einer in dieser Woche von der Krankenkasse DAK und dem Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vorgestellten Studie sind daher wenig überraschend: Die Internetsucht unter Kinder- und Jugendlichen nimmt zu. 680.000 Kinder und Jugendliche hierzulande sind demnach süchtig nach Computerspielen und sozialen Medien. Der Anteil der Minderjährigen, die Suchtverhalten bei Social Media aufweisen, stieg seit Jahr 2019 von 3,2 auf 6,7 Prozent. Bei der Nutzung von Computerspielen von 2,7 Prozent auf 6,3 Prozent.

Das Problem bei solchen Studien ist der zugrunde gelegte Suchtbegriff. Häufig wird Sucht als ein Verhalten definiert, das zur Selbstschädigung führt. Das bedeutet, dass die Betroffenen nicht mehr die Möglichkeit haben, von ihrer Sucht zu lassen, auch wenn sie merken, dass es ihnen schadet. In diesem Fall also: Keine Zeit mehr für Freunde haben, Konflikte mit Eltern riskieren, bis weit in die Nacht „zocken“ zu Lasten der Schulleistung.

Das ist ja auch alles gut und richtig, lenkt aber vom eigentlichen Problem ab. Denn aus den Zahlen der gleichen Studien geht ebenfalls hervor, dass werktags mehr als 28 Prozent der Jugendlichen über vier Stunden mit sozialen Medien verbringen. Computerspiele sind da nicht mitgerechnet. Die werden nämlich von 24 Prozent der Befragten mehr als drei Stunden am Tag genutzt.

Eine Gesellschaft auf Digitaldrogen

Wenn die Studie etwas zeigt, dann wie sehr unsere Gesellschaft schon auf Digital-Droge ist. Als süchtig gilt, wer die Mediennutzung überhaupt nicht mehr im Griff hat. Das hier mit zweierlei Maß gemessen wird, kann man sich leicht daran verdeutlich, dass man schon als Alkoholiker gelten kann, wenn man jeden Abend ein Glas Wein trinkt. Würde man den Maßstab der DAK-Studie auf das Trinkverhalten übertragen, ist man allenfalls Alkoholiker, wenn jeder Tag im Vollkoma endet.

Aber solche Ergebnisse verwundern nicht: Mehr digitalisieren! Schneller digitalisieren! Umfassender digitalisieren! So dröhnt es aus Parteizentralen, Chefetagen und aus Think Tanks. Digital first, Bedenken second. Psychische Deformationen, soziale Verwerfungen, ökonomische Abhängigkeiten oder die fragwürdigen Machtkonzentrationen in den Händen von ein paar Tech-Konzernen – alles egal. Schon darüber nachzudenken, ob dieser Weg in die Totaldigitalisierung sinnvoll ist oder ob wir vielleicht nicht gerade dabei sind, uns eine dystopische Hölle auf Erden zu schaffen, gilt als Frevel.

Schon bald werden wir das Internet der Dinge haben, werden wir autonom fahren, werden digital zahlen, werden wir in Smartcity wohnen. So bekommen wir es fast täglich von allen Seiten eingehämmert. Es ist Propaganda in Reinform. Und niemand fragt, wer eigentlich dieses „wir“ ist, wer das will oder wer das beschlossen hat. Es regiert wieder einmal die Rhetorik der Alternativlosigkeit. Nur dass es diesmal nicht um Lappalien wie Einwanderung oder Energie geht, sondern um eine Technologie, die unsere Gesellschaft, unser Weltbild, unser Miteinander, ja unser Fühlen, Denken und Handeln für immer verändert – und manipuliert. Es wird keinen Weg zurück geben.

Wer fordert eigentlich Digitalisierung?

Und wie immer, wenn eine gesellschaftliche Veränderung durchgepeitscht werden soll, hat man sich von interessierter Seite Kinder und Jugendliche als Agenten des Umbaus ausgesucht. Doch anstatt gerade diejenigen, die sich aus entwicklungspsychologischen Gründen am schlechtesten gegen die Verlockungen der digitalen Angebote wehren können, vor dieser Technologie zu schützen und allenfalls in Mikrodosen an sie heranzuführen, kann es die Politik gar nicht erwarten, Kinderzimmer und Klassenräume noch schneller und noch umfassender zu digitalisieren. Padlet ist super, Kreide ist out. Ob das pädagogisch sinnvoll ist, fragt keiner.

Das Zauberwort heißt wieder einmal Medienkompetenz, erworben natürlich unter der Schirmherrschaft und mit Hilfe der Tech-Konzerne. Das ist so, als würde man Drogendealer damit beauftragen, unseren Kindern Drogenkompetenz beizubringen. Es ist die reinste Heuchelei.

Was unsere Kinder brauchen, ist nicht mehr Medienkompetenz, sondern mehr Kompetenz, sich analog in der realen Welt sinnvoll zu beschäftigen, zu bilden, zu spielen und zu informieren. Nur eine reiche analoge Welt schützt vor Internetsucht. Aber um das einzusehen und umzusetzen, bedürfte es natürlich politischen Mutes.

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