Essay zur Digitalisierung - Obdachlos im Cyberspace

Die Digitalisierung hat die Grenzen von Körper, Welt und Wahrnehmung vollkommen durcheinandergewirbelt. Was ist noch Wirklichkeit und was Virtualität? „Cicero“-Redakteur Ralf Hanselle hat sich mit dieser Frage in einem Buch auseinandergesetzt. Wir dokumentieren einen Auszug.

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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Wo eigentlich liegt der Cyberspace? Können wir ihn fühlen, riechen, durchschreiten – hat er ein sinnliches Korrelat in der materiellen Welt? Seit Jahrzehnten schreitet die Digitalisierung voran und zwingt uns immer mehr dazu, zu digitalen Nomaden zu werden. Doch während wir uns in der Virtuellen Realität immer mehr einrichten, droht uns die analoge Wirklichkeit unter den Füßen wegzubrechen: Kriege, Umweltzerstörung und andere Katastrophen haben die Offline-Existenz unsicher werden lassen. Mehr und mehr gerät der Mensch zum dissoziativen Wesen: mit dem Kopf in der Datenbrille und den Füßen im Nirgendwo. Ralf Hanselle, Journalist, Autor und stelllvertretender Chefredakteur bei Cicero, hat über dieses gegenwärtige Lebensgefühl ein Buch geschrieben: „Homo digitalis. Obdachlos im Cyverspace" (zu Klampen Verlag 2023. 128 Seiten. 16 Euro). Hier publizieren wir einen kleinen Auszug aus dem gut 120 Seiten starken Essay. „Ein Büchlein", so sagt es etwa die Literaturkritikerin Brigitte Neumann in ihrer Rezension für den SWR, „über das wir reden müssen".

 

Homo digitalis

Wir leben in einer Landschaft am Power Button; einer Welt am Draht. Was Ende des 20. Jahrhunderts noch kalte Fiktion war, das ist zur allgegenwärtigen Realität geworden. Tag für Tag sitzen wir hinter Flachbildschirmen und Rasterdisplays, von wo aus wir das gnadenlose Geflimmer der Grafikkarten mit den weit geöffneten Fenstern zur Welt verwechseln. »Windows«, einst nur ausgeklügelter Markenname für die graphische Benutzeroberfläche auf IBM-Computern, ist zum vielleicht erfolgreichsten Sprechakt der jüngeren Geschichte geworden. Eine Behauptung, die für die meisten Menschen längst zur unumstößlichen Tatsache gehört. Als wären wir Teilnehmer einer Techno-Trance. Eine hypnotisierte Gesellschaft, die die Außenansicht der Wirklichkeit in den LCD-Bildpunkten ihrer Flachbildschirme vermutet.

Mag die Welt in den Laboren der Nanotechniker oder in den Raumfahrtzentren der Astrophysik längst einem holographischen Multiversum gleichen; in unserer medial erzeugten Alltagserfahrung scheint sie Tag für Tag auf der Oberfläche eines Flachbildmonitors aufzuprallen. Oft sind es nur noch winzige Mikrometer, auf denen wir die tiefsten Tiefen des Daseins vermuten. Wie haben die Welt zu lesen gelernt: nicht mehr, wie einst noch unsere Ahnen, auf einer grand tour oder während einer ritterlichen Aventiure. Nein, in Zoom- und Webex-Meetings, in Team- und Skype-Sitzungen stampfen wir den äußeren Raum immer wieder neu zu einer vor dem inneren Auge entstehenden Flächenmontage zusammen.

Wir [blicken] apathisch auf LCDs und Pixelfelder, die wir für Straßen, Landschaften oder gar für Menschen halten. Unsere Kameras werden uns zu Augen, unsere Muskelzuckungen zu verkümmerten Handlungsabläufen. Gerade so, als würden uns unsere Wege mit jedem Update neu geebnet und als würden uns die Parameter von Raum und Zeit sowie von Nähe und Ferne mit jedem Tag zu einer neuen variablen Fläche vernäht.

So ist uns Hongkong wohl längst nähergekommen als Hemd oder Hose, und der Himalaya erscheint auf Smartscreen-Format geschrumpft. Und irgendwann – vielleicht wenn die Simulation versagt oder wenn der Schaltkreis im Rechenzentrum ausfällt – reiben wir uns müde und verstört die Augen und starren in diese gewaltige Wüste am graphisch simulierten Horizont. Während unseres rasenden Stillstands durch die Simulation bemerken wir nicht einmal mehr ihre Nähte und Narben [...]

Etwas also läuft schief zwischen Welt und Körper. Die Grenzen zwischen uns und den Dingen sind in Gefahr. Die Räumung der Welt, welche einst mit der Digitalisierung begann, sie macht längst auch vor unserem eigenen Selbsterleben nicht mehr halt.  Auflösungsängste grassieren. Es scheint, als müsste man sich jetzt wirklich beeilen. Ganz so, wie es Paul Cézanne bereits am Beginn der Moderne beobachtet hat, als er eindringlich davor warnte, dass immer mehr verschwinde und dass in hundert Jahren vielleicht schon alles verflacht sei.

Beeilen wir uns also. Denn als erstes verschwinden die Kinder: Dissoziationen, aber auch die stetige Zunahme von Bulimie, Magersucht und anderen Essstörungen an der Grenze zum eigenen Selbst zeigen immer häufiger, was passieren kann, wenn Angst sukzessive in Sehnsucht kippt. Jüngst bereits hat eine große deutsche Krankenversicherung feststellen müssen, dass unter ihren zumeist jugendlichen Versicherten mittlerweile doppelt so viele Essstörungen registriert würden wie sechs Jahre zuvor. Großbritannien verzeichnet eine ähnliche Entwicklung: Allein in den vergangenen fünf Jahren soll sich hier die Anzahl der im Krankenhaus wegen Bulimie und Anorexia behandelten Jugendlichen verdoppelt haben. Die Zeit der Corona-Pandemie, mit ihrem verstärkten Home-Schooling und der körperlichen Isolation, hat diesen Trend nachweislich noch verstärkt.

Der organische Körper samt seinen Unebenheiten und seinen Wunden, scheint nicht mehr gefragt zu sein. In der Welt der glatten und aseptischen Oberflächen kann er sich bis an die Grenze zum Ich zurückziehen. Und sollte auch die einmal nicht mehr 
zu greifen sein, so ritzt man sich in die Empfindung zurück. Jeder dritte Jugendliche nämlich soll sich schon einmal selbst geritzt, verbrüht oder geschlagen haben [...].

Jede Zeit sucht sich ihren Ausdruck: ihre Moden, Kulinariken und letztlich auch ihre Krankheiten. Ihre Leiden und ihre Leidenschaften. Das Leiden der Gegenwart, es kommt nirgendwo so gut zum Ausdruck wie in dieser bis ins Wahnhafte gesteigerten Sehnsucht nach Weltverlust. Diese nämlich findet sich längst überall: 

Da ist die Finanzkrise von 2008. Bereits an deren Beginn stand eine beispielhafte Entrückung: Nach einer Rezession, ausgelöst durch die Terroranschläge vom 11. September 2001, flutete die amerikanische Zentralbank die Märkte zunächst mit neuer Liquidität; mit Geld, das zum damaligen Zeitpunkt wenig Gegenwert hatte. In der Folge vergaben auch die Geschäftsbanken immer leichtfertiger Kredite an Konsumenten und Immobilienbesitzer. Für diese Hypothekenflut aber mussten fast keine belastbaren Sicherheiten hinterlegt werden. Am Ende stand eine Welt, deren Finanzverhältnisse immer mehr in der Luft zu schweben schienen, eine monetäre Fiktion, die 2008 endgültig ins Leere lief; ganz so wie in den alten »Tom und Jerry«-Trickfilmen, in denen der emotional übererregte Kater über die Abbruchkante eines Abgrunds hinausläuft und erst im Moment seines schmerzlichen Sturzes bemerkt, dass die Luft seine immer schneller werdenden Schritte nicht zu tragen vermag.

Eine Luftnummer also, ein fake, eine durch und durch fluide Geschichte. Immer wieder wurde in den zurückliegenden Jahren der oft so schwer zu bewirtschaftende Boden der Tatsachen mit purer Ideologie und gefährlichem Wunschdenken bedeckt. Doch mittlerweile sind wir an einen Punkt gelangt, an dem solche Wirklichkeitssimulationen unsere Kultur, ja die gesamte Basis unseres Daseins hinweg zu schwämmen drohen.

Weitgehend hat die Fiktion die Realität niedergerungen, egal, ob bei den Transgender-Debatten und den Kontroversen um ein vermeintlich drittes Geschlecht oder auch nur beim anwachsenden Gebrauch von Hair-Extensions und Body-Enhancements, von Botox-Lippen und Silikon-Implantaten. Was jüngst noch falsche Fingernägel waren, sind heute falsche Nachrichten, falsche Körper, falsche Identitäten.

Das Wahre ist derweil auf dem Rückzug. Nicht nur, weil es vom Fake bedroht ist, sondern weil es mittels eines noch Wahreren optimiert werden kann. Als wäre selbst alles noch nicht genug. Selbst die Kunst, die bis vor kurzem noch das vielleicht letzte Versprechen von Echtheit barg, hat sich mittlerweile im virtuellen Nichts entäußert. Als Datensatz in einer Blockchain, einem sogenannten Non-Fungible Token (NFT), fristet sie dort das Schicksal einer unsichtbaren Kryptowährung.

Ganz gleich also, ob postfaktische Politik oder eine Pandemie, die sich zwar auf digitalen Daten-Dashboards, kaum aber im realen Leiden spiegeln: Nichts verkörpert sich mehr im Leben, nichts ist validisierbar. Ein wenig geht es uns da wie dem legendären König Midas. Aber unser Fluch ist nicht die Vergoldung, unser Fluch ist die virtuelle Entortung: Eine Berührung am Touchscreen, und alles verschwindet ...

 

 

Ralf Hanselle: Homo digitalis. Obdachlos im Cyberspace. zu Klampen Verlag 2023. 128 Seiten. 16 Euro.

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