Wurzeln der Karabach-Katastrophe - Wie Arzach zur neuen Tragödie der Armenier wurde

Wer die Bedeutung der Vertreibung der Armenier aus Bergkarabach ermessen will, muss zurück in die Geschichte blicken. Die Region war für anderthalb Jahrtausende ein Rückzugsgebiet des armenischen Selbstbehauptungswillens und Relikt eines großen Reiches.

Armenischer Soldat bei Aravus im Latschin-Korridor / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Philipp Ammon ist Historiker und Kaukasiologe. 2020 erschien sein Buch über die historischen Wurzeln des russisch-georgischen Konflikts: „Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation: Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jahrhundert bis 1924“ im Verlag Vittorio Klostermann. 

So erreichen Sie Philipp Ammon:

Anzeige

Die militärische Niederlage der armenischen Enklave Berg-Karabach, auch Republik Arzach genannt, gegen Aserbaidschan und die sich anschließende Vertreibung der Armenier aus diesem Gebiet im September sollte Anlass sein, auf die tiefreichenden historischen Wurzeln zurückzublicken. 

Den Namen des nun untergegangenen armenischen Arzach leitete der britische Kaukasiologe David Marshall Lang (1924-91) von dem 190-160 v. Chr. regierenden Begründers der Artaxidendynastie Artaxias I. ab. Unter seinem Enkel Tigranes (140-55 v. Chr.) erstreckte sich ein armensiches Großreich vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer. Arzach war damals also keine Enklave, sondern lag im Zentrum eines armenischen Reiches. Die zweite antike Erinnerung der Armenier ist die Gründung der weltweit ersten christlichen Staatskirche durch den als apostelgleich verehrten Arsakidenkönig Tiridates den Großen und den im kappadokischen Caesarea christlich erzogenen Parther Gregor den Erleuchter im Jahre 301. 

Für die im Grunde bis heute folgenreiche und anhaltende Zerrüttung der staatlichen Substanz Armeniens entscheidend war jedoch ein Königsdrama in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts. Und die ebenso fortwährende kulturelle Isolierung des Landes in der Region begann ein Jahrhundert darauf. Die Bedeutung des damaligen Geschehens ist vielleicht mit den Verheerungen Deutschlands durch die frühneuzeitliche konfessionelle Spaltung und den Dreißigjährigen Krieg vergleichbar, deren politische und kulturelle Folgen das mittlere Europa noch sehr lange spürte, vielleicht sogar bis heute. 

Zustände wie bei Game of Thrones

Im 4. Jahrhundert herrschten im armensichen Reich Verhältnisse, wie man sie aus der TV-Serie Game of Thrones kennt. Von 339 bis 374 saßen drei Generationen Neffen-, Vater- und Bischofsmörder auf dem großarmenischen Thron, die ihre Obereunuchen förderten, die edelsten Fürstengeschlechter ausrotteten, den Arianismus förderten und damit die beiden wichtigsten Stützen des Throns, das mit Ostrom alliierte Geschlecht der Mamikonjans – die Prinzenerzieher und Oberbefehlshaber des armenischen Heeres – und die Kirche verloren. Das Reich war danach derart zerrüttet, dass 387 die Römer und die Perser Armenien unter sich aufteilen konnten, denen die letzten Arsakiden nur noch als Statthalter dienten.

Ein letztes Mal bäumte sich Armenien im fünften Jahrhundert gegen die Fremdherrschaft auf: Als der persische Großkönig den Glaubensabfall vom Christentum verlangte, erhielt er postwendend aus Armenien ein Antwortschreiben: „Von diesem Glauben kann uns niemand abbringen, weder Engel noch Menschen, weder Schwert noch Feuer, noch Wasser, noch irgendeine Art grausamer Folter“. Unter dem Befehl des als Nationalhelden verehrten Herzogs Wardan Mamikonjan (387-451) zogen die Armenier nach gemeinsamem Empfang der Kommunion am 26. Mai 451 gegen eine dreifache persische Übermacht, gegen Kriegselefanten, gegen die Garde-Reiterei der neuen „Unsterblichen“ und auch gegen armenische Überläufer in die Schlacht von Awarajr.  Ein von Kaiser Theodosius entsandtes römisches Hilfsheer kam zu spät. Herzog Wardan fiel als Blutzeuge. Der Untergang auf der Ebene von Awarajr ist für das armenische Gedächtnis so bedeutsam wie für das serbische Selbstverständnis die verlorene Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo) 1389 gegen die Türken.

Arzach als letztes Rückzugsgebiet

Als letztes Rückzugsgebiet armenischer Freiheit verblieb nur das Bergland von Arzach, das sich bis zum 20. September 2023 als natürliche armenische Gebirgsfestung halten sollte. Hierhin flohen vor den siegreichen Persern freiheitsliebende Bauern, Geistliche und Adlige, um einen Widerstandshort zu bilden. Hier verschwägerten sie sich mit den ebenfalls von Gregor dem Erleuchter bekehrten Albanern (nicht mit den balkanischen Albanern/Skipetaren zu verwechseln) im Laufe der folgenden Jahrhunderte.

Geistesgeschichtlich war die Niederlage von Awarajr noch folgenreicher. Die danach unter persischer Herrschaft lebenden Armenier erschienen im Herbst 451 nicht zum Konzil von Chalkedon. Das heißt: Die Verbindung zum Westen riss ab, die Armenier im Perserreich lösten sich aus der Gesamtkirche und nahmen – anders als ihre georgischen Nachbarn – die Lehre von den zwei Naturen Christi (der göttlichen und der menschlichen) in einer Person nicht an. Die Perser verfolgten in der Folgezeit die gesamtkirchlichen Anhänger der Zweinaturenlehre als Parteigänger des Oströmischen Reiches.

Auf der Ebene von Awarajr wurde das Rückgrat Armeniens gebrochen. Im Grunde hat sich Armenien nie wieder von diesem Schlag erholt. Mit der Makkabäergestalt Wardan Mamikonjan ging Großarmenien endgültig unter. Seither ist Armenien ein Spielball der Großmächte und lehnt sich an diese an. Die Verbindung zum Erbe der eigenen Väter ist abgerissen. Die armenische Kultur beklagt den Verlust und ist von tiefer Schwermut geprägt. Die lähmende Melancholie kommt noch in der melismatischen Klage der armenischen Wehflöte Duduk zum Ausdruck. 

Armenien und der Westen

Der im römischen Machtbereich lebende Teil der Armenier dagegen blieb der Gesamtkirche verbunden und stellte sogar zahlreiche oströmische Kaiser und Patriarchen von Konstantinopel: sowohl im achten Jahrhundert den Kaiser Leo III., der den Bildersturm auslöste, als auch im neunten Jahrhundert die heilige Kaiserin Theodora II. aus dem Heldengeschlecht der Mamikonjan, die 843 die Bilderverehrung wiederherstellte – ein Ereignis, das in der Orthodoxen Kirche alljährlich am ersten Sonntag der Großen Fastenzeit als Triumph der Orthodoxie gefeiert wird.

Die Chatschkare (Kreuzsteine), die die armenische Landschaft bis heute prägen, sind ein Erbe des Ikonklasmus: Sie ersetzten die zerstörten Bilder. Im neunten Jahrhundert wurde ein Armenier Patriarch, der die Geschichte Europas bis auf den heutigen Tag geprägt hat: Der heilige Photius erteilte den Brüdern Kyrill und Method den Segen zur Slawenmission. Kaiser Johannes Tzimiskes (auch „der Kleine“ genannt – armenisch tschemschkik bedeutet klein) schließlich gab seine Nichte Theophanu dem deutschen Kaiser Otto II. zur Frau. 

Als nicht minder bedeutend für die Weltgeschichte erwies sich im siebzehnten Jahrhundert in der Kaiserstadt Wien ein anderer Armenier: Johannes Theodat ermöglichte als Kurier und Späher Kaiser Leopolds das rechtzeitige Eintreffen des Ersatzheeres zur Schlacht am Kahlenberg und rettete so polyglott das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vor den Türken. Der „Türkenpoldi“ dankte es ihm, indem er ihm am 17. Jänner 1685 für zwanzig Jahre die Hoffreiheit erteilte, das „türkische Getränk, als Caffe, The und Scherbet, zu praeparieren“. In seinem Wohnhaus schrieb der Händler aus Konstantinopel Geistesgeschichte: Johannes Theodat eröffnete am Haarmarkt das erste Wiener Kaffeehaus.

 

Das könnte Sie auch interessieren: 

 

Im Rückzugsgebiet in Arzach aber erhob sich nach der arabischen Eroberung Persiens im siebten Jahrhundert im Jahre 821 der armenische Fürst Sahl Smbatjan, begründete das nach dem armenischen Wort chatsch für Kreuz benannte Herrscherhaus Chatschen, das bis ins 19. Jahrhundert die Geschicke des Landes bestimmte. Arzach wurde im Jahr 1000 zum Königreich erklärt und blieb auch nach der endgültigen Unterwerfung Restarmeniens durch die turkstämmigen Seldschuken unabhängig. Es bestand auch nach der Eroberung durch die mongolischen Ilchane 1261 als autonomes Fürstentum weiter, gliederte sich nach den Verwüstungen Tamerlans in fünf Fürstentümer auf, die 1603 unter persisches Protektorat gerieten und 1750 endgültig vom Dschewanschirkhan Panah-Ali (1693-17619) unterworfen wurden. Arzach wurde seinem Khanat Karabach eingegliedert, was zu einer armenischen Auswanderung und muslimischen Einwanderung führte. Dieser Prozess kehrte sich allerdings um, als 1805 Karabach ein russisches Protektorat wurde. So war Bergkarabach 1823 zu 90 Prozent von Armeniern besiedelt. Die russische Verwaltung stützte sich zunächst auf die agileren Armenier, protegierte jedoch ab 1896 unter Fürst Golizyn als Gegengewicht die Muslime. 

Aghet, die Katastrophe

Die im Osmanischen Reich lebenden Westarmenier galten über Jahrhunderte als treue Untertanen des Sultans. In ihren Händen lag zeitweise die Finanzverwaltung und die Seidenstraße. Doch die Französische Revolution änderte das Verhältnis zwischen Türken und Armeniern. Während die 1890 gegründeten revolutionären armenischen Daschnaken Gleichheit als Bürger einforderten, favorisierten die 1889 gegründeten Jungtürken die Idee der „nation une et indivisible“. 

Der Widerspruch wurde blutig gelöst: Erstmals 1894-96 unter Sultan Abdülhamid II.  in den von der New York Times als „Armenian Holocaust“ betitelten Greueln mit 80-300.000 Toten, welche zu Empörung, jedoch keinem Eingreifen seitens der Europäer und Amerikaner führten, und erneut in Kilikien 1909 mit 15-20.000 Toten. Weder die vor der Küste kreuzenden Kriegsschiffe der europäischen Garantiemächte der Armenier noch die der USA griffen ein. Die Spannungen zwischen den zu Attentaten übergehenden Armeniern und Türken in Anatolien machten an der Grenze nicht Halt, strahlten in den Südkaukasus aus und entluden sich während der Russischen Revolution von 1905 in den sogenannten armenisch-tatarischen Pogromen. 

Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg, wurde für die Armenier zur Katastrophe schlechthin: Sie bot den Jungtürken bot die Gelegenheit zur ethnischen Säuberung Kleinasiens. Nach der Niederlage an der Kaukasusfront 1915 gegen die Russen beschuldigten sie die Armenier des Dolchstoßes. Im Februar wurden die im osmanischen Heer dienenden Armenier entwaffnet. In Kilikien setzten die Deportationen ins Landesinnere ein, Ende April ließ Talat Pascha die Intellektuellen der Hauptstadt verhaften. Im Mai verabschiedete das Parlament das Deportationsgesetz, worauf Hunderttausende Armenier bis ins Jahr 1916 mit Viehwagen der Badgadbahn deportiert oder auf Todesmärsche in die Syrische und Mesopotamische Wüste geschickt wurden. 

Gustav Stresemann vermerkte 1916 nach einem Gespräch mit Enver Pascha in seinem Tagebuch:  „Armenier-Verminderung 1–1½ Millionen“. Die Entente protestierte bereits 1915 gegen den „Ausrottungsfeldzug gegen die Armenier“, Reichskanzler von Bethmann Hollweg erklärte hingegen, es sei das deutsche Ziel, „die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ Laut dem jüdischen Religionswissenschaftler Pinchas Lapide (1922-97) verhinderte die Intervention des Kaisers zumindest die ebenfalls noch geplante Ermordung der palästinensischen Juden.

Im Vertrag von Sèvres sicherte die Entente 1920 Armenien westarmenische Gebiete im östlichen Anatolien zu, die sie jedoch 1923 im Vertrag von Lausanne gegen die Abtretung von Zypern an Großbritannien und des Dodekanes und Libyens an Italien der Türkei überließen. Vom einstigen anatolischen Westarmenien blieb nur der Name in Geschichtsatlanten. 

Ostarmenien

Das im Zarenreich gelegene Ostarmenien wurde nach der Russischen Revolution von 1917 samt Karabach Teil der Transkaukasischen Föderativen Republik. Nach dem Einmarsch der Roten Armee wurde Bergkarabach auf Beschluss des Kaukasischen Büros des ZK der Kommunistischen Partei am 3. Juni 1921 armenisch und Niederkarabach aserbaidschanisch. Aus Rücksicht auf die kemalistische Türkei wurde die Entscheidung 5. Juli zugunsten einer Autonomie Bergkarabachs innerhalb Aserbaidschans revidiert. 

Laut der letzten sowjetischen Volkszählung waren 1989 von den 188.000 Einwohnern Bergkarabachs 73,5 Prozent Armenier und 25,3 Prozent Aserbaidschaner. Zu Sowjetzeiten beklagten die Armenier Bergkarabachs einen von Baku behördlich geförderten Zuzug von Aserbaidschanern in ihr Bergland, weshalb sie 1987 – ein Jahr nach der Verkündigung der Glasnost – in einer Petition an Moskau um den Anschluss des Gebietes an Armenien ersuchten. Es folgten armenisch-aserbaidschanische Ausschreitungen mit Toten auf beiden Seiten, Fluchtbewegungen und Vertreibungen von Armeniern aus Aserbaidschan und Aserbaidschanern aus Armenien und Bergkarabach. Nach Auflösung der Sowjetunion mündete der Konflikt in einen Krieg um Bergkarabach, den die Armenier mit wohlwollender Unterstützung Moskaus gewannen und eine Landverbindung zur Republik Armenien und eine Pufferzone im Süden und Osten Bergkarabachs eroberten. 

Paschinjan und die samtene Revolution

Als Kritiker dieser Russland-Bindung trat der 1975 in Armenien geborene Journalist und Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan auf, der 2018 in der Samtenen Revolution unter der Losung der Bekämpfung der Korruption und Armut die Regierung stürzte und am 8. Mai zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Bereits als Oppositionspolitiker hatte er 2013 gegen den Beitritt Armeniens zur von Rußland gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion und 2016 gegen die Aufstellung einer unter russischem Befehl stehenden Flugabwehr gestimmt.

Nach der Samtenen Revolution wurde das russische Programm aus dem kostenlosen Senderpaket des armenischen Fernsehens entfernt, bei Demonstrationen wurden russische Flaggen verbrannt. Weiter verschlechterte sich das Verhältnis, als die Sonderermittlungsbehörde Armeniens 2019 Anklage gegen Russland verbundene Politiker erhob: gegen die karabachstämmigen ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan (1998-2008) und Sersch Sargsjan (2008-18, *1954) 2019. Als das armenische Verfassungsgericht darauf eine Beschwerde der Anwälte Kotscherjans an die Venedig-Kommission und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schickte, leitete Paschinjan mit Unterstützung der Open Society Foundation eine Verfassungsreform ein und stellte sich gegen die gesamte ehemalige Regierungselite.

Der innere Auseinandersetzung in Armenien und die Zeichen der Abkühlung zwischen Moskau und Jerewan wurden in Aserbaidschan sehr aufmerksam verfolgt. Im Vorfeld des Rückeroberungsfeldzuges von 2020 wurden russische Politologen im aserbaidschanischen Fernsehen wiederholt gefragt, ob Russland Armenien im Kriegsfall unterstützen würde. Gleichzeitig modernisierte Aserbaidschan mit den Einnahmen aus dem Gas-Boom seine Armee und rüstete sie mit türkischen und israelischen Drohnen auf. Über vergleichbare Einnahmequellen verfügt Armenien nicht: „Hajastan – Karastan“, Armenien ist Steinland, weiß das Sprichwort. Aus dem Stein kann man kein Wasser wringen. 

Die Spjurkarmenier, die in Frankreich und Amerika starke armenische Diaspora, konnte zwar in den verganenen Jahren die internationale Anerkennung des Armeniermordes von 1915 als Genozid erreichen, nicht jedoch ausreichende Mittel zum militärischen Schutz der Kaukasusarmenier bereitstellen. Für Israel dagegen ist Baku von zentraler strategischer Bedeutung. Von Aserbaidschan lässt sich der Iran abhören, von dessen Luftwaffenstützpunkt Sitalcay lassen sich Angriffe auf die Islamische Republik fliegen.

Die Niederlage

Vom 27. September bis zum 10. November 2020 eroberte Aserbaidschan im ersten Drohnenkrieg der Weltgeschichte den Großteil Bergkarabachs und die umliegenden Gebieten zurück. Auch der von Russland vermittelte Waffenstillstand, bei dem russische Truppen die Waffenstillstandslinie zum armenischen Restgebiet Bergkarabachs kontrollieren sollten und der die Statusfrage Bergkarabachs noch offenhielt, wurde schon bald brüchig. Im Mai 2021 drangen aserbaidschanische Truppen sogar auf das Territorium der Republik Armenien selbst vor.

Nochmals verbesserte sich die strategische Position Aserbaidschans durch den Ukrainekrieg, der russische Kräfte in der Ukraine band und so ein Eingreifen der Russen im Kaukasus erschwerte. Die EU wiederum schloss 2022 ein Gasabkommen mit Aserbaidschan ab, um russische Gaslieferungen zu ersetzen. Im Januar 2023 sagte Paschinjan das mit den Russen geplante Manöver Unzerstörbare Bruderschaft – 2023 ab.

Ohne dem gleichzeitig in der Republik Armenien stattfindenden armenisch-amerikanischen Militärmanöver Eagle Partner 2023 überhaupt Beachtung zu schenken, eroberte Aserbaidschan in einem Blitzkrieg vom 19. auf den 20. September 2023 das armenische Restgebiet Bergkarabachs, dessen Regierung kapitulierte. Der Großteil der armenischen Bevölkerung ist bereits aus der Enklave geflohen, Nachrichten von Greueltaten gegen die Zivilbevölkerung laden die Flüchtlinge ebenso wenig zur Rückkehr ein, wie die Umbenennung einer Straße in Stepanakert nach Enver Pascha (1881-1922), einem der Hauptverantwortlichen für den Armeniermord von 1915, was die Beteuerungen des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew (* 1961) konterkariert, er werde für die Armenier in Karabach ein Paradies schaffen.

Durch ihren Exodus aus Bergkarabach sind die Armenier um einen Phantomschmerz und ihre Geschichte um eine Tragödie reicher geworden. Er reiht sich ein in die Geschichte der ethnischen Homogenisierungen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Paschinjan, der eine Annäherung an den Westen suchte, hatte sich im Vorfelde der jüngsten Karabachkriege von der traditionellen armenischen Schutzmacht Russland entfernt, ohne sich zuvor des militärischen Schutzes einer anderen Macht zu versichern. In einem sprunghaften Vorgehen hatte er 2019 bei einem Besuch in Stepanakert „Miazum“ (die Vereinigung Arzachs mit Armenien) skandiert, sein Verteidigungsminister gar in New York vor der armenischen Diaspora (armen. Spjurk) die Formel „Neuer Krieg – neue Territorien“ verkündet, was Baku reizte und als Abbruch der Verhandlungen interpretierte; am 6. Oktober 2022 in Prag und im Mai und im September 2023 erkannte er Aserbaidschan dann aber wiederum grundsätzlich in den Grenzen von 1991 an. Im Mai 2023 wiederholt er diese Aussage und zog gleichzeitig einen Austritt aus der von Russland angeführten Verteidigungsgemeinschaft OVKS in Betracht. 

Ein weiterer Krieg?

Durch den soeben erfolgten Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof, der einen Haftbefehl gegen Putin erlassen hat, distanziert sich Armenien noch weiter von Moskau. Am 12. Oktober 2023 blieben sowohl Paschinjan als auch sein Außenminister dem GUS-Gipfel in Bischkek fern. 

Mittlerweile ist auch das Territorien der Republik Armenien selbst bedroht. Präsident Alijew erklärte derweil, dass er die Republik Armenien als historisches Territorium Westaserbaidschans betrachtet. Das Hauptinteresse Aserbaidschans wird dabei sein, eine Landverbindung zur Türkei zu schaffen. Ein Gegenspieler ist dabei der Iran, den gerade diese Landverbindung nach Norden abschneiden würde. Je mehr sich Armenien jedoch der EU und den USA annähert, entfremdet es sich dem Iran. Alles ist im Fluss. 

Seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert gehörte das Gebiet, das die Armenier Arzach nennen, zum sich vom Ararat ausdehnenden Reich von Urartu, in dem die armenische Nationalgeschichtsschreibung das Vorgängerreich Armeniens erblickt. 

Arzach als Unglücksrabennest

Durch seine sukzessive Lösung des engen Verhältnisses zu Russland seit 2018 und seine Annäherungsversuche an den Westen hat Paschinjan letzten Endes die bisherige armenische Lebensversicherung gekündigt, ohne vorher eine neue Lebensversicherung abgeschlossen zu haben. Durch seine sprunghafte Diplomatie und seine wechselhaften Aussagen gegenüber den Nachbarländern verwandelte Paschinjan damit Arzach, das bergige Widerstandsnest der Armenier, innerhalb von zwei Jahren in Urartus Unglücksrabennest.

Aus Sicht der armenischen Opposition hat er damit Karabach verschenkt und seine Landsleute verraten. Inzwischen gefährdet er auch die Republik Armenien selbst in ihrer Existenz. Empören sich in Deutschland die Gemüter über die mangelnden Kenntnisse des Wirtschaftsministers über Physik, Wirtschaft und Energie und der Außenministerin vom Völkerrecht und über ihren sprachlichen Ausdruck, so mussten die Armenier die Unerfahrenheit ihres Premierministers auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik bereits mit einem höherem Preis bezahlen: mit Land und Menschenleben. 

Geht es ums physische Überleben, ist Realismus für die in ihrer nackten Existenz Bedrohten ein Gebot der Notwendigkeit. Die Mittellage, in der die Armenier leben, verzeiht keine Fehler. Sie bestraft sie vernichtend. Glücklich sind die Völker in Randlage.

2011 wurde in Armenien Schach als Schulpflichtfach eingeführt, um das strategische Denken zu fördern. Paschinjan hat gerade eine weitere Partie verloren. 
 

Anzeige