Weißrussland - Geschlossene Gesellschaft

Repression, Isolation, Eskalation: Alexander Lukaschenkos Machtapparat wehrt sich mit allen Mitteln gegen die Protestwilligen in seinem Land. Dabei geraten er selbst und Belarus immer mehr in die Fänge des Kreml.

Polizisten in Minsk hindern Demonstranten daran, den Unabhängigkeitsplatz zu betreten / Alexander Vasukovich
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Ingo Petz ist freier Journalist und publiziert seit über 20 Jahren zu Belarus.

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Der Machtapparat von Alexander Lukaschenko befindet sich seit Beginn der historischen Proteste im Sommer 2020 in einem Zustand der Eskalation und Paranoia. Überall Feinde, Extremisten, Terroristen, die – so die bekannte Erzählung – von den westlichen Staaten angeheuert werden, um gegen ihn, den fürsorglichen Landesvater der Belarussen, aufzubegehren. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Fast 40.000 Personen wurden seit der gefälschten Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 inhaftiert, über 800 politische Gefangene sitzen aktuell in den Gefängnissen, mehr als 270 zivilgesellschaftliche Organisationen wurden verboten, über 35.000 Strafprozesse angestrengt.

Dazu zahlreiche Medien liquidiert – wie tut.by, das mit drei Millionen Lesern im Monat Flaggschiff des unabhängigen Journalismus in Belarus war. Zehntausende haben das Land Richtung Ukraine, Polen oder Litauen verlassen. Im Land regiert die Angst. Mittlerweile gehen die Verfolgungen so weit, dass Menschen festgenommen werden, wenn sie Telegram-Kanäle nutzen, die als extremistische Vereinigungen eingestuft wurden, oder wenn sie auf Facebook oder Twitter kritische Kommentare hinterlassen.

Immer härtere Bandagen

So geschehen, als es im Oktober in Minsk zu einer tragischen Schießerei kam. Eine Einheit des KGB stürmte die Wohnung des IT-Fachmanns Andrej Selzer, der aber mit einem geladenen Gewehr wartete. Mit dem erschoss er einen KGBler bei der Erstürmung seiner Wohnung. Er selbst starb ebenfalls im Kugelhagel. Darauf machten sich viele ihrer Wut gegenüber dem KGB in den sozialen Medien Luft. Die Folge: über 200 Festnahmen. „Es kann im Prinzip jeden treffen“, sagt ein Bekannter. „Gründe lassen sich immer finden.“ Deswegen löschen die Menschen ihre Verlinkungen auf Twitter oder Facebook, überprüfen die Kommentare in ihrer Timeline, schalten ihre Accounts teilweise komplett ab oder vernichten ihre Handys oder Laptops.

Wer hätte geglaubt, dass ein Autokrat mit solch einer Brutalität im 21. Jahrhundert gegen die eigenen Bürger vorgehen kann – in Europa, an der Grenze zur EU. Dass die „Lukaschisten“, wie die hartgesottenen Systemtreuen genannt werden, nichts von Dialog, Öffnung und Wandel halten, haben sie immer wieder unter Beweis gestellt. So, als die beiden Oppositionsführerinnen Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa im vergangenen August, als sie noch den Druck der Straße hinter sich hatten, eine friedliche Machtübergabe forderten. Lukaschenko sagte: „Ihr müsst mich schon töten, wenn ihr neue Wahlen wollt.“

„Dialogversuche“

Er selbst brachte zwar – wohl um Zeit zu gewinnen – einen Dialog ab und zu ins Spiel. Dabei wolle er aber nur mit Vertretern der Opposition sprechen, die nicht an den Protesten beteiligt sind. Die Demonstranten bezeichnete er als „Schafe“, „Ungeziefer“, „Dreck“, „Drogenabhängige“ oder „Kriminelle“. Seine eigene Vorstellung von Dialog zeigte sich im Oktober 2020: Vor laufenden Kameras inszenierte er eine Art runden Tisch, an dem der mittlerweile zu 14 Jahren Haft verurteilte Viktor Babariko und andere Oppositionelle Platz genommen hatten. Das Ganze fand im Okrestina-Gefängnis statt, wo viele der bekannten Oppositionellen einsitzen. „Unser Land lebt unter der Losung der Dialogbereitschaft“, sagte Lukaschenko, was man natürlich als Zynismus begreifen musste.

Denn tatsächlich verhält es sich so: Lukaschenko diktiert die Regeln. Auch in der Vergangenheit machte er das immer wieder deutlich. So Ende 2010. Damals hatte sich eine Art „Liberalisierung“ eingestellt. Nach jahrelangem Kontaktverbot und Sanktionen gab es eine Annäherung zwischen der EU und diesem „letzten Diktator Europas“. Außenminister Guido Westerwelle besuchte im November Minsk und traf auf den ehemaligen Kolchosendirektor. Der Glaube an einen „evolutionären Wandel“ lag in der Luft. Westerwelle betonte, eine Annäherung an die EU könne und werde es nur geben, wenn Rechtsstaatlichkeitskriterien erfüllt seien.

Durchgefallen

Die für den 19. Dezember 2010 anstehende Präsidentenwahl sei daher ein „Lackmustest“. Dieser aber ging schief, und zwar krachend. Lukaschenko und die Hardliner seines Systems hatten – trotz der in Aussicht gestellten Finanzhilfen und Investitionen – keine Lust auf Öffnung, was sie am Abend der Präsidentschaftswahl und in den folgenden Monaten unmissverständlich unter Beweis stellten. Die sieben oppositionellen Präsidentschaftskandidaten wurden am Tag der Wahl oder später festgenommen, sie wurden teilweise geschlagen, später in Haft gefoltert. Bis zu 40.000 Menschen gingen an jenem kalten Dezemberabend auf die Straße, allerdings nur in Minsk, in anderen Städten blieb es – wie bis dahin üblich – ruhig.

Der Tross zog vom Oktoberplatz vor das Parlament am Platz der Unabhängigkeit. Dann schlug die hochgerüstete Staatsmacht zu, mehr als 600 Personen wurden festgenommen. In den darauffolgenden Monaten ging das Regime weiter gegen Politiker, Aktivisten oder Kulturschaffende vor. Die Nischen, in denen sich Opposition, Organisationen, Initiativen, Kultur und all diejenigen austoben konnten, die an ein anderes Belarus glaubten, wurden wieder mal eingehegt. Die Liberalisierung war beendet.

Protest gegen das Untertanentum

Aber auch die Repressionswelle ebbte nach ein paar Monaten wieder ab. Vor wirklichen Massenunruhen musste sich Lukaschenko lange Zeit nicht fürchten. Die letzten hatte er in den Jahren 1995 und 1996 blutig niedergeschlagen. Danach professionalisierte er seinen Sicherheitsapparat. Mit verschärften Gesetzen und gezielten Festnahmen trieb man den Unzufriedenen und Freiheitssüchtigen ihren Protestwillen aus, die ihre Aktivitäten in Medienprojekte, in zivilgesellschaftliche oder kulturelle Strukturen verlegten. Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützte Lukaschenko – für einen kleinen, bescheidenen Wohlstand, der sich in den 2000ern einstellte, für sichere Arbeitsplätze in den Staatsbetrieben, für kleine, aber stabile Renten. Man kann es auch so formulieren: Die Mehrheit ließ sich von Lukaschenko anstandslos beherrschen – etwas, das die Belarussen in vielen Jahrhunderten unter Fremdherrschern aus Litauen, Polen, Russland oder Nazideutschland perfektioniert haben.

Die Proteste im Jahr 2020 richteten sich auch gegen dieses kultivierte Untertanentum. Viele Belarussen wollen nun ihre Geschicke und die des Landes selbst in die Hand nehmen. Deswegen ist die gegenwärtige Lage völlig anders. Die Repressionen haben eine neue Qualität, weil die Proteste eine neue Qualität hatten. Sie besaßen die Kraft, Lukaschenkos Macht herauszufordern. Auch Umfragen des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) oder von Chatham House zeigen: Nach wie vor sind es rund 30 beziehungsweise 36 Prozent der Befragten, die die Proteste und Swetlana Tichanowskaja unterstützen.

Zerrissene Gesellschaft

Warum aber gehen die Menschen nicht mehr auf die Straße? Weil sie Angst haben. Belarussen sind durchaus pragmatisch veranlagt. Sie begreifen, dass die Zeit noch nicht gekommen ist, um die eigenen Interessen umzusetzen. Dennoch haben sie anscheinend keine Angst, ihren ungebrochenen Protestwillen den Soziologen kundzutun, was man wiederum auch als starkes Zeichen interpretieren kann. Denn die Zahlen aus dem vergangenen Jahr, als noch nicht absehbar war, wie brutal und langfristig das Regime gegen seine eigene Bevölkerung vorgehen würde, haben sich unter den Protestunterstützern nicht merklich verändert.

Für diese Gruppe hat Lukaschenko eindeutig seine Legitimität verloren. Eine noch viel größere Gruppe hat allerdings das Vertrauen in staatliche Institutionen verloren. Kann es dem Apparat gelingen, den Protestwilligen langfristig ihre Protestbereitschaft und ihren tief sitzenden Wunsch nach politischen Freiheiten vollends auszutreiben? Kann sich das Regime das Vertrauen zurückholen, und zwar mit Gewalt? Umfragewerte zeigen allerdings auch, dass rund ein Drittel der Bevölkerung weiterhin Lukaschenko unterstützt (bis zu 36 Prozent geben sich neutral). Die Gesellschaft ist also zerrissen. Zwei zahlenmäßig starke Gruppen stehen einander unversöhnlich gegenüber.

Die eine Gruppe – Lukaschenkos Unterstützer – hat zugelassen, dass andere geschlagen, gefoltert und auch getötet wurden, sie war mitunter selbst daran beteiligt. Die Protestler hingegen leiden unter den Repressionen und der Gewalt, was für Wut und Verzweiflung sorgt. Und für tiefgreifende Traumatisierungen, deren Folgen die Wege in die Zukunft, wie immer sie aussehen mögen, auf Jahre verwerfen werden. Was Lukaschenko Sorgen machen sollte: All die Menschen, die durch die Proteste einen rapiden Lern- und Reifeprozess erfahren haben, wird der Autokrat nicht mundtot machen oder aus dem Land drängen können. Félix Krawatzek, Wissenschaftler am ZOiS, meint: „Wir sehen einen harten Kern der Bevölkerung, der sich durch die massiven Repressionen nicht hat einschüchtern lassen und stattdessen weiterhin das persönliche Risiko in Kauf nimmt, welches mit öffentlichem Widerstand gegen das Regime verbunden ist.“

Unaufhaltsame Aufrüstung

Ob dieser Kern seine Wut wieder auf die Straße trägt? Das lässt sich im Moment nicht sagen. Aber aus Lukaschenkos Warte gesprochen: Die Gefahr besteht. Deswegen radikalisiert und militarisiert sich das Regime an allen Ecken und Enden. Es verpuppt sich, wie der Politologe Waleri Karbalewitsch erklärt. Alle Ressourcen werden auf ein Ziel konzentriert und staatliche Mechanismen einem Ziel untergeordnet: möglichst effektiv gegen aufkeimenden Widerstand vorgehen zu können und sicherzustellen, dass der Repressionsapparat loyal seine Arbeit verrichtet. Dazu wurden im Laufe des Jahres viele hohe Posten an ausgewiesene Geheimdienstler vergeben, darunter im Oktober auch das Justizministerium oder die Leitung der Akademie der Wissenschaften.

Stoppen lässt sich diese Radikalisierung kaum. Alexander Klaskowski, ein Politikanalyst und Journalist, der ebenfalls aus Angst vor Verfolgung das Land verlassen musste, drückt es so aus: „Es ist ein Teufelskreis. Die Regierung hat sich in permanente Repressionen manövriert, und je brutaler die Repressionen werden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass selbst homöopathische Lockerungen Prozesse in Gang setzen, die für die Regierung verheerend wären. Ganz wie in dem chinesischen Sprichwort: Wer auf dem Tiger reitet, kann schlecht absteigen.“

Jede kleine Öffnung birgt das Risiko, dass sich wieder Protest regen könnte, angeleitet von den oppositionellen Strukturen, die sich unter Tichanowskaja in Vilnius oder unter Pawel Latuschko in Warschau befinden. Sie arbeiten von dort aus mit zahlreichen vernetzten Aktivistengruppen in der Diaspora an einer Fortführung der Revolution. Deswegen hat Lukaschenko anscheinend nahezu panische Angst, den Protestwilligen im Land einen Anlass zu bieten, ihren Unmut wieder auf die Straße zu tragen.

Ominöse Verfassungsreform

Wahlen, auch wenn sie keine sind, bieten in Belarus traditionell solch einen Raum. So wurden die für Januar angesetzten Kommunalwahlen bereits verschoben. Sie sollen nun zeitgleich mit den Wahlen zum achten Repräsentantenhaus stattfinden, die bis zum 5. November 2023 stattfinden. Die Verschiebung wurde sogar durch ein eigenes Gesetz abgesegnet.

Und dann sind da noch die ominösen Verfassungsreformen, die Lukaschenko auf der Höhe der Proteste selbst initiiert hat – ganz sicher auch, um die Demonstranten zu besänftigen. Allerdings fand auch der Kreml Gefallen an der Idee, Lukaschenkos Macht durch eine Verfassungsreform einzuhegen, was man daran ablesen kann, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow seit über einem Jahr mehrere Male auf die Bedeutung dieser Reformen hingewiesen hat. Eine Kommission arbeitet seit Beginn 2021 an Vorschlägen, wobei bis jetzt nur klar ist, dass Lukaschenko sich seine Macht mitnichten einschränken lassen wird. Pro forma soll ihm die Allbelarussische Nationalversammlung als höchstes Kontrollgremium vorgeschaltet werden.

Allerdings birgt ein Referendum, mit dem die Reformen beschlossen werden sollen, Gefahren für das Regime. So sagte Lukaschenko im Oktober: „Als ein mögliches Datum für den nächsten Revolutionsversuch (Tag X, wie es heißt) ziehen sie die Zeit des Verfassungsreferendums in Betracht.“ Dieses war ursprünglich für Februar vorgesehen, was mittlerweile wieder verworfen wurde. Es ist unwahrscheinlich, dass die verängstigte Gesellschaft in der aktuellen Situation wieder zum Mut des vergangenen Sommers findet. Aber allein dadurch, dass Lukaschenko die Gefahr eines Umsturzversuchs betont, legitimiert er die Fortführung der Repressionen.

Der Machtapparat ist losgelöst

Es ist ein Zeichen an den eigenen Apparat: loyal zu bleiben, wachsam und aktiv zu sein, denn der Feind kann jederzeit zuschlagen. Klaskowski dazu: „Obwohl das alles nur Phobien sind, werden sie dazu führen, dass die Daumenschrauben noch mal angezogen werden und der letzte Rest an Kritik bis hin zum Referendum ausgemerzt wird.“ Aber was erlaubt es Lukaschenko überhaupt, die Zügel derart straff in der Hand zu halten? Es gab zwar den einen oder anderen Botschafter, den einen oder anderen Milizionär oder Staatsbeamten, die ihre Loyalität aufgekündigt haben, doch im Prinzip ist die große Erosion der Machtvertikalen ausgeblieben.

Die Gründe dafür erklärt Karbalewitsch so: „Für Gegner des Regimes gibt es im Staatsapparat und dem politischen System als Ganzem keinerlei Anknüpfungspunkte. Seit einem Vierteljahrhundert existiert die Opposition im Modus vom Status her außerhalb des Systems.“ Die Machtvertikale, die Lukaschenko von oben persönlich bestimmt, sei solide wie ein Monolith. „Der Staatsapparat existiert unabhängig vom Volk und reagiert deshalb nicht auf dessen Forderungen, sondern bleibt loyal gegenüber dem, der ihn geschaffen hat.“

Dazu kommt, dass der Staat der größte Arbeitgeber im Land ist. Das ermöglicht der Regierung eine staatliche Kontrolle der Gesellschaft. „Politische Repressionen werden nicht nur durch die Rechtsschutzorgane und die Sicherheitsdienste umgesetzt, sondern durch alle staatlichen Strukturen.“

Ambivalentes Verhältnis zu Putin

Eine der entscheidenden Fragen für die Zukunft wird also sein, inwieweit Lukaschenko seine eigene Anhängerschaft mobilisieren kann. Bei den vereinzelten Pro-Lukaschenko-Demos, die es im vergangenen Jahr gab, ging es allerdings sehr steif und wenig leidenschaftlich zu. Die Leute schwenkten Fähnchen und zeigten Plakate, die ihnen wohl in die Hand gedrückt wurden. Das Ganze wirkte inszeniert wie jene neosowjetischen Paraden, die der Staat am Tag der Unabhängigkeit abhalten lässt.

Dass der Repressionsapparat so reibungslos läuft, hat Lukaschenko aber nicht nur der Loyalität seiner Leute und der straffen Organisation seiner Macht zu verdanken – sondern auch Wladimir Putin. Der russische Präsident, den Lukaschenko vielleicht etwas zu demonstrativ „Bruder“ nennt, hält seinem autokratischen Kollegen den Rücken frei und unterstützt ihn mit billigem Öl (das in Belarus raffiniert und gen Westen weiterverkauft wird) und Gas sowie mit Krediten. Und zwar nicht nur, um die angeschlagene belarussische Wirtschaft (die seit 2012 nicht mehr gewachsen ist) zu subventionieren, sondern auch um Lukaschenkos Repressionsapparat am Leben zu halten.

2020 hat Lukaschenko allerdings einen Wahlkampf geführt, der die eigene Souveränität betonte, wobei er den Kreml als größte Bedrohung für eben diese Souveränität darstellte. Lukaschenkos Trumpfkarte ist die Lage von Belarus als Pufferzone zur EU, zur Nato und zu den liberalen Demokratien. Zudem fließen russisches Öl und Gas durch Belarus in Richtung EU. Lukaschenko steht dafür ein, diese Sphäre nicht verlassen zu wollen. In der Vergangenheit bandelte er aber auch immer wieder mit der EU an, um sich Handlungsspielräume offenzuhalten und um Putin im Gegenzug weitere Zugeständnisse oder Kredite abzupressen.

Konfrontation mit der EU

Dieses Lavieren ist seit den Protesten vorbei. Die EU bringt mittlerweile das fünfte Sanktionspaket auf den Weg; zum ersten Mal soll das unbequeme Regime mit Wirtschaftssanktionen geschwächt werden. Ob das gelingt, lässt sich aktuell noch schwer sagen. In Bezug auf Lukaschenkos Umtriebe verfügt die EU grundsätzlich kaum über starke Hebel. Platt gesagt: Panzer wird man kaum schicken, um die politischen Gefangenen zu befreien. Für solch waghalsige Abenteuer wäre Belarus auch nicht wichtig genug.

Also setzt man auf die moralische und politische Unterstützung der Opposition und der zivilgesellschaftlichen Strukturen in der Diaspora. Dass sein Regime zusehends isoliert ist, weil es von der demokratischen Staatenwelt nicht mehr anerkannt wird, dürfte Lukaschenko kaum interessieren. In die Ecke gedrängt, entfaltet der 67-Jährige zuweilen erstaunlich findige Strategien, um sich neue Optionen zu schaffen. Derzeit macht er sich einen Spaß daraus, die Schwächen der EU-Flüchtlingspolitik aufzuzeigen, indem er Kurden, Syrer oder Afghanen über die Grenzen in Richtung EU schleust, um dort für Chaos zu sorgen.

Allerdings ergeben sich für Lukaschenko zahlreiche fundamentale Probleme, die ihn mittelfristig doch seine Macht kosten könnten. Denn er hat Russland zwar auf seiner Seite, weil es ihm gelungen ist, die Krise in seinem Land als geopolitischen Konflikt zu verkaufen nach dem Motto: Wenn der Westen das weißrussische Regime zu Fall bringt, ist der Kreml als Nächstes an der Reihe.

Russische Perspektive

Für Putin ergibt sich aus dieser Situation jedoch ein entscheidender Vorteil: Der jetzt schon erhebliche (vor allem wirtschaftliche) Einfluss Russlands in Belarus wird größer. Was dem Kreml bisher fehlte, ist der Zugriff auf das innere Gefüge des Lukaschenko-Apparats. Den hat der erfahrene Autokrat gegen Einflüsse von außen abgesichert, mit loyalen Leuten und durch regelmäßige Rochaden und Festnahmen, die verhindern, dass Funktionäre zu mächtig werden und Eigeninteressen aufbauen könnten.

Also nutzt der Kreml andere Druckmittel: die Gas- und Ölpreise, von denen sich Lukaschenko wünscht, dass sie russisches Niveau nicht übersteigen – was der Kreml aber ablehnt. Der im September versprochene Kredit über 630 Millionen US-Dollar wiederum soll nur tranchenweise an Lukaschenko fließen, bis Ende 2023. Wie bedingungslose Solidarität wirkt das alles nicht.

Ein weiteres Teil im Machtpuzzle ist die Integration von Belarus in den Unionsstaat mit Russland, die 1999 vertraglich vereinbart, aber niemals wirklich umgesetzt wurde. Denn Lukaschenko ist entgegen seinen Beteuerungen immer wieder zurückgerudert, wenn es ernst wurde. So noch im Dezember 2019, als er die Unterschrift unter einem Vertrag, der den Unionsstaat endlich vertiefen sollte, verweigerte. Mit seiner Launenhaftigkeit und Dreistigkeit macht sich Lukaschenko denn auch keine Freunde im Nachbarland. Der russische Wirtschaftsexperte Andrej Suzdaltsew sagt: „Der Gesamtbetrag an Subventionen, Zuschüssen, Abschreibungen und Darlehen, die Belarus seit 20 Jahren nicht zurückzahlt, sondern überzieht, belief sich zum 1. Januar 2021 auf 147 Milliarden Dollar.“ Deswegen urteilt Suzdaltsew: „Er ist ein Verbündeter unseres Geldes, unseres Gases, unseres Öls – aber nicht des russischen Volkes.“ Mit anderen Worten: Für Putin ist Lukaschenko nicht nur ein unbequemer Partner, sondern noch dazu wenig von Nutzen für die eigene innenpolitische Rückendeckung.

Warum nicht annektieren?

Ganz im Gegenteil: Besonders die Machtzirkel um Putin dürften immer ungeduldiger mit dem ungehobelten Schnauzbart werden, der so viel russisches Geld kassiert, aber im Gegenzug wenig liefert – außer das Versprechen, sein Land nicht in Richtung Demokratie zu entlassen. Lukaschenko hat sich im Oktober sogar erlaubt, den belarussischen Ableger der Zeitung Komsomolskaja Prawda zu verbieten, die in Russland als wichtiges Sprachrohr für die Politik des Kreml gilt. Bei all dem Ärger könnte man also fragen: Warum schluckt das riesige Russland das kleine Belarus nicht einfach? Eine Annexion aber, wie im Falle der Krim, wäre für Moskau nach seinen Abenteuern in der Ostukraine oder in Syrien ein zu teures und äußerst risikoreiches Unterfangen.

Und bei einem erheblichen Teil der Belarussen haben sich bereits freiheitliche Werte verfestigt. Zudem wünschen sich die meisten Belarussen – das zeigen die Umfragen der letzten Jahre – eine gute Beziehung zu Russland. Aber eines würden sie dafür ganz sicher nicht aufgeben wollen: die Unabhängigkeit. Warum sollte Putin die Belarussen also grundlos gegen sich aufbringen? Lieber forciert der Kreml seine Möglichkeiten, Lukaschenkos Macht einzuhegen und ihn mittelfristig zu einem Transit seiner Macht zu drängen (Stichwort: Verfassungsreform). Ein Belarus, das Lukaschenko vollends in ein „Nordkorea Europas“ verwandelt und das mit immer schärfer werdenden EU-Sanktionen abgestraft wird, würde auch Russland teuer zu stehen kommen, politisch und wirtschaftlich.

Die Luft wird dünn

Die belarussische Staatswirtschaft ist weitgehend marode; die produktive IT-Wirtschaft hat Lukaschenko selbst dezimiert und mit Repressionen weitgehend außer Landes getrieben. Russland spinnt also auf zahlreichen Ebenen ein Netz aus Strukturen und Vereinbarungen, die einerseits garantieren, dass Lukaschenkos Aktionsradius begrenzt wird. Und die andererseits gewährleisten, dass der Kreml seine Interessen auch langfristig in Belarus geltend machen kann. Wenn es trotz allem zu einer Liberalisierung kommen sollte, hätte der Kreml immer noch die Möglichkeit, über prorussische Präsidentschaftskandidaten, Politiker und Parteien seinen Einfluss sicherzustellen.

Dass Lukaschenko sich schon jetzt aus den Fängen der Kremltaktik nicht mehr herauswinden kann, zeigte sich auch am 4. November. An diesem Tag wurden 28 Vertragspakete bei einem Treffen des Obersten Staatsrats, dem höchsten Gremium des Unionsstaats, verabschiedet. Auch wenn es sich dabei nicht um die große politische Integration handelt: Beide Länder wollen die gemeinsame Geld- und Finanzpolitik anpassen und das Steuersystem vereinheitlichen. Zudem soll die militärische Zusammenarbeit ausgebaut werden, was bereits in diesem Jahr sukzessive passiert ist.

Während Lukaschenko aber früher die Möglichkeit offenstand, in solch einer Drucksituation den Hebel umzulegen und sich an die EU, an die Weltbank oder an andere helfende Hände im Westen zu wenden, steckt er nun in der Sackgasse. Auch im Land selbst wird die Vertiefung der Integration – die offensichtlich aus reinem Machtkalkül geschieht und nicht zum Wohl von Belarus – zu einer weiteren gesellschaftlichen Entfremdung von der Staatsmacht führen. Deswegen sieht auch Klaskowski die Lage für Lukaschenko pessimistisch: „Nach August 2020 scheint sich die belarussische Vogelklaue verfangen zu haben.“ Putin ließ sich bei der Unterzeichnung des neuen Integrationspakets übrigens von einem ganz besonderen Ort zuschalten, den Lukaschenko bis heute nicht als russisches Territorium anerkannt hat: der Krim.

 

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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