Wahl zur Johnson-Nachfolge - Was Europas Konservative von den Tories lernen können

Ab heute können die Mitglieder der britischen Conservative Party über die Nachfolge von Boris Johnson als Parteivorsitzender und Premierminister abstimmen. Zur Wahl stehen Liz Truss und Rishi Sunak. Beide Kandidaten stehen, wie ihr Vorgänger, für ideologische Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an den Willen der Wähler - ein Erfolgsmodell der Tories seit fast 200 Jahren, das anderen konservativen Parteien als Vorbild dienen sollte.

Wirtschaft statt Kulturkampf: Rishi Sunak und Liz Truss / dpa
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Autoreninfo

Christian Schnee studierte Geschichte, Politik und Public Relations in England und Schottland. Bis 2019 war er zunächst Senior Lecturer an der Universität von Worcester und übernahm später die Leitung des MA-Studiengangs in Public Relations an der Business School der Universität Greenwich. Seit 2015 ist er britischer Staatsbürger und arbeitet als Dozent für Politik in London.

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Die britischen Konservativen wählen nicht nur ihren neuen Vorsitzenden und Premierminister als Nachfolger von Boris Johnson. Die Auswahl der Kandidaten und die Diskussion unter Abgeordneten und Mitgliedern über kurzfristige Ziele und langfristige Inhalte der künftigen Regierungspolitik ist zur Standortbestimmung konservativer Politik der kommenden Jahre geworden. Die Antworten, mit denen sich die beiden Bewerber, Liz Truss und Rishi Sunak, vor ihren Mitgliedern präsentieren, dienen dabei nicht nur der Kursbestimmung in Europas ältester konservativer Partei. Auch auf dem europäischen Festland und in Nordamerika verfolgen bürgerliche Politiker den Diskurs im Vereinigten Königreich aufmerksam, weil sie vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie die britische Regierungspartei.

Die Tories taugen nicht zuletzt deshalb als Vorbild, weil es ihnen seit ihrer Gründung als Partei aristokratischer Großgrundbesitzer vor rund 180 Jahren gelungen ist, sich oft und radikal neu zu erfinden, um bis heute in einer multikulturellen Gesellschaft relevant und vor allem wählbar zu bleiben. So gab beispielsweise Benjamin Disraeli die Verteidigung der königlichen Prärogative und aristokratischer Privilegien gegen demokratische Forderungen der liberalen Whigs auf, als er erkannte, dass die Ausweitung des Wahlrechts nicht mehr zu stoppen sein würde. Mehr noch: Als Premierminister vollzog der konservative Disraeli die extreme Kehrtwende und bewilligte auch Industriearbeitern das Stimmrecht bei Wahlen zum Unterhaus.

Seither galt für die Tories die Maxime Tancredis in Tomasi di Lampedusas Roman „Der Leopard“: „Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.“ Oder anders gesagt: Wollten Konservative auch in Zukunft ihre politische Macht erhalten, musste sich ihre Politik radikal dem gesellschaftlichen Wandel anpassen. Ein Rat, der die Tories seit knapp zwei Jahrhunderten zur erfolgreichsten Wahlkampfmaschine in Europa macht. Diese Erfahrung mag auch deutschen Christdemokraten vertraut sein, die gelegentlich dem vermeintlichen Verlust eines unverkennbar konservativen Markenkerns nachtrauern: Gerade die rasche und geschmeidige Wandlungsfähigkeit bürgerlicher Parteien gilt als Rezept für den Erfolg an der Wahlurne.

Beide Kandidaten bekennen sich zu keiner Ideologie

Ideologische Selbstbeschränkung ist auch heute wieder Schlüssel zum Erfolg konservativer Kandidaten. Truss und Sunak, die beiden Rivalen um den Job des Partei- und Regierungschefs, bekennen sich zu keiner Ideologie und ringen allenfalls um Prinzipien, die relativ frei austauschbar sind und nicht selten sogar widersprüchlich erscheinen: Der starke, regulierende Staat findet in ihren Plänen ebenso seine Rolle wie die Förderung von Eigenverantwortung und persönlicher Initiative. Ungeteilte nationale Souveränität und strikte Kontrolle des Grenzverkehrs wird von ihren Anhängern so sehr geschätzt wie offene Märkte und freier Austausch von Waren und Dienstleistungen. Das taktische Hakenschlagen der Parteiführung bekamen Unternehmer und Wirtschaftswissenschaftler für ihren Widerstand gegen den Brexit zu spüren. Wenig charmant und sehr öffentlich schleuderte Boris Johnson ihnen seinerzeit ein „Fuck Business!“ entgegen, weil er sich des Applaus vieler Wähler sicher war. Sein Adlatus Michael Gove präzisierte damals die Haltung mit dem Hinweis, die Menschen hätten keine Lust mehr auf die Meinungen von Experten.

 

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Seit nun am Horizont die Rezession droht, haben die Konservativen Ton und Inhalt den Erfordernissen angepasst, und so ködern die Kandidaten um den Parteivorsitz nun wieder Investoren und Unternehmer mit dem Versprechen von Steuersenkungen und radikaler Deregulierung. Orientierungslosigkeit und Zickzackkurs nennt das der politische Gegner und verkennt, dass skrupellose Anpassungsfähigkeit in Wahrheit eine pragmatische Tugend ist. Ohne diese Bereitschaft zu äußerster ideologischer Flexibilität wären für Konservative im 21. Jahrhundert kaum Mehrheiten zu gewinnen. Tatsächlich gewann Boris Johnson mit seiner Unterstützung für den Brexit erstmals Gegner des freien Handels und Verlierer der Globalisierung für seine Partei, in der über Jahrzehnte der Geldadel wesentlich die politische Linie bestimmt hatte. Um auch beim nächsten Wahltermin auf ihre neue Klientel zählen zu können, versprechen die Tories nunmehr einen interventionistischen Staat, der als Investor und Projektentwickler in Städten und Regionen im Norden auftritt, die so den Anschluss an den wirtschaftlich boomenden Süden des Landes wiederfinden wollen. Parteistrategen in den europäischen Nachbarstaaten lehrt das britische Beispiel, wie die ungewöhnliche Allianz aus wohlhabenden Gewinnern und strauchelnden Verlierern des internationalen ökonomischen Wettbewerbs Mehrheiten rechts der Mitte sichern kann im Wettstreit mit liberaler, sozialdemokratischer und sozialistischer Konkurrenz.

Truss und Sunak haben erkannt, dass Identitätspolitik bei den Wählern nicht auf Interesse stößt

Der Vorwurf seiner Gegner, Boris Johnson habe hehre Grundsätze konservativer Politik verraten, wird dem scheidenden Regierungschef nicht gerecht. Wie seine Vorgänger richtete er seine Prinzipien nur immer wieder neu nach der Stimmung seiner Wähler aus: zunächst als Sozialdemokrat in der Studentenpolitik in Oxford, später als liberaler Bürgermeister im hypermultikulturellen London, zuletzt als Brexiteer mit patriotischem Vokabular. Mit dieser Taktik bietet sich Johnson konservativen Spitzenkandidaten in Europa und Nordamerika als Vorbild an. Schließlich war er über Jahre hinweg ein Dauerwahlsieger mit makelloser Bilanz – bis die eigene Partei ihn zum Rücktritt zwang. Der weltanschaulich flexible Johnson kann sich übrigens auf Winston Churchill berufen, der sich 1951 mit der Verstaatlichung von Energie-, Stahl- und Transportunternehmen durch die Labour-Regierung Ende der 1940er-Jahre ebenso rasch arrangierte wie mit der Umwandlung privater Krankenhäuser und Arztpraxen in einen staatlichen Gesundheitsdienst. Der Staat als Unternehmer und Manager gewann die Zustimmung der Konservativen, weil eine alternative Politik dem gesellschaftlichen Konsens widersprochen und so die Fortune der Partei an der Wahlurne gefährdet hätte.

Zwanzig Jahre später setzte sich der Tory Edward Heath an die Spitze der proeuropäischen Bewegung im Vereinigten Königreich, stellte die unbeschränkte britische Souveränität zur Disposition und führte sein Land in die Europäische Gemeinschaft. Die politische Richtung der Tories mäanderte mit der Zeit, um den Machterhalt zu sichern. Diese Erfolgsmaxime erklärt, wieso Margaret Thatcher von einer glühenden Anhängerin der Europäischen Gemeinschaft zu einer erbitterten Gegnerin wurde. Auch die traditionelle Unterstützung der Tories für Staatsbetriebe gab sie auf und privatisierte wie nie zuvor, als die Präferenzen ihrer Wähler und Mitglieder diesen Kurswechsel möglich machten. Die Botschaft für Protagonisten konservativer Politik in Europa lautet: Prinzipienfestigkeit gehört ins Repertoire der Marketingabteilung und Redenschreiber, sollte aber weltanschauliche Flexibilität nicht behindern. So lässt sich konservativer Beharrungswille mit der rasanten wirtschaftlichen und kulturellen Dynamik des 21. Jahrhunderts versöhnen.

Unterdessen widerlegen Liz Truss und Rishi Sunak Prognosen der vergangenen Jahre, wonach die ideologischen Lager den Schlagabtausch über die faire Verteilung ökonomischer Ressourcen überwunden haben und sich stattdessen Kulturkämpfen verschreiben. Für den neuen Vorsitzenden der Tories steht der Streit um Inklusivität und Diversität, den rechtlichen Status der Transgender-Community, die Bedrohung durch Cancel Culture, den Umgang mit ethnischen Minderheiten sowie das Ringen um Entkolonisierung von Lehrplänen und Fernsehprogrammen ganz unten auf der Prioritätenliste. Damit nimmt die Themenwahl der Partei erneut einen gesellschaftlichen Stimmungswandel vorweg, der ebenso Politiker auf dem europäischen Kontinent und in Nordamerika betrifft. Denn Truss und Sunak haben erkannt, dass die Klagen der MeToo-Bewegung, die Forderungen von Black Lives Matter sowie anderer Gruppen mit identitätspolitischer Agenda in Zeiten hoher Inflation, stagnierender Wirtschaftszahlen und militärischer Bedrohung bei den meisten Bürgern kaum auf Interesse stoßen.

Solide konservative Politik kümmert sich um die Kaufkraft der Menschen

Die neue bedrohliche Realität des Jahres 2022 erlaubt Konservativen eine Rückbesinnung auf ihre Rezepte zum Erhalt des bröckelnden Wohlstands und bedrohter Grenzen. Solide konservative Politik, so lautet die Botschaft aus der Zentrale der britischen Tories in diesen Tagen, kümmert sich um die Kaufkraft der Menschen und lässt sich nicht von vermeintlichen Kreuzzügen um gendergerechte Schreibweise ablenken. Der erfolgreiche Steuermann der Volkswirtschaft ist umsichtig, vertraut auf die Klugheit der Unternehmer und misstraut kostspieliger Umverteilungspolitik. Nicht ganz zufällig erinnern diese Slogans an das Mantra Margaret Thatchers, die in den 1980er-Jahren die Geschäftstugenden ihres Vaters, eines selbständigen Gemüsehändlers, zur Maxime volkswirtschaftlicher Klugheit erklärte. Ein politischer Paradigmenwechsel in westlichen Ländern seit Jahresbeginn erklärt die Renaissance dieser traditionellen Grundsätze, mit denen nicht nur die Kandidaten um den Vorsitz der Tories, sondern auch Konservative jenseits des Vereinigten Königreichs Sympathie und Anerkennung gewinnen können.

Dass die Rolle des zuverlässigen Managers der Volkswirtschaft langfristig als Strategie zum Machterhalt nicht ausreicht, erkannte bereits David Cameron, der den Tories nach 2005 einen Kurswechsel in der Umwelt- und Gesellschaftspolitik verschrieb. Camerons Votum für gleichgeschlechtliche Ehen verstanden Konservative vielerorts in Europa als ein Angebot an ein liberales Großstadtmilieu, das Parteien rechts der Mitte gewöhnlich skeptisch gegenübersteht. Sein Nachfolger Boris Johnson gewann Respekt in der gleichen Zielgruppe mit seinem Versprechen, das Land bis 2050 klimaneutral zu machen. Diesen modernen Kurs kombinieren die Tories auch in Zukunft mit Tönen und Inhalten, die nicht nur ihrer traditionellen Klientel gefallen, sondern auch weit ins Lager der politischen Gegenseite Sympathisanten finden.

Vor allem in der Flüchtlingspolitik wollen sowohl Sunak als auch Truss eine Initiative vorantreiben, die von Parteien in ganz Europa mit Interesse verfolgt wird. Das Ziel ist es, den Flüchtlingsstrom über den Ärmelkanal zu stoppen und Schlepperbanden das Handwerk zu legen. Dafür sollen männliche Flüchtlinge, sobald sie die Strände der Südküste erreichen, per Flugzeug ins afrikanische Ruanda gebracht werden, wo sie ihren Asylantrag stellen können. Sollte der neue Partei- und Regierungschef mit dieser Politik Erfolg haben, können die Tories damit einmal mehr zum Ideengeber werden für Konservative in Europa und darüber hinaus.

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