Der verlorene Krieg in Afghanistan - Ein chaotisches Ende war programmiert

US-Präsident Joe Biden muss sich wegen der Umstände des Truppenabzugs Kritik von allen Seiten gefallen lassen. Dabei hat er nur getan, wovor seine Vorgänger sich fast zwei Jahrzehnte lang gedrückt haben: Afghanistan zu verlassen, und zwar möglichst schnell.

US-Präsident Joe Biden bei einer Videokonferenz mit dem nationalen Sicherheitsteam / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Ich war schockiert über die jüngsten Ereignisse in Afghanistan. Nicht, weil ich nicht damit gerechnet hätte – der amerikanische Präsident Joe Biden hatte ja längst angekündigt, dass das Militär abziehen würde. Sondern weil die Menschen zu erwarten schienen, dass der Abzug irgendwie geordnet ablaufen würde. Die Taliban und die Vereinigten Staaten hatten 20 Jahre lang einen Krieg geführt. Die USA zogen in der Niederlage ab. Die Taliban übernahmen schnell wieder die Kontrolle und nahmen diejenigen gefangen, die mit dem Feind kollaborierten – mit der offensichtlichen Freude, dass der Krieg vorbei war und sie den Sieg davongetragen hatten. 

Schockiert hat mich vielmehr, dass die Menschen nicht verstanden, wie eine solche Niederlage aussieht.

Ebenso schockierend war damals die Entscheidung Amerikas, in Afghanistan, auf diesem Friedhof der Imperien, in den Krieg zu ziehen – wie auch die Entscheidung der nachfolgenden Präsidenten, dort zwei Jahrzehnte lang zu bleiben. Kriege sind keine Gesten. In einem Krieg zu bleiben, ist die wichtigste Entscheidung, die ein Staatsoberhaupt treffen kann, und zu verlieren ist ein schreckliches Ergebnis.

Der 11. September als Auslöser

Der Krieg begann, bevor die Toten und Verwundeten von 9/11 gezählt waren. Es ist bemerkenswert, dass jeder, der 25 Jahre oder darunter ist, zu jung ist, um sich daran zu erinnern. Alle anderen von uns erinnern sich an diesen Tag. Es war das Pearl Harbor unserer Zeit – der Angriff eines Feindes, von dem wir nicht glaubten, dass er die Gerissenheit besaß, eine solche Attacke durchzuführen. Der gut organisierte und brillant durchdachte Angriff wurde von Männern ausgeführt, die bereit waren, im Angesicht des sicheren Todes ruhig zu bleiben. Diese Art von Willen war unserem eigenen Pflichtgefühl völlig fremd, und es stellte sich die Frage, wie man Menschen, die solche Anschläge verüben, aufhalten kann. Solche Menschen könnten, wenn sie so sorgfältig planen wie beim 11. September, weitere unvorhersehbare Anschläge verüben.

Ich kenne viele, die behaupten, der 11. September habe sie nicht erschreckt. Sie belügen sich selbst. Die ganze Nation war entsetzt, und diejenigen, die es nicht waren, hatten keinen Bezug zur Realität. Das Schlimmste war, dass wir nicht wirklich wussten, um was es sich bei al-Qaida handelte oder wie viele weitere ihrer Terrorzellen unter uns lebten. Wir befürchteten, dass der nächste Angriff mit chemischen oder nuklearen Waffen weitaus schlimmer sein könnte. Wenn 9/11 passieren konnte, dann konnte alles passieren.

So begann der Krieg in Afghanistan: mit einer Welle des Terrors, die die Vereinigten Staaten erfasste. Ich erinnere mich, wie ich an dem Tag, an dem die Fluggesellschaften wieder flogen, zu einer Konferenz unterwegs war, in der Maschine saß und meine Mitreisenden beobachtete. Sie überlegten genau wie ich, was sie tun würden, wenn plötzlich jemand aufstehen und auf das Cockpit zusteuern würde. In jenen frühen Tagen lebten wir alle ein Leben, das so nicht aufrechterhalten werden konnte. Wir alle wollten etwas tun. 

Es gab keinen Plan für einen Krieg

Da wir Amerikaner sind, gingen wir auf Versammlungen. Die Menschen verlangten vom Präsidenten, dem zu Recht oder zu Unrecht vorgeworfen wurde, das Land nicht zu beschützt zu haben, irgendwelche Maßnahmen. Also tat er das Einzige, was jedem einfiel: Er versuchte, Osama bin Laden, den Anführer von al-Qaida, der in Afghanistan vermutet wurde, dingfest zu machen. Die USA wussten eine Menge über Afghanistan, da sie mit den Mudschaheddin zusammengearbeitet hatten, um die Sowjets zu besiegen. Sie nahmen bin Ladens Spuren auf und schickten CIA-Agenten, die am Krieg gegen die Sowjets teilgenommen hatten, sowie einige Spezialeinheiten und Marines. Es gab keinen Plan für einen Krieg, sondern nur für eine Razzia, um ihn zu schnappen – tot oder lebendig.

Die Operation in Afghanistan war zum Scheitern verurteilt. Bin Ladens Geheimdienstnetz war besser als das von Washington. Als er vor den Einsatzplänen gegen ihn gewarnt wurde, flüchtete er bei Tora Bora nach Pakistan. 

Daraus ergaben sich für mich zwei Dinge. Erstens war der pakistanische Geheimdienst ISI bereit, bin Laden Unterschlupf zu gewähren. Und daraus folgerte ich, dass ein bedeutender Teil der pakistanischen Regierung bereit war, die Ereignisse in Afghanistan zu beeinflussen – zumal die Geographie des paschtunischen Volkes über die afghanisch-pakistanische Grenze hinausreichte. 

Die Vereinigten Staaten hatten sich mit den Pakistanern verbündet, um die Mudschaheddin aus der Taufe zu heben und die Sowjets zu besiegen. Jetzt ging diese Gruppe, die immer noch mit Pakistan verbunden war, gegen die Vereinigten Staaten vor. Ganz gleich, ob die Pakistaner die Vereinigten Staaten belogen oder in die Opposition zu Amerika abdrifteten: Washingtons einziger potenzieller Verbündeter, und ein sehr wichtiger noch dazu, versagte offensichtlich seine volle Unterstützung.

Die Illusion des „Nation Building“

Meine zweite Schlussfolgerung damals: Nachdem die USA an ihrer Hauptaufgabe, der Ergreifung bin Ladens, gescheitert waren, würden sie nicht das Logische tun und den Kampf woanders hin verlagern. Sondern stattdessen ihrem Regelwerk des „Nation Building“ folgen. Das hatte nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und in Japan funktioniert, so dachten die Verantwortlichen – also würde es auch in Afghanistan funktionieren.

Wenn die USA zu einer dieser moralischen Reformmissionen aufbrechen und scheitern, ist es logisch, dass sie abziehen. Wenn sie abziehen, sieht es so aus, als hätten die Vereinigten Staaten eine Niederlage erlitten – denn die Vereinigten Staaten wurden besiegt. Es wäre logisch gewesen, die Einsatzkräfte aus Afghanistan wieder abzuziehen, nachdem man bin Ladens Spur verloren hatte. Aber dann hätten die Leute gefragt, warum der Präsident es nicht geschafft hatte, bin Laden zu stellen – gerade so, als ob Präsidenten mehr wären als bloße Zuschauer in einem verdeckten Krieg. Doch je mehr Zeit zwischen dem Scheitern in Tora Bora und dem Abzug des US-Militärs verging, desto mehr verwandelte sich die Jagd nach einem Terrorführer in einen Krieg der Transformation und Erlösung – des afghanischen Volkes.

Die Medien haben Biden jetzt wegen seiner angeblichen Inkompetenz schwere Vorwürfe gemacht. Das impliziert, dass es einen anderen Weg gegeben hätte, um den Krieg zu beenden. Die Sache ist nur die, dass es keinen sinnvollen und nachvollziehbaren Weg gibt, um einen wirklich dummen Krieg zu beenden. Eines Tages beendet man ihn einfach. Im Idealfall lässt der Präsident eine Niederlage wie einen Sieg aussehen. 

In den Talkshowrunden mag man sich darüber auslassen, wie inkompetent Biden ist – ohne freilich zu sagen, wie man es anders hätte machen sollen. Letztendlich hätte die einzige Möglichkeit, um das endgültige Fiasko zu vermeiden, in der Fortsetzung des Krieges bestanden. Als klar war, dass die USA abziehen würden, haben die Taliban eine Großoffensive gestartet. Was hätten sie sonst tun sollen?

Die gesamte nationale Strategie bestand darin, dass jeder Präsident den Krieg fortsetzte, so dass der nächste Präsident in den sauren Apfel beißen musste. Nach 20 Jahren war es dann schließlich so weit, und das Ende war wenig überraschend. Ein chaotisches Ende war programmiert. Trotzdem sind alle Feierabend-Strategen davon überzeugt, dass Amerika es besser hätten machen können.

Bereit, für ihren Glauben zu sterben

Wirklich erstaunlich ist eigentlich nur, dass die Amerikaner, nachdem sie es den Russen in Afghanistan so schwer wie möglich gemacht hatten, nicht begriffen haben, dass Afghanistan kein Ort für „Nation Building“ ist. Die Taliban glauben an das, was sie glauben, und sind bereit, dafür zu sterben. Amerikas Werte sind ihnen fremd – nicht weil sie sie nicht kennen, sondern weil sie sie verachten. Und die Taliban in ihrem eigenen Revier zu schlagen, kann nicht gelingen. Sie leben dort. Sie werden nirgendwo anders hingehen, weder in 20 noch in 100 Jahren. Wir können uns auf das Schicksal der Frauen oder derjenigen berufen, die für uns gearbeitet haben. Aber wir haben den Krieg verloren, und wir haben keine Wahl.

Rudyard Kipling hätte seinen Spaß mit den amerikanischen Politikern und ihren Kritikern gehabt. Er schrieb eine grundlegende Wahrheit über Afghanistan: „Wenn du verwundet in den Ebenen Afghanistans zurückgelassen wirst und die Frauen herauskommen, um deine Überreste zu zerschneiden, roll dich einfach zu deinem Gewehr, blas dir das Hirn raus und geh zu deinem Gott wie ein Soldat.“

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