Untergangsstimmung in den USA - „We can't breathe“

Corona, Wirtschaftskrise und nun Massenproteste – das Jahr 2020 reißt die USA gleich in eine dreifache Krise. Dabei war gerade der Dissens immer auch die Stärke der Amerikaner. Dieses Mal aber scheinen sich die USA im Jahr der Präsidentschaftswahl am Scheideweg zu befinden.

Die USA, das Land der Proteste - die Unruhen hören nicht auf / dpa
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Autoreninfo

Jahrgang 1964, Dr. phil. der Amerikanischen Kulturgeschichte, ist freiberuflicher PR-Experte und Fundraiser. An der Fresenius-Hochschule München hielt er im WS 2016/17 einen Lehrauftrag zum Thema „Journalismus und PR“ ab.

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Die USA sind in Aufruhr. Seit dem brutalen Erstickungstod des mit dem Coronavirus infizierten Afroamerikaners George Floyd durch das mörderische Vorgehen weißer Polizisten in Minneapolis am 25. Mai 2020 reißen die landesweiten Anti-Rassismus-Proteste nicht ab. US-Präsident Trump droht unverhohlen mit dem Militär, kündigt an, die Mob-Gewalt radikal-linker Krimineller zu stoppen, und lässt auch friedliche Demonstranten mit harter Polizeigewalt vertreiben. Dass dies für einen Fototermin nahe des Weißen Hauses geschah, empört Joe Biden, seinen designierten Herausforderer der Demokraten bei der Wahl im November.

Wo aber führt all das hin? Die Lager in den USA waren bereits weitgehend unversöhnlich gespalten. Aber derzeit, erlebt die Weltmacht eine Gleichzeitigkeit von Krisen, die an den Grundfesten rüttelt. Die Coronakrise dauert an, die Wirtschaftskrise mit vielen Millionen Arbeitslosen ist längst dazugekommen und nun die Massenproteste gegen Rassismus. Kann dieser Situation etwas Positives abgewonnen werden? Es spricht einiges dafür, dass sich die USA gerade tatsächlich auf eine gute Tradition besinnen, auf die der Demokratisierung.

Amerikas Ex-Präsidenten üben Kritik

Während die Bürgerrechtsorganisation ACLU wegen dieser kriminellen Attacke Klage gegen Trump einreicht, haben die vier Ex-Präsidenten außergewöhnlich deutliche Kritik geäußert: Jimmy Carter etwa prangert die unmoralische ökonomische Ungleichheit an; für George W. Bush kämpfen die friedlichen Demonstranten für eine bessere Zukunft; Bill Clinton erinnert an Martin Luther Kings Traum vor 75 Jahren; und der erste afroamerikanische Präsident in der US-Geschichte, Barack Obama, sieht jetzt die Chance, den Rassismus in einem Land zu bekämpfen, das aus Protest gegründet worden sei.

Die Ex-Präsidenten beschwören damit in einer eschatologischen Spannung zwischen „Schon“ und „Noch nicht“ die hoffnungsvoll-protestantische Tradition des Dissens, ohne den die politische Revolution in den amerikanischen Kolonien nicht möglich gewesen wäre. Die Beseitigung der Kluft zwischen Sein und Sollen ist ein Motiv, das sich durch die ganze Kulturgeschichte der USA zieht. Denn seit ihrer Gründung stehen die machtkritischen Ideale der Revolution im ständigen Konflikt mit der Realität politischer Institutionen: ein letztlich unauflösbarer Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

 „The American Creed“

In seinem Buch „American Politics: The Promise of Disharmony“ von 1981 thematisiert der Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington diese vorwärtsdrängende Reibung kognitiver Dissonanzen und der Diskrepanz von „ideals versus institutions”. So sei im Laufe der US-Geschichte die Normallage der institutionalisierten Konfliktaustragung zwischen etablierten Interessensgruppen schon mehrmals unterbrochen worden durch Phasen großer sozialer Protest- und Reformbewegungen. Der Maßstab dieser von den „Graswurzeln“ ausgehenden Demokratisierungswellen, deren Ziel generell die Öffnung des politischen Systems war, sei der „American Creed“.

Unter diesem Nationalglauben versteht Huntington Werte wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Individualismus, Konstitutionalismus, Rechtsstaatlichkeit und Protestantismus. Die USA definierten sich als Nation nicht ethnisch, sondern politisch über die universalistischen Ideale der Revolution. Die „Ursünde“ bestand jedoch in dem eklatanten Widerspruch zwischen dem Ideal der Unabhängigkeitserklärung, dass alle Menschen gleich geschaffen sind und der menschenverachtenden Institution der Sklaverei, die erst 1865 formal abgeschafft wurde.

Bürgerrechtsbewegungen für mehr Demokratie

Laut Huntingtons Zyklustheorie haben die USA im Abstand von 60 bis 70 Jahren bereits vier große Protestphasen erlebt: Die „Revolutionary Era“ (1760/1770er Jahre) bildet den Prototypen. Sie wurde gefolgt von der „Jacksonian Era“ (1820/1830er), der „Progressive Era“ nach 1900 und zuletzt von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung (1960/1970er). Im Kern ging es immer um eine verbindlichere, liberalere und demokratischere Regierung.

Die wichtigsten Reformerfolge waren die republikanische Regierungsform („Checks and Balances“), die Abschaffung der Sklaverei im Norden und der Grundrechtskatalog („Bill of Rights“); das Wahlrecht für alle weißen Männer und zahlreiche neue Wahlämter; die Verabschiedung erster Anti-Kartell- sowie Verbraucher-Gesetze; und die Aufhebung der Rassentrennung und den „Voting Rights Act“ von 1965, der die gleiche Beteiligung insbesondere der afroamerikanischen Minderheit bei Wahlen gewährleisten sollte.

Ungleichheit: Beispiel Todesstrafe

Nach dem Bürgerkrieg 1865 etablierten Jim Crow-Gesetze ein System ethnischer Segregation, das die Diskriminierung Schwarzer zementierte. Das lässt sich an der Praxis der Todesstrafe demonstrieren: Die National Coalition to Abolish the Death Penalty verweist auf ein historisches Muster, wonach laut zahlreicher Studien die Todesstrafe viel häufiger gegen Menschen verhängt wird, deren Todesopfer weiß anstatt afro- oder lateinamerikanisch sind. So seien in den USA 77 Prozent der Menschen, die seit 1976 hingerichtet worden sind, wegen Tötung eines weißen, aber nur 13 Prozent wegen Tötung eines schwarzen Opfers verurteilt worden, obwohl die Zahlen schwarzer und weißer Mordopfer vergleichbar sind.

Zu den Reformerfolgen der 1960er Jahre gehörte, dass der Oberste Gerichtshof die Todesstrafe 1972 aussetzte – doch nur vier Jahre später wieder einführte. Was hatte sich in der Zwischenzeit ereignet? Teile der weißen Bevölkerungsgruppen reagierten auf die schwarzen Proteste mit einem „white backlash”. Man kritisierte die unter Präsident Johnson etablierten Regierungsprogramme zur Förderung ethnischer, insbesondere afroamerikanischer Minderheiten als „reverse discrimination“.

Verstärkte Ungleichheit während der Corona-Pandemie

An der ethnischen Verteilung der mehr als 110.000 Todesopfer in den USA, die derzeit in Verbindung mit Covid-19 zu beklagen sind, zeigt sich der strukturelle und institutionelle Rassismus in der Corona-Pandemie in dramatischer Weise. So sterben dem Legal Defense Fund der schwarzen Bürgerrechtsorganisation NAACP zufolge unverhältnismäßig viele Afroamerikaner, die 13 Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, an oder mit Sars-CoV-2. Beispielsweise beträgt ihr Anteil an der Einwohnerzahl von Milwaukee nur 26 Prozent, doch 73 Prozent der Menschen, die dort in Verbindung mit dem Virus starben, sind schwarz. Dieser Sachverhalt sei auch mit Blick auf die Infektionsraten evident, so der Legal Defense Fund.

Das habe auch damit zu tun, dass in der Corona-bedingten Rezession afroamerikanische Haushalte viel häufiger von staatlich angeordneten Maßnahmen wie Zwangsvollstreckungen und -räumungen sowie dem Abschalten der Wasser- und Elektrizitätsversorgung infolge von Zahlungsunfähigkeit betroffen sind, die das Risiko einer Infektion erhöhten. Außerdem seien Menschen, die Haftstrafen verbüßen, von denen 60 Prozent Afroamerikaner oder Latinos sind, weitaus häufiger vom Virus betroffen als die in Freiheit lebende Restbevölkerung.

Folgt nun die fünfte Protest- und Reformbewegung?

Die angestaute Wut über diese erstickende Ungerechtigkeit entlädt sich nun am Mord von George Floyd. Die breiten, von „Black Lives Matter“ angeführten Demonstrationen geben Anlass zur Frage, ob sich die USA gerade über die Ungleichheit in einem Ausmaß empört, dass die fünfte Protest- und Reformbewegung in ihrer Geschichte entsteht? Ob die Chance besteht, dass der USA eine bessere Zukunft bevorsteht, ist indes fraglich.

1981 sah Huntington drei Varianten, in die sich die USA künftig entwickeln könnten: ein stabilisierter Zyklus mit weniger heftigen Ausschlägen wäre für ihn die hoffnungsvollste; die wahrscheinlichste die Fortschreibung des periodischen Musters, so dass eine Protestphase in der zweiten und dritten Dekade des 21. Jahrhundert stattfinden wird. Die 75 Jahre nach Kings Traum könnten sich in dieses zeitliche Raster einfügen. Die dritte Variante sei die gefährlichste: Die Zyklusschwankungen könnten sich dergestalt intensivieren, dass sie sowohl Ideale als auch Institutionen zu zerstören drohen.

„Red-Blue America”

Die USA sind heute in zwei fast gleich große, unversöhnliche Hälften gespalten, man spricht daher von „Red-Blue America”: Die liberalen und konservativen Lager entsprechen in hohem Maß den Grenzen zwischen den politischen Parteien. Sie haben die gute alte Tugend des überparteilichen, kompromissbereiten „bipartisanship“ verlernt. Huntington machte damals einen Trend zur Ablösung geschwächter und ineffektiver Institutionen durch autoritäre Strukturen aus. Das verweist auf technische Entwicklungen, die weder er noch die US-Gründerväter vorhersehen konnten.

Die de-hierarchisierende Wirkung des Social Web 2.0 fügt sich stimmig in die US-Tradition des Dissens ein. Trumps antielitäre Attitüde, mit der er Twitter als direkten Kanal zum wahlentscheidenden Kern seiner weißen, frustrierten Anhängerschaft nutzt, ist legendär. So verhalf ihm im Wahljahr 2016 auch der Missbrauch personenbezogener Daten mit Hilfe der Agentur „Cambridge Analytica“ zum äußerst knappen Wahlerfolg.

Trumps Zukunft steht in den Sternen

In der dreifachen Krise 2020 (Corona-/Wirtschaftskrise, Massenproteste) könnten die digitalen Filterblasen, die nach individuellen statt gesamtgesellschaftlichen Relevanzkriterien strukturiert sind, die politischen Gräben noch weiter vertiefen. Ein Prozess, der durch den heißer werdenden Wahlkampf noch beschleunigt wird. Dieser wird durch den bevorstehenden Prozess gegen George Floyds Mörder noch ständig befeuert, das Thema Rassismus wird somit die politische Agenda maßgeblich bestimmen. Damit rückt der politische Wert der Gleichheit im „American Creed“ in den Vordergrund.

Weiße, reaktionäre bis rechtsextreme Kräfte im Trump-Lager, die teils gut bewaffnet sind, könnten sich in rassistischer Ablehnung von Gleichheit mit US-Bürgern anderer Hautfarbe dazu berufen fühlen, das Rad der Geschichte noch vor die Reformen der 1960er Jahre zurückdrehen zu wollen. Ob sie gewaltbereit zur Tat schreiten, sollte sich der „Law-and-Order“-Präsident Trump wegen angeblicher Wahlfälschung im bekannten paranoiden Stil weigern, seine mögliche Niederlage im November anzuerkennen, wie die Washington Post am 14. Mai besorgt titelte, ist zu diesem Zeitpunkt reine Spekulation.

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