US-Strategie für Afghanistan - In 20 Jahren nichts gelernt

Nach den Terrorangriffen von 9/11 blieb den Vereinigten Staaten kaum eine andere Wahl als der Militäreinsatz in Afghanistan. Doch dann folgten Fehler auf Fehler. Der jetzige Rückzug vom Hindukusch ist mehr als nur ein verlorener Krieg. Er ist ein Zeichen von strategischer Unreife.

Ein US-Marinesoldat am Militärstützpunkt Shorab in der afghanischen Provinz Helmand / dpa
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Am 11. September 2001 griff ein von al-Qaida ins Leben gerufenes Spezialeinsatzteam die Vereinigten Staaten an, indem es mehrere Passagierflugzeuge entführte, um auf diese Weise symbolisch bedeutsame Einrichtungen zu zerstören. Ich spreche ausdrücklich von einem Sondereinsatzkommando, weil es genau das war – und eben keine primitive Clique, als die es fälschlicherweise dargestellt wurde. Seine Mitglieder waren fanatisch, aber sie verstanden ihre Mission und kannten die Schwächen der US-Geheimdienste so gut, dass sie mehrere zeitgleiche Angriffe koordinieren konnten. Und zwar alles unter Wahrung der Geheimhaltung.

Der Zweck des Angriffs bestand darin, einen Aufstand in der islamischen Welt auszulösen. Wenn die USA die islamische Welt im weiteren Sinne angreifen würden, würden sie als Feind des Islam angesehen werden. Würden die USA hingegen nicht angreifen, würde man sie als ängstlich gegenüber einer offenbar machtvollen islamischen Welt betrachten. Beides würde, so hoffte al-Qaida, ihre Gesinnungsbrüder dazu inspirieren, sich gegen die Vereinigten Staaten zu erheben.

Angst vor einem zweiten 9/11

Washington konnte sich weder auf einen regionalen Krieg einlassen noch eine Antwort verweigern. Es verstand die Strategie von al-Qaida richtig, und es war gerade ausreichend über al-Qaida im Bilde, um zu wissen, dass man die Ressourcen der Gruppe nicht gut unter Kontrolle hatte. Daraus ergaben sich zwei Dinge. Das erste war die Angst, dass der 11. September nur der erste von weiteren Anschlägen gewesen sein könnte und dass die US-Geheimdienste nicht in der Lage wären, diese zu verhindern. Das zweite war die Erkenntnis, dass die Kommandozentrale von al-Qaida entweder gestört oder zerstört werden musste.

Es war bekannt, dass diese Basis sich in Afghanistan befand, also musste die Mission in Afghanistan durchgeführt werden – und angesichts der Ungewissheit der Operation musste dies schnell geschehen. Aber es ging nicht um Afghanistan, sondern um al-Qaida. Die primäre Strategie bestand zunächst darin, afghanische Gruppen, die den USA aus dem Afghanistankrieg gegen die Sowjetunion bekannt waren, zu kontaktieren und zu rekrutieren oder anzuheuern und sie als Bodentruppen einzusetzen, um al-Qaida aufzuspüren und zu zerstören. Die afghanischen Truppen, die von CIA-Agenten und US-Luftstreitkräften begleitet wurden, identifizierten den Standort des Kommandos der Terrorgruppe, konnten aber keinen entscheidenden Militäreinsatz  gegen deren Basis starten. Die Gruppe löste sich auf und flüchtete nach Pakistan.

An diesem Punkt machten die USA einen entscheidenden Fehler. Die Regierung Afghanistans, angeführt von Mullah Mohammed Omar, hatte es al-Qaida erlaubt, auf afghanischem Gebiet zu operieren. Deshalb, so dachten die USA, musste diese Regierung ausradiert und ersetzt werden. Für al-Qaida war Afghanistan lediglich ein bequemer Standort. Genauso gut könnten auch andere Gebiete zu diesem Zweck gewählt werden, und viele nationale oder lokale Führer könnten ihnen Unterschlupf gewährt haben oder würden ihnen in Zukunft Unterschlupf gewähren. 

Die Taliban verstanden die US-Strategie

Für die USA erforderte die Entmachtung der Regierung das Eliminieren der Taliban – einer Kraft, die integraler Bestandteil der afghanischen Nation war. Washingtons primäre Strategie bestand darin, Städte, die von den Taliban besetzt waren, aus der Luft anzugreifen – eine Strategie, die die Verluste der USA auf ein Minimum reduzierte, während die Taliban vermutlich ein Maximum an Verlusten hinnehmen mussten. Die Taliban verstanden diese Strategie und zogen sich aus den Städten zurück. 

Die USA sahen dies als Beweis dafür, dass die Taliban besiegt worden waren. Doch sie hatten sich lediglich aus einer unhaltbaren Position zurückgezogen und formierten sich im Laufe der Zeit neu, wodurch Washington in einen Krieg gezwungen wurde, in dem die Taliban eine anhaltende taktische Überlegenheit hatten. Strategisch gesehen konnte keine der beiden Seiten „gewinnen“, aber die Taliban mussten weiterkämpfen, während sich die USA zurückziehen konnten. Es war eine Frage der Zeit, und die Zeit war auf der Seite der Taliban.

Der Sturz der Taliban-Regierung bedeutete, dass die Vereinigten Staaten eine neue Regierung bilden mussten. Die USA versuchten, verschiedene Elemente zu einer Koalition zusammenzuschustern, aber das funktionierte nicht. Die Mitglieder der Koalition standen einander häufig feindlich gegenüber, viele begünstigten die Taliban – und die Hauptkraft, die die neue Regierung schuf und beschützte, war Amerika. Es gab den Wunsch, eine afghanische Armee aufzubauen, aber die ersten Freiwilligen für die neue Armee gehörten zu den antiamerikanischen Kräften. Anders als etwa in Deutschland und Japan waren die USA nicht in der Lage, Strafen dagegen zu verhängen. Es war tatsächlich unmöglich.

Der langwierigste Fehler

Die Vereinigten Staaten begingen dann ihren letzten und langwierigsten Fehler. Sie waren sich bewusst, dass eine Befriedung Afghanistans und die Bildung einer pro-amerikanischen Regierung illusorisch ist. Aber sie waren auch der Meinung, dass die Preisgabe Afghanistans ein „falsches Signal“ an die islamische Welt senden würde. Die Botschaft, die die islamische Welt erhielt, war jedoch, dass die Vereinigten Staaten ihren Feind nicht verstanden; dass sie nicht gewillt waren, genügend Kräfte zur Verfügung zu stellen, um einen Sieg auch nur zu versuchen – und, dass diese Strategie beiden Seiten lediglich sinnloses Leid auferlegte. 

Einen Krieg fortzusetzen, der nicht zu gewinnen ist, basierend auf der Illusion, dass dessen Fortsetzung irgendjemanden beeindrucken würde, ist ein häufiges Motiv der amerikanischen Militärstrategie nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Vereinigten Staaten wurden nicht von dummen Menschen regiert. 9/11 hat sie aber betäubt und verängstigt. Die US-Truppen wurden in erster Linie nach Afghanistan entsandt, um die Gruppe zu zerstören, die die Anschläge ausgeführt hatte. Als al-Qaida nach Pakistan auswich, hätten die USA ihren Krieg gegen al-Qaida stoppen oder in Pakistan fortsetzen – mit oder ohne die Hilfe des pakistanischen Geheimdienstes – und die Terroristen ausreichend stören können, um weitere Anschläge unmöglich zu machen. Oder die USA hätten sich etwas Zeit nehmen können, um herauszufinden, ob al-Qaida weitere Anschläge plante. 

Stattdessen verlagerte Washington das Hauptaugenmerk immer mehr auf Afghanistan, während es seinen verdeckten Kampf gegen al-Qaida durchführte. Indem die USA beides taten, begannen sie, strategische Ziele zu pyramidisieren – was zur Invasion des Irak, dem Einsatz von Truppen in Nordafrika und so weiter führte. Sie hatten das Personal dazu, aber was ihnen fehlte, war ein koordinierter Entscheidungsprozess. Dieser Prozess funktionierte unter der Annahme, dass jede Anstrengung gegen jedes verdächtige Ziel zwingend notwendig war. Was passierte, war aber, dass das strategische Bewusstsein der USA schwand, gefolgt von der Schwächung der US-Streitkräfte. 

Kurz gesagt: Die amerikanischen Ziele wurden breiter und ehrgeiziger, während Washington gleichzeitig seine Streitkräfte reduzierte und versuchte, eine Nation nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten in Afghanistan aufzubauen.

Ein Krieg muss ein klares und erreichbares Ziel haben. Er erfordert rücksichtslose Analyse und Ehrlichkeit. Der Kampf nach 9/11 bis zur Flucht von al-Qaida bei Tora Bora war vernünftig, wenn auch nur mit teilweisem Erfolg. Danach wurde aber ein Krieg begonnen, der kein erreichbares Ziel mehr hatte. Dafür gebe ich nicht den Generälen die Schuld; sie führten lediglich ihre Befehle aus. Ich gebe den hochrangigen zivilen Beamten die Schuld – insbesondere jenen nach der Präsidentschaft George W. Bushs –, die den Krieg ständig kritisierten und so taten, als wollten sie ihn beenden, tatsächlich aber weiterlaufen ließen. 

Idealisten vs. Realisten

Selbst jetzt, nach dem von Präsident Biden verordneten Rückzug, bauen die USA Berichten zufolge Stützpunkte in Zentralasien auf, um Afghanistan im Fall der Fälle angreifen zu können. Die politische Kultur in Amerika tut sich schwer damit, ihre Bemühungen so auszugestalten, dass sie mit den US-Interessen übereinstimmen, und man kann nicht einfach weggehen, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen. Es ist ein Zeichen von strategischer Unreife in einem Land, das nicht unreif agieren darf. 9/11 ist jetzt bald 20 Jahre her, und es werden noch immer Luftangriffe vorbereitet.

In der Außenpolitik gibt es einen immerwährenden Streit zwischen Idealisten und Realisten. Die Realität muss Ideale einschließen, denn was wäre der Sinn unseres Handelns ohne sie? Der Idealismus wiederum muss die Grenzen der Macht verstehen, anderenfalls wird er schreckliche Dinge zur Folge haben, während er die besten Absichten vorgibt. Krieg ist manchmal notwendig, und wenn er als notwendig erachtet wird, muss jedes Leben, das auf allen Seiten aufs Spiel gesetzt wird, als kostbar behandelt werden. 

Einen Krieg zu führen, der auf Illusionen und auf unzureichender Streitkraft beruht, ist ein Verstoß gegen grundlegende moralische Prinzipien. Die USA werden Kriege verlieren, wie alle Nationen es tun – aber sie müssen wenigstens genau verstehen, warum sie in diesen Krieg verwickelt sind. Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, um noch immer nichts verstanden zu haben.

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