US-Wahlen - Sieg ohne Entscheidung

Joe Biden hat das Weiße Haus zwar erobert und die Ära Trump beendet. Aber der Traum der Demokraten vom Durchregieren ist geplatzt, die nationale Katharsis bleibt aus – und Amerika ist gespalten wie nie zuvor.

Joe Biden: Markiert sein Sieg einen Wendepunkt? / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Soeben erschien von ihm „America First – Donald Trump im Weißen Haus“ (C. H. Beck).

So erreichen Sie Stephan Bierling:

Anzeige

Wie hätte es auch anders kommen können? Vier Jahre lieferte die Trump-Präsidentschaft zuverlässig wie eine Seifenoper jeden Tag neue Dramen, Zerwürfnisse, Versöhnungen, Klatsch, Personalwechsel, Skurrilitäten, Provokationen und Cliffhanger. Der Wahlverlauf war der logische Höhepunkt einer bizarren Amtszeit. Selbst im politischen Todeskampf schaffte es Trump noch einmal, die Demoskopen vorzuführen, die Joe Biden einen überwältigenden Sieg vorhergesagt hatten. Und er holte zum ultimativen Normbruch seiner disruptiven Präsidentschaft aus: Er lehnte das Ergebnis freier Wahlen ab.

Nicht dass Trumps autoritäre Instinkte noch jemanden überraschen können. Schon vor der Abstimmung 2016 hatte er sich geweigert, einen Wahlausgang zugunsten Hillary Clintons zu akzeptieren. Wie ein trotziges Kind verbiss er sich selbst nach seinem Triumph im Wahlmännerkolleg in die Idee, die Demokratin habe ihre Wählermehrheit bis zu fünf Millionen illegaler Stimmen zu verdanken. Obwohl die Wahlleiter aller Bundesstaaten in einem gemeinsamen State­ment „keine Belege“ für diese Aussage fanden und nicht eine einzige wissenschaftliche Studie Wahlbetrug feststellte, setzte der Präsident eine „Kommission für Wahlintegrität“ ein. Diese konnte ebenfalls keine Beweise für unrechtmäßig abgegebene Stimmen entdecken, was ihn aber nicht davon abhielt, am Gegenteil festzuhalten. 

Die Wiederholung

2020 wiederholt Trump dieses Spiel, nur aus der Position des Verlierers heraus. Schon in den Monaten vor der Wahl entwickelte er das Drehbuch, das er nun durchspielt. Angesichts seiner schlechten Umfragewerte warf er den Demokraten im Vorhinein Manipulation und Betrug vor und versuchte, die in Zeiten einer grassierenden Seuche gesundheitspolitisch angezeigte Briefwahl zu diskreditieren. Dabei waren es der Präsident und die Republikaner, die den Bürgern seit Jahren das Abstimmen erschweren wollen, genauer: jenen Bürgern, die traditionell eher für die Demokraten votieren.

Trump, der immer hinausplärrt, was ihm gerade durch den Kopf schießt, bestätigte das im März bei einem Fernsehauftritt in seinem Lieblingssender Fox unverblümt. Wenn es den Demokraten im Zuge der Corona-Pandemie gelänge, die Briefwahl, die Registrierung am Wahltag und die vorzeitige Stimm­abgabe auszuweiten, warnte der Präsident, stiege die Wahlbeteiligung so sehr an, „dass in diesem Land nie wieder ein Republikaner gewählt werden würde“.

Republikaner stellen Hürden auf beim Wählen

Für welche Gruppen errichten die Republikaner die Hürden? Und warum können sie das? Die zweite Frage zuerst: Wahlen werden in den USA laut Verfassung von den Einzelstaaten organisiert. Es gibt deshalb auch bei der Präsidentenwahl nicht das eine nationale Wahlrecht, sondern jeweils verschiedene in den 50 Einzelstaaten sowie in Washington, D. C. Wer die parlamentarische Mehrheit hat in einem Staat, kann also innerhalb gewisser Grenzen die Regeln festlegen. Die bekannteste Wählereinschränkung ist das Registrieren für die Wahl. 

Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in den USA keine Einwohnermeldeämter und Personalausweise. Beides wäre für Amerikaner ein inakzeptabler Eingriff in das persönliche Freiheitsrecht. Die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Wählerregistrierung hatte in Zeiten von Masseneinwanderung und -mobilität zunächst den Zweck, saubere Wählerverzeichnisse anzulegen und faire Wahlen zu garantieren. Aber bald nutzten einige Staaten die Prozedur, um unliebsame Gruppen wie Schwarze, Juden oder Arme von der Stimm­abgabe abzuhalten. So konnte man sich in New York City 1908 nur an Jom Kippur registrieren, dem höchsten jüdischen Feiertag, an dem gläubige Juden zu Hause bleiben. Heute erlaubt ein Drittel der Staaten die Registrierung noch am Wahltag, in North Dakota ist sie überhaupt nicht nötig. In 16 Staaten wird man automatisch registriert, wenn man seinen Führerschein verlängert, was in den USA alle drei bis acht Jahre notwendig ist. 

Lockere Regeln führen zu höherer Wahlbeteiligung

Statistiken zeigen: In Staaten mit lockeren Regeln lag die Beteiligung bei den Präsidentschaftswahlen 2012 um 12 Prozentpunkte höher als in den restriktiveren Staaten. Wahlforscher prognostizieren, dass ein Erleichtern der Registrierung die landesweite Beteiligung um etwa 5 Punkte erhöhen würde.

Die flagranteste Verletzung des allgemeinen Wahlrechts waren allerdings die Jim-Crow-Gesetze, mit denen die Demokraten in den Südstaaten nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg den Schwarzen das gerade vom Norden blutig erkämpfte Wahlrecht wieder entzogen. 1910 waren zum Beispiel wegen diskriminierender Auflagen wie Lese- und Wissenstests oder willkürlicher Gebühren nur mehr 0,5 Prozent der schwarzen Männer in Louisiana als Wähler registriert. Erst Präsident Lyndon B. Johnson und eine Kongresskoalition aus progressiven Demokraten und Republikanern bereitete dem 1965 ein Ende. Das Wahlrechtsgesetz stellte zudem neun Staaten wegen notorischer Manipulationen unter Kuratel. Nur mit Zustimmung des Bundesjustizministeriums oder des Bezirksgerichts von Washington, D. C. durften sie noch ihr Wahlrecht ändern. Der Oberste Gerichtshof mit seiner konservativen Mehrheit kippte 2012 allerdings diese Vorschrift mit dem dürftigen Argument, eine solche Beaufsichtigung sei heute nicht mehr nötig.

Dubiose Methoden der Republikaner seit 2012

Seither bemühen sich die Republikaner, das Stimmrecht von tendenziell demokratischen Wäh­lergruppen wie ethnischen Minderheiten und jungen Leuten zu beschneiden. Dazu verschärften sie in 25 Staaten die Identifikationsauflagen, schafften die Möglichkeit zur Online-Registrierung ab, schränkten die Stimmabgabe vor dem Wahltag ein, strichen Wähler, die mehrmals nicht abgestimmt hatten, aus den Verzeichnissen, verboten Erstwählern, sich bereits vor dem 18. Geburtstag zu registrieren.

Erst nach ihrem Sieg bei den Einzelstaatswahlen im November 2018 gelang es den Demokraten, einige Einschränkungen zurückzudrehen. Aber gewonnen ist der Kampf noch lange nicht: Im Vorlauf der Präsidentschaftswahl 2020 ordnete der Gouverneur von Texas an, jeder Landkreis dürfe nur eine Abgabestelle für Briefwahlunterlagen anbieten. Auch Harris County, das die Riesenstadt Houston mit ihren vielen Demokraten umfasst und größer ist als das Saarland, bekam für seine 2,4 Millionen registrierten Wähler nur eine. Zwar setzten Richter die Verordnung außer Kraft, aber das Beispiel zeigt, wie sehr sich die Republikaner mit dubiosen Mitteln Vorteile verschaffen wollen.

Ihr Argument ist dabei immer dasselbe: Wahlbetrug verhindern. Dabei fehlen jedwede Indizien für eine solche Gefahr. Eine umfassende Studie der Washing­ton Post kam 2014 zu dem Ergebnis: In den zurückliegenden 14 Jahren gab es nur 31 glaubhafte Belege für Wahlbetrug durch Vortäuschen einer falschen Identität – bei mehr als einer Milliarde Stimmen. Bei den Wahlen 2016 fanden sich gerade einmal vier dokumentierte Fälle von Betrug, drei davon ironischerweise zugunsten der Republikaner, einer bei einer Bürgermeisterwahl. Doch Trump hat es geschafft, das Thema in die Köpfe seiner Anhänger zu hämmern, sodass heute 31 Prozent der Amerikaner glauben, bei den Wahlen 2020 sei betrogen worden. 

Wenn Trump sein Amt also zu retten versucht, indem er den Demokraten vorwirft, sie würden die Wahlen „stehlen“, haben die Republikaner und er das Klima dafür seit vielen Jahren geschaffen. Nach allem, was wir wissen, sind die Wahlen 2020 bis auf die Manipulationsversuche der Republikaner sauber, gewissenhaft und fair abgelaufen. Das ist eine großartige Leistung in Anbetracht der Tatsache, dass sie während einer schweren Pandemie durchgeführt wurden, viele der Wahlhelfer Rentner und damit besonders durch das Virus gefährdet sind, fast 60 Prozent der Wähler posta­lisch oder durch vorzeitige Stimmabgabe votierten und sich noch nie in der US-Geschichte so viele Bürger beteiligten. Selbst Demokratien wie Neuseeland, Polen, Chile oder Italien mussten nationale Wahlen und Referenden wegen Corona verlegen, Deutschland und Frankreich verschoben kommunale Abstimmungen.

Die Tücken des Wahlmännersystems

Das heißt natürlich nicht, dass das amerikanische Wahlsystem perfekt ist – bei Weitem nicht. Keine Frage bekomme ich rund um Präsidentschaftswahlen bei Vorträgen öfters gestellt als die nach dem angeblich ungerechten Wahlmännergremium und dem noch ungerechteren „Winner takes it all“-Prinzip, also der Regel, nach der dem Sieger in einem Bundesstaat (außer in Maine und Nebraska) alle Wahlmänner zufallen. In der Tat würden sich kein Politikwissenschaftler und kein Verfassungsjurist heute ein Wahlsystem wie das in den USA ausdenken. Aber Nationen werden nicht von Akademikern ersonnen, sondern von Praktikern geschaffen. Als die Verfassungsväter 1787 ihre Grundordnung für die 13 gerade dem britischen Joch entronnenen Staaten debattierten, war die Lage prekär. Viele befürchteten, London warte nur darauf, die abtrünnigen Kolonien zurückzuerobern. Noch immer galt Benjamin Franklins Satz (sorry, er funktioniert nur auf Englisch): „We must all hang together, or we shall all hang separately.“ 

Der schiere Überlebenswille zwang die junge Nation zu Kompromissen. Einer davon betraf das Verfahren zur Bestellung des Präsidenten. Es gab kein Vorbild, an dem man sich orientieren konnte: Kein Land der Welt wählte damals seinen obersten Anführer. Einige Gründerväter forderten seine Wahl durch den Kongress, andere eine direkte Volksabstimmung. Alle hatten Angst vor einem tyrannischen Staatsoberhaupt, wie sie es mit Georg III. gerade abgeschüttelt hatten. Nach mehreren Monaten der Diskussion waren die Gründerväter erschöpft, ungeduldig, frustriert – und einigten sich auf einen Mittelweg: Die Wähler der Einzelstaaten, damals nur weiße Männer, würden Wahlmänner bestimmen, die dann den Präsidenten wählten. Dies sollte garantieren, dass die Entscheidung in den Händen einer rationalen, wohlinformierten Elite blieb. Und diese Wahlmänner würden von den Parlamenten der Einzelstaaten entsandt, um der Bundesgewalt möglichst wenig Macht zu übertragen. Jeder Staat sollte so viele Wahlmänner bekommen, wie er Senatoren und Abgeordnete im US-Kongress stellte. Sehr schnell verflüchtigte sich jedoch die Idee unabhängiger Wahlmänner im sich herausbildenden Zweiparteiensystem und gingen die Staaten dazu über, alle ihre Wahlmänner auf den Kandidaten zu verpflichten, der die meisten Wählerstimmen erhielt.

Die Folgen sind bekannt: Es kann dazu kommen, dass die Wählerstimmen in der Summe der Einzelstaaten und die Wahlmännermehrheit unterschiedlich ausfallen. Fünf Präsidentschaftskandidaten erlitten dieses Schicksal: Andrew Jackson 1824, Samuel Tilden 1876, Grover Cleveland 1888, Al Gore 2000 und Hillary Clinton 2016. In jüngster Zeit begünstigt das Wahlmännergremium die Republikaner, weil ihre Wähler vorteilhafter über die Einzelstaaten verteilt sind als die der Demokraten. Ein demokratischer Präsidentschaftskandidat braucht heute landesweit 3 bis 4 Prozent mehr Wählerstimmen als ein republikanischer, um die für einen Sieg nötigen 270 Wahlmännerstimmen zu erhalten.

Nicht perfekt, aber praktikabel

Zugleich konzentriert sich der Wahlkampf auf die umstrittenen Swing States, in denen keine Partei eine sichere Mehrheit hat und der Preis des Gewinns aller Wahlmänner winkt. Das mutet antiquiert und wenig fair an, ist jedoch Folge des Gründungskompromisses der Nation. Politikwissenschaftler nutzen dafür den Begriff der Pfadabhängigkeit, auf Deutsch: Absonderlichkeiten, die sich einmal ins politische System eingebrannt haben, lassen sich kaum mehr ausmerzen. Es ist indes wie im persönlichen Leben: Schrullen fallen einem immer nur am anderen auf, nie an einem selbst. Das Argument, das amerikanische Wahlsystem gehöre generalüberholt, verfängt deshalb mehr in Deutschland als in den USA.

Die Amerikaner wählen seit 1788 alle vier Jahre ihren Präsidenten – im Bürgerkrieg, in der Depression, im Weltkrieg, in der Pandemie. Seit 232 Jahren haben sie dieselbe Verfassungsordnung. Etwas grundsätzlich infrage zu stellen, das so lange funktioniert hat, findet wenig politischen Widerhall in den USA. Deutschland hat im selben Zeitraum fast ein Dutzend politischer Systeme verschlissen: das Heilige Römische Reich deutscher Nation, den Rheinbund, den Deutschen Bund, das Kaiserreich, die Militärdiktatur Hindenburgs und Ludendorffs im Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die alliierte Besatzung, die DDR, bis es endlich 1990 bei der vereinigten Bundesrepublik landete. Angesichts der notorischen One-Night-Stands der Deutschen mit unterschiedlichsten Regierungsformen ist es kein Wunder, dass sie mehr um die Demokratie bangen als die Amerikaner, die ihrer Staatsform in jahrhundertelanger Ehe schon fast katholisch verbunden sind. Zudem steht das Electoral College in der Verfassung, deren Änderung Zweidrittelmehrheiten in beiden Kongresskammern sowie eine Zustimmung von drei Vierteln der Einzelstaaten erfordert. Kein Republikaner würde dafür votieren, weil, siehe oben, die Regeln die Partei im Moment bevorzugen. 

Ein zwiespältiges Resümee

Die USA werden in puncto Wahlen also das tun, was sie am besten können: das System pragmatisch Stück für Stück reformieren, one problem at a time, und nicht das, was die Deutschen gerne hätten: Grundsatzdebatten führen, hochtrabende Entwürfe diskutieren, vollkommene Lösungen für die Ewigkeit anstreben. Dass das Wahlsystem grundsätzlich funktioniert, zeigte sich gerade in diesen Tagen wieder: Die meisten Staaten zählten die Stimmen schnell aus und erklärten einen der beiden Kandidaten zum Sieger. Aber das Bearbeiten der alle Dimensionen sprengenden Menge an Briefwahlunterlagen brauchte einfach Zeit: Kuverts mussten geöffnet, die Wahlzettel aus ihren Umschlägen genommen, dann in optische Scanner eingelegt oder, wenn die sie nicht lesen können, einzeln begutachtet werden. Dazu kam die Auswertung von provisorischen Wahlzetteln – die Wähler auszufüllen hatten, die zum falschen Wahllokal gingen oder nicht im Wählerverzeichnis standen – und deren Abgleich mit den Personaldaten. Und es mussten die Briefwahlunterlagen abgewartet werden, die erst am 3. November, dem Wahltag, postiert worden waren, darunter die von im Ausland stationierten Soldaten. 

Wo es länger dauerte, etwa in Georgia, Arizona, Pennsylvania und Nevada, lag das nicht zuletzt an den extrem knappen Ergebnissen und dem Bemühen, jeden Stimmzettel peinlich genau zu prüfen – gerade in einer Zeit, wo russische, chinesische und iranische Hacker den ordnungsgemäßen Ablauf der US-Wahlen sabotieren und Zweifel an der Verlässlichkeit des Auszählens schüren wollen. Schon einmal, vor genau 20 Jahren, wurde eine Präsidentschaftswahl nämlich mit einer Mehrheit von 537 Stimmen in einem Bundesstaat entschieden: in Florida zugunsten George W. Bushs. Damals gaben „hanging chads“ den Ausschlag, also die Frage, wie groß die Stanzreste bei Lochkarten, die viele Wahllokale nutzten, sein durften, um eine Stimme für gültig zu erklären. Nie wieder will eine Wahlkommission zum Gespött Amerikas und der Welt werden wie jene in Florida im Jahr 2000.

So sauber Abstimmung und Auszählung abliefen, so erwartbar Trumps Realitätsverweigerung und Generalangriff auf das Ergebnis waren, so zwiespältig fällt das politische Resümee aus. Biden ist der Sieger, gewiss, aber kein strahlender. Weder ist ihm ein Knock-out des amtierenden Präsidenten gelungen, noch hat seine Partei eine Mehrheit im Senat erobert. Trump ist eben doch keine einmalige Verirrung der amerikanischen Wählerschaft, und sein Erfolg 2016 beruhte nicht allein auf der Schwäche Clintons. Die von den Demokraten erhoffte kathartische Wahl blieb aus, das Mandat Bidens für einen grundlegenden Politikwandel ist schwach. 

Warum Trump besser abschnitt als erwartet

Dabei hat Biden viele Erwartungen erfüllt: Kein Präsidentschaftsbewerber in der Geschichte erhielt mit 77 Millionen Stimmen so viele wie er, das waren noch einmal sieben Millionen mehr als der bisherige Rekord von Barack Obama aus dem Jahr 2008. Er ist der erste Kandidat seit 28 Jahren, der einen Amtsinhaber entthronte (damals siegte Bill Clinton über ­George H. W. Bush). Und kein Herausforderer seit Franklin D. Roosevelt 1932 schlug einen Präsidenten mit einem höheren Stimmenanteil, nämlich mit 51 Prozent. Dazu holte Biden nicht nur die von Clinton verlorenen Staaten Wisconsin, Michigan und Pennsylvania zurück, sondern er entriss den Republikanern auch ihre beiden jahrzehntelangen Bastionen Arizona und Georgia. Der Grund: Er schnitt bei weißen Wählern besser ab als Clinton, vor allem bei schlechter ausgebildeten älteren Männern und bei unter 29- und über 45-Jährigen. 

Die Überraschung der Wahl war jedoch die Stärke Trumps. Die meisten Beobachter nahmen an, er habe 2016 sein Wählerpotenzial ausgeschöpft und es gebe keine wütenden weißen Landbewohner mehr, die er zusätzlich gewinnen könne. Aber mit 72 Millionen Stimmen (acht Millionen mehr als vor vier Jahren) belegt er Rang 2 unter allen Präsidentschaftskandidaten in der Geschichte. Damit steigerte Trump seinen Anteil im Vergleich zu seiner ersten Wahl um einen Punkt auf 47 Prozent.
Drei Dinge gaben dafür den Ausschlag: Erstens votierten mehr als 90 Prozent seiner Wähler von 2016 erneut für ihn – ein historisch einmalig hoher Wert. Zweitens mobilisierte er neue weiße Wähler vor allem in den ländlichen Regionen, die ihn vor vier Jahren noch nicht unterstützt hatten. Und drittens, und das war am erstaunlichsten, gelang es dem Präsidenten, seine Marge bei den ethnischen Minderheiten zu verbessern; bei den Schwarzen und den Asien-Amerikanern um 6 Punkte und bei den Latinos um 4 Punkte. Seit George W. Bush 2004 hat kein republikanischer Präsidentschaftsbewerber bei Schwarzen und Latinos besser abgeschnitten als Trump. Wie 2016 profitierte er von seinem unermüdlichen Einsatz im Wahlkampf-Endspurt: Die kleine Zahl der bis zuletzt unentschlossenen Bürger stimmte am 3. November überwiegend für ihn.

Das führte dazu, dass Trump landesweit nicht wie von den führenden Umfrageanalysten von Real Clear Politics und Five Thirty Eight prognostiziert mit 7 bis 8 Prozentpunkten verlor, sondern nur mit 3. Angeblich umkämpfte Staaten wie Florida, Texas und Ohio hielt der Präsident erstaunlich leicht. Der Hauptgrund war seine alte Stärke bei Weißen und in ländlichen Gebieten. In Florida und Texas schnitt er zudem bei den Latinos deutlich besser ab als 2016: Im ersten Staat insbesondere bei denjenigen mit kubanischen, venezolanischen und kolumbianischen Wurzeln, im zweiten bei mexikanischstämmigen in der Grenzregion. In Wisconsin, Michigan und Pennsylvania, die ihn den Wahlsieg kosteten und für die die Umfragen hohe Siege für Biden vorhersagten, verlor der Präsident nur hauchdünn.

Der Trumpismus lebt weiter

Der wichtigste inhaltliche Grund für Trumps gutes Abschneiden: Wähler, die die Wirtschaft für das wichtigste Thema hielten, stimmten fast alle für ihn. Wähler dagegen, denen die Rassenbeziehungen und die Corona-­Pandemie am Herzen lagen, votierten für Biden. Im Kern führten beide Kandidaten Wahlkämpfe für unterschiedliche Zielgruppen mit unterschiedlichen Ängsten und Anliegen. Dies erklärt auch, dass beide Seiten ihre Anhänger enorm zu mobilisieren vermochten: Die Präsidentschaftswahl 2020 sah mit 67 Prozent die höchste Wahlbeteiligung seit 120 Jahren (2016: 60 Prozent). Maine und Minnesota hatten mit 79 Prozent die höchste, Oklahoma und Arkansas mit 55 beziehungsweise 56 Prozent die niedrigsten Raten.

Trump mag die Präsidentschaft verloren haben, und das schmerzt ihn enorm. Sein schlimmstes Schmähwort im Immobilien- wie im Politikbetrieb war immer „loser“, Verlierer. Jetzt ist er selbst zum „loser“ geworden. Aber sein Schlussspurt stellte sicher, dass die Republikaner im Haus und im Senat besser abschnitten als erwartet. Damit ist der Trumpismus, dieses Gemisch aus Isolationismus, Unilateralismus, Protektionismus, Nativismus und Führerkult, auch nicht am Ende. Selbst nachdem der Präsident am 20. Januar 2021 aus seinem Amt geschieden ist, wird er für Amerika weiter eine ernst zu nehmende Größe bleiben. Er spinnt bereits jetzt an der Legende, dass ihm die Wahl gestohlen wurde, und wird seinen Hardcore-Anhängern per Tweet oder eigenem Fernsehkanal täglich ihre Dosis Rebellion gegen die Biden-Präsidentschaft und das gesamte politische System injizieren.

Und er wird das Ganze natürlich, wie alles, was er je angefasst hat, zum eigenen finanziellen Vorteil auszuschlachten versuchen. Das dürfte er auch bitter nötig haben: Seine Haupteinkommensquellen, seine TV-Shows und seine Lizenzgeschäfte, liegen brach, das Finanzamt könnte nach Abschluss einer Rechnungsprüfung bald 100 Millionen Dollar zurückfordern, und in New York droht ihm ein Verfahren wegen Bank- und Steuerbetrugs. Dazu werden für Trump in den kommenden vier Jahren 300 Millionen an Krediten vor allem bei der Deutschen Bank fällig; seine Unternehmen verfügten 2018 allerdings gerade noch über 35 Millionen Dollar liquider Mittel.

Bidens soziale Heilkräfte sind begrenzt

Für die Republikanische Partei wird es schwer werden, sich vom Trumpismus zu lösen. Bei einer verheerenden Niederlage hätte sie auf den Kurs zurückkehren können, den sie in der Vergangenheit zaghaft eingeschlagen hatte: 2000 nominierten sie etwa mit George W. Bush einen Kandidaten, der als ehemaliger Gouverneur von Texas gut mit den Latinos konnte. Und 2012, nach dem für viele Republikaner überraschenden Scheitern Mitt Romneys gegen Obama, ließen sie die Gründe dafür in einer groß angelegten Studie mit dem Namen „The Autopsy“ analysieren. Ihr Ergebnis: Wenn sich die Partei nicht den wachsenden demografischen Gruppen wie Latinos, Asiaten und gut ausgebildeten jungen Wählern öffnet, kann sie bei Präsidentschaftswahlen künftig nicht wettbewerbsfähig bleiben.

Die Polarisierung der beiden Parteien, das wichtigste Kennzeichen der US-Politik heute, wird sich auch von Joe Biden nicht überwinden lassen, selbst wenn er all die richtigen Signale aussendet: Er sieht sich als Präsident aller Amerikaner, nicht nur der eigenen Wähler wie Trump. Er kennt die Sorgen und Nöte der von Abstiegsängsten geplagten unteren weißen Mittelschicht und kann sich ihrer besser annehmen als Obama oder Clinton. Er war weltanschaulich zeitlebens ein Mann der Mitte – in seiner eigenen Partei, aber auch in seinen 36 Jahren als Senator. Dort musste er immer wieder mit Republikanern zusammenarbeiten, als Obamas Vize war er deshalb für die Beziehungen zum Kongress zuständig. Mit Mitch ­McConnell, dem republikanischen Mehrheitsführer im Senat und künftigen Parteiobersten, saß er 23 Jahre in der Kammer, beide sind gleich alt und wissen, dass sie an ihrem Vermächtnis arbeiten müssen. 

Trump vertrieb hingegen die Moderaten aus der Partei. Seit seinem Amtsantritt haben 40 Prozent der republikanischen Abgeordneten ihren Sitz im Repräsentantenhaus verloren oder ihren Rückzug aus der Kammer angekündigt – ein außergewöhnlicher Exodus an politischen Talenten.

Berühmtester Abgänger war Sprecher Paul Ryan, lange Zeit der Hoffnungsträger einer modernen Republikanischen Partei. In Georgia gewann die Anhängerin der rechtsextremen QAnon-Verschwörungsbewegung Marjorie Taylor Green gerade einen Sitz im Haus. Auf Einzelstaatsebene sieht es nicht anders aus: Der Triumph der Demokraten bei den Wahlen 2018 ging zulasten gemäßigter Republikaner, bei ihnen geben jetzt rechtskonservative und fundamentalistische Politiker noch stärker den Ton an.

Größte Hoffnung ist die Demografie

Die größte Hoffnung, die Spaltung Amerikas zu überwinden, liegt deshalb weniger in gutmeinenden, integrierenden Führungsfiguren, obgleich diese unverzichtbar sind. Es ist der demografische Megatrend, der die Nation in den kommenden Jahrzehnten wieder zusammenführen kann. Der Trumpismus ist das Aufbäumen des älteren, ländlichen, schlechter ausgebildeten weißen Amerika gegen den dramatischen Wandel der vergangenen 30 Jahre: in der Wirtschaft gegen den Verlust an Industriejobs und der Übergang zur Dienstleistungs- und Digitalökonomie, im internationalen Handel gegen die Billigkonkurrenz Chinas, im Gesellschaftlichen gegen die ethnische Vielfalt und die Einwanderung, im Kulturellen gegen die Säkularisierung und Akzeptanz nichttraditioneller Lebensentwürfe. Doch der Kampf ist ein einziges großes Rückzugsgefecht. Das neue, sich herausbildende Amerika ist jung, bunt, urban, gebildet, liberal, säkular. 

Die Republikaner haben einschließlich 2020 bei sieben der acht letzten Präsidentschaftswahlen weniger Wählerstimmen erzielt als die Demokraten – das ist kein Geschäftsmodell für die Zukunft. Sie müssen sich den wachsenden Wählergruppen öffnen und ihnen personell wie inhaltlich ein attraktives Angebot unterbreiten. Und die Demokraten, ohnehin auf der demografischen und weltanschaulichen Siegerstraße, müssen eines besser verstehen als in der Vergangenheit: Eine Demokratie bildet eine nationale Schicksalsgemeinschaft, in der es keine „Bemitleidenswerten“ geben darf, wie Hillary Clinton 2016 zynisch meinte, über die die Zeit hinweggeht. Diese Menschen, die Amerika dereinst groß gemacht haben, verdienen Respekt und Aufmerksamkeit für ihre Nöte. Verstehen beide Parteien das, könnte die Biden-Präsidentschaft einen Wendepunkt für die zerrissene Nation markieren.

Diesen Text finden Sie in der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

Anzeige