US-Geheimdienstchefin Avril Haines - Exotin ohne Müdigkeit

Judo-Akademie, Sportfliegerei, Buchhandel mit erotischer Literatur, Sozialarbeit: Die Karriere der neuen US-Geheimdienstchefin Avril Haines ist ein wahres Abenteuer. Als erste Frau in der Geschichte leitet sie die 16 Auslandsdienste – von CIA bis NSA.

Die neue US-Geheimdienstchefin hat schon vor ihrem Amtsantritt Abenteuer für mehrere Leben hinter sich / Reuters
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Autoreninfo

Stephan Bierling lehrt Internationale Politik an der Universität Regensburg. Soeben erschien von ihm „America First – Donald Trump im Weißen Haus“ (C. H. Beck).

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Es gibt typische Karrierewege von Spitzenbeamten: Klassensprecher, Jurastudium, Parteimitgliedschaft, Hochkämpfen. Und es gibt den Karriereweg von Avril Haines, der Geheimdienstchefin der USA. 

Dass sie seit dem 20. Januar 2021 als erste Frau überhaupt die 16 Auslandsdienste von CIA bis NSA leitet, ist noch der langweiligste Fakt. 1969 geboren, packt sie gleich mehrere Leben in ihre ersten 30 Jahre. Seit sie zwölf ist, kümmert sich Haines fast Vollzeit um ihre schwer lungenkranke Mutter. Wegen der Arztkosten kann sich die Familie die Wohnung in New York bald nicht mehr leisten und muss bei Verwandten und Freunden unterkommen. Den Tod ihrer Mutter 1985 bewältigt Haines auf ihre Art: Nach der High School geht sie an Japans Elite-Judo-Akademie und erwirbt den braunen Gürtel, den höchsten Grad für Judo-Schüler.

Stoff für mehrere Leben

1988 beginnt Haines, Theoretische Physik zu studieren – ohne je einen Physikkurs in der Schule belegt zu haben. Daneben jobbt sie als Automechanikerin. Im zweiten Studienjahr wird sie angefahren, als sie mit dem Rad unterwegs ist. Haines wäre nicht Haines, therapierte sie ihre schwere Verletzung nicht durch ein neues Abenteuer: Sie nimmt Flugstunden, zusammen mit ihrem Ausbilder richtet sie eine alte Cessna her, um nonstop von Maine nach Europa zu fliegen. Über dem Nordatlantik vereist erst der eine Motor, dann der andere; im Gleitflug im Nebel schaffen es die beiden gerade noch auf eine isolierte Piste im äußersten Neufundland. Nach Europa kommen sie nie, doch die Nahtoderfahrung schweißt sie zusammen: Haines und ihr Fluglehrer werden ein Paar.

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Die feste Beziehung und ihre Promotionspläne lassen Avril Haines nicht konventioneller werden. Eine Überraschung hält sie noch parat, bevor sie auf eine Regierungslaufbahn einschwenkt. 1992 erfahren Haines und ihr Partner von der Versteigerung einer alten Bar, die die Polizei bei einer Drogenrazzia in einer üblen Ecke Baltimores beschlagnahmt hat. Die beiden verkaufen ihre Cessna, übernehmen den Laden und wandeln ihn in eine Buchhandlung mit Café um. 

Sie arbeiten von 8 Uhr morgens bis 1 Uhr in der Nacht, sieben Tage die Woche. Im Angebot haben sie eine eklektische Auswahl an Büchern von kleinen Verlagen, als Highlight bieten sie Lesungen erotischer Literatur. Das Geschäft floriert, aber Haines ist schon bald unterwegs zu neuen Ufern. Sie stürzt sich in die Sozialarbeit, merkt, dass Rechtsanwälte dabei am erfolgreichsten sind, verkauft die Buchhandlung und nimmt 1998 ein Jurastudium an der Georgetown University auf.

Ins weiße Haus

Von da an verläuft ihr Leben gesetzter, doch nicht weniger dynamisch. Nach dem Examen tritt sie 2003 in die juristische Abteilung des Außenministeriums ein mit Schwerpunkt internationales Vertragsrecht. Haines und einige Kollegen identifizieren akribisch mehr als 600 Geheimabkommen der CIA mit befreundeten Staaten über „schwarze Orte“, in denen Terrorverdächtige festgehalten und gefoltert wurden. Ihre Vorgesetzten sind von der jungen Frau mit dem exotischen Lebenslauf beeindruckt. Auch das Weiße Haus wird auf sie aufmerksam und holt sie 2011 als stellvertretende Rechtsberaterin des Präsidenten für Nationale Sicherheit ins Zentrum der Macht.

Hier vollbringt sie ihr Meisterstück. Auf Wunsch Barack Obamas überarbeitet Haines die rechtlichen Standards für gezielte Tötungen von Terroristen. Ihre Lösung: Der Präsident muss regelmäßig eine Liste mit den Namen aller Zielpersonen genehmigen, erst danach dürfen CIA-Direktor und Verteidigungsminister solche Aktionen anordnen. Wie bei der Pflege ihrer Mutter oder beim Aufbau ihrer Buchhandlung zeigt sie sich enorm belastbar, kommt fast ohne Schlaf aus. Manchmal, so findet Newsweek heraus, ist Haines bis 5.30 Uhr in der Frühe im Büro, geht nach Hause, duscht – und ist um 7 Uhr wieder da.

Aus der Deckung

2013 ernennt Obama die ­damals 44-Jährige zur stellvertretenden CIA-­Chefin, 2015 dann zur Vize-Sicherheitsberaterin. Die vier Trump-Jahre, in denen Kompetenz und juristischer Rat in der Außenpolitik wenig gelten, überwintert Haines an Universitäten und als Beraterin für Militärtechnologie-Firmen. 

Seit Mitte 2020 arbeitet sie für den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden, kurz nach seinem Wahlsieg nominiert dieser sie für den Posten der Geheimdienst-Direktorin. Mit 84 zu 10 Stimmen bestätigt der Senat Haines als erstes Mitglied der neuen Regierung. Sie verspricht, den von Trump unter Verschluss gehaltenen Bericht zum Khashoggi-Mord öffentlich zu machen und den „illegalen und unfairen Praktiken“ Chinas aggressiv entgegenzutreten. 
In den nächsten Jahren dürfte ihr Leben nicht weniger abenteuerlich werden als zuvor.
 

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