Ursula von der Leyen - Die Pathetische

Mit einer energischen Rede im Straßburger Parlament hat Ursula von der Leyen für sich geworben. Ihre Chancen, Präsidentin der Kommission zu werden, hat sie dadurch erhöht. An den inneren Problemen der EU wird sich so jedoch vermutlich nichts ändern

Wird Ursula von der Leyen heute zur neuen EU-Kommissionspräsidentin gewählt? / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Wo Ansprüche regieren, müssen Möglichkeiten als Gewissheiten ausgegeben werden. Die heutige Bewerbungsrede Ursula von der Leyens im Europäischen Parlament für das Amt der EU-Kommissionspräsidentin war keine Ausnahme. Von der Leyen musste tun, was sie tat, und sie tat es nicht schlecht. Sie, laut Selbstauskunft eine „leidenschaftliche Kämpferin“ für ein faires und rechtsstaatliches Europa – „fair“ war das Schlüsselwort der Rede –, warb nach fast allen Seiten um Zustimmung. Ich bin, lautete die Botschaft, die, auf die sich alle einigen können, die meine Diagnose teilen. Wie also lautete das Bulletin der promovierten Ärztin für das europäische Projekt?

Zunächst: Es war keine konservative Rede. Es war eine Rede auf der Höhe der Zeit, insofern alle gegenwärtigen öffentlichen Debatten ihren Markstein in der Rede hatten. Klimawandel? „Spüren wir ganz konkret.“ Digitalisierung? „Spüren wir ganz konkret.“ Demographischer Wandel? „Spüren wir konkret.“ Aus dem gemeinsamen Gespür soll ein kollektives Kämpfen, Wünschen, Müssen herauswachsen. Von der Leyen will, in bewusster Überdehnung der faktischen Möglichkeiten der Kommission, ein neues Wir etablieren: ein Wir aus Brüsseler Exekutive, Straßburger Legislative und den „Bürgerinnen und Bürgern“. Dass dieses Ziel utopischer ist denn je, die EU an ihren Fliehkräften zu bersten droht, wird die Kandidatin wissen. Doch heute war die Stunde der Absichten, nicht der Abwägungen. 

Gegenwärtige Themenkonjunktur

Wenn die Kandidatin einen „neuen Pakt für Asyl und Migration“ vorschlägt und eine „Wiederbelebung von Dublin“ und damit die Verteilung von Migranten auf die gesamte Union nebst „fairer Zusammenarbeit“ mit den afrikanischen Herkunfts- und Durchgangsländern – dann wird sie um den utopischen Überschuss auch dieser Forderung wissen. Ebenso verhält es sich mit dem Appell, „unsere Einheit wieder zu entdecken“; zersplitterter war das Parlament, in dem sie sprach, nie. „Unser Europa“, für das „aufzustehen“ die Zeit gekommen sei: Wie schaut es aus? Wenn „die Welt mehr Europa braucht“, welches Europa ist gemeint? 

Hat von der Leyens Europa neben der zurecht von ihr betonten Rechtsstaatlichkeit, neben den ebenfalls aufgerufenen Handlungsparametern Fairness, Geschlechterparität, Armutsbekämpfung, neben dem von ihr angekündigten 1-Billion-Euro-Etat aus der zur „Klimabank“ weiterentwickelten Europäischen Investitionsbank, neben „europäischer Arbeitslosen-Rückversicherung“ und neben der reihum bejubelten Forderung nach einer „qualifizierten Mehrheit für außenpolitische Entscheidungen“ sowie eines gesetzgeberischen „Initiativrechts des Europäischen Parlaments“ auch eine geistige Wurzel? Oder schreibt diese Wurzel sich von selbst, wenn – was kaum der Fall sein wird – all diese Punkte umgesetzt würden? Auch das Ziel, bis 2030 die CO2-Emissionen zu halbieren und bis 2050 den „ersten klimaneutralen Kontinent“ zu verwirklichen, entstammt eher momentaner Themenkonjunktur denn realistischer Prognose.

Die Konsenskandidatin

Die Kandidatin der Regierungen breitete die Arme mehrfach aus, als wolle sie das Plenum und mit diesem ganz Europa umarmen. Der Zustimmung nach zu urteilen, muss von der Leyen sich um ihre Wahl keine Sorgen machen. Dass sie als deutsche Verteidigungsministerin krachend gescheitert ist, müssen andere erzählen. Dass sie vor der Wahl gar nicht kandidierte, obwohl man doch einen Spitzenkandidaten zu wählen aufgerufen war, fällt ebenso wenig in ihr rednerisches Geschäft. Der EU, die man an ihrem „Kampf für Fairness“ künftig erkennen soll, bot sie sich geschickt und zuweilen mitreißend als Lotsin aus dem selbstverschuldeten Jammertal an. Selbst den Brexit-Briten reichte sie die Hand. Sie sei bereit, gegebenenfalls das Austrittsdatum zu vertagen, also vom 31. Oktober weiter in die Zukunft zu schieben.

Natürlich muss es in einer solchen Rede auch menscheln – und da war der politische Kitsch nicht weit. Sie sei „Europäerin gewesen, bevor ich gelernt habe, dass ich Deutsche, Niedersächsin bin.“ Das fasse, wer es mag. Sie habe bei sich zu Hause einen 19-jährigen Flüchtling aus Syrien aufgenommen, der sich in vier Jahren so prächtig entwickelt habe, dass er „für uns alle eine Quelle der Inspiration“ geworden sei. Solche gefühligen Beteuerungen klingen wie Rückübersetzungen aus dem amerikanischen Englisch.

Gleichwohl: Der Präsidentschaft ist von der Leyen mit dieser Rede ein ordentliches Stück näher gekommen. Sie streichelte die Seele der Parlamentarier, gab ganz die Konsenskandidatin, der auch Liberale und Grüne und Sozialdemokraten bedenkenlos zustimmen können. Um die Konservativen warb sie nicht, deren Blankoscheck gilt eh. Sollte die Deutsche freilich bestätigt werden, dürfte dem Pathos des Anfangs dennoch ein Herbst des Missvergnügens folgen. Der Webfehler liegt im System.

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