Ursula von der Leyens „Next Generation EU“ - Europa braucht keinen Wiederaufbauplan, sondern mehr Demokratie

Wiederaufbauen muss man, was zerstört wurde. Hat das neue Coronavirus Europa vernichtet? Gewiss nicht. Warum beschwört Ursula von der Leyen dann den Untergang und warum wird die Pandemie zum Krieg erklärt?

Ursula von der Leyen: Die rhetorischen Koordinaten einer Machtanmaßung und eines Heilsversprechens / dpa
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Hätten wir besser auf „Geier Sturzflug“ gehört. Die Erfolgsband der Neuen Deutschen Welle rief 1983 dazu auf, Europa zu besuchen, „solange es noch steht“. Die düstere Prophezeiung war aus der Angst vor einem Atomkrieg geboren. Im „Neutronenwaffelduft“ könnten Köln, Paris, London zugrunde gehen. Heute wissen wir, dass es Europa nicht mehr gibt, dass es verheert da liegt, in „Schmerz und Verwüstung“.

Die Europäische Union hat es verkündet, und sie selbst will den Kontinent aus Ruinen neu entstehen lassen. Warum sonst hätte man jetzt einen 750 Milliarden Euro Steuergeld teuren „Wiederaufbauplan“ lanciert und ein Gesamtpaket von insgesamt 1,85 Billionen Euro geschnürt? Die apokalyptische Rhetorik aber ist unangemessen und sachfremd. Sie sagt mehr aus über den gegenwärtigen Zustand der EU als über das Schicksal Europas.

Hat Corona Europa vernichtet? 

Wiederaufbauen muss man, was zerstört wurde. Hat das neue Coronavirus Europa vernichtet? Gewiss nicht. Die ökonomischen Folgen sind gewaltig, die Herausforderungen enorm. Kein Tag vergeht ohne Hiobsbotschaften. Gestern, als Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im EU-Parlament für ihren „Wiederaufbauplan“ und die „Next Generation EU“ warb, wurde bekannt, dass im Jahr 2020 das Bruttoinlandsprodukt in der Eurozone vermutlich zwischen acht und zwölf Prozent sinken wird. In Frankreich dürfte der Rückgang im noch laufenden zweiten Quartal bei 20 Prozent liegen. Für Deutschland wird im selben Zeitraum ein Minus von bis zu 14 Prozent erwartet. Insolvenzen nehmen zu, Arbeitslosenzahlen explodieren, Biografien werden gebrochen. Aber Europa geht nicht unter, Europa ging nicht unter. Warum wird es behauptet?  

Die Rede vom „Wiederaufbauplan“ suggeriert das denkbar schlimmste Szenario, um denkbar größte staatliche Maßnahmen zu legitimieren. Ursula von der Leyen ließ daran keinen Zweifel: „Investitionen noch nie dagewesener Größenordnung“ seien nötig. Die zu den bisher bekannten Summen neu hinzutretenden 750 Milliarden Euro addieren sich auf zu einer wie konkrete Lyrik erscheinenden Zielgröße von 1,85 Billionen Euro, „das ist der heutige Vorschlag“. Die Vergemeinschaftung der Schulden führt zur Dagobertduckisierung des Geldes. Solche Beträge verdanken sich keiner Wertschöpfung, sondern einem machtvollen Entschluss. Sie sind Produkt einer politischen Willenserklärung, die nur in einer Ära der Null- und Negativzinsen Wirklichkeit schaffen kann. Wie lautet der politische Wille hinter der Monetarisierung? Ein „grünes, digitales und widerstandsfähiges Europa“ müsse errichtet werden durch „den Sprung nach vorne“.

Ein Tabubruch

Ungerecht wäre es, hinter der Metapher einen Versuch zu vermuten, Mao Zedongs „großen Sprung nach vorne“ ins Sprachspiel zu schleusen. Ursula von der Leyen hat keine Kollektivierungen im Sinn, die Kommission will und wird kein drakonisches Regiment über den einzelnen errichten. Dennoch klingt mit der Formulierung vom „Sprung nach vorne“ ebenso wie mit der vom „Wiederaufbau“ eine Bereitschaft zur rhetorischen Entgrenzung an, die der EU-Politik die letzten Gatter öffnen könnte. Das Schweizer Fernsehen sieht „einen weiteren Machtzuwachs für die Europäische Kommission und auch einen Tabubruch (...). Bis jetzt liegt nämlich die Finanzhoheit bei den einzelnen Mitgliedsstaaten.“

Aus dieser Richtung weht der Wind, den die Kommission mit allen rhetorischen Kräften zu verstärken sucht: Um ein zentrales Gebot vom Tisch fegen zu können, muss die Not am allergrößten sein – oder zumindest als eine solche dargestellt werden. Ursula von der Leyen begann ihre Rede mit einem Verweis auf die Gründergeneration der EU. Diese habe sich für einen „dauerhaften Frieden“ eingesetzt, „dort, wo es nichts gab außer Schmerz und Verwüstung.“

Europa wird diese Seuche überstehen

So und nur so stimmen die rhetorischen Koordinaten einer Machtanmaßung und eines Heilsversprechens: Die Covid-19-Pandemie wird zum Krieg erklärt, aus dem nur ein neuer, diesmal fiskalpolitischer D-Day herausführen könne. Die EU will Europa neu erfinden als freilich schuldenbasierte „Union der Nachhaltigkeit“. Von der Geschichte sprach von der Leyen viele Male, von der, die war seit 1945, und von der, die nun zu schreiben sei mit einer, wie es Olaf Scholz ausdrückte, „Bazooka“ der 1,85 Billionen Euro.

Europa aber starb nicht und stirbt nicht an einem Virus. Europa wird diese Seuche überstehen, wie es schon so viele Seuchen überstand. Europa ist mehr als die Summe seiner Handelsbilanzen, mehr als Soll und Haben, mehr als deutsches Geld und französische Interessen, mehr als Brüssel, Straßburg, Berlin. Europa muss nicht wiederaufgebaut werden, weil es in seinen Grundfesten fest steht, weil es hinausreicht über Bürokratie und Futterneid, über Umverteilung und Sozialstaat. Ein solches Europa der Geschichte, des Geistes und der Freiheit, ein Europa seiner Bürger muss sich nur diese eine Frage in der Corona-Krise stellen: Wie kommen wir als Demokraten aus ihr heraus?

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