Ukraine - Ein vaterländischer Krieg Teil 1 - Mitschuld des Westens

Der Krieg in der Ukraine hat sich im dritten Monat verändert. Der Widerstandsgeist der Ukrainer ist geblieben, ihr Hass auf die Russen jedoch gewachsen. Groß ist aber auch die Wut auf den Westen, weil er nicht genug Waffen liefere. Die Ukrainer treibt die Überzeugung an, dass der jetzige Krieg ein Existenzkampf ist.

Einfahrt in die ukrainische Hauptstadt Ende März / Moritz Gathmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Der 29. März, ein Dienstag, ist ein Frühlingstag. Wie in den Tagen zuvor soll die Temperatur im südukrainischen Mykolajiw deutlich über zehn Grad liegen, Sonnenschein ist für den ganzen Tag angekündigt. Am Vortag konnte man im Stadtzentrum Kinder auf Rollschuhen sehen, spazierende Menschen, eine aufatmende Stadtbevölkerung. Aufatmend nach den ersten Kriegswochen, als die Stadt, die auf dem Landweg zwischen der Krim und der Stadt Odessa liegt, mitten im Kriegsgeschehen lag und einige Tage kurz vor der Eroberung zu stehen schien.

Aber schon in der Nacht, gegen vier Uhr, dröhnen zwei Donnerschläge durch das völlig verdunkelte Mykolajiw und wecken die Bewohner der 500.000-Einwohner-Stadt. Es sind Raketen, die Streumunition über einem Wohnviertel im Süden verteilen. Am Nachmittag kann man Sprengstoffexperten beobachten, die die kleinen Sprengkörper aus den Vorgärten der Menschen tragen und sie kontrolliert zur Explosion bringen. Dutzende der kleinen Metallkapseln, die nicht explodiert sind, liegen hier verteilt. Es ist Munition, die viele Länder der Welt schon vor Jahren geächtet haben. Russland nicht

Krieg gegen die Zivilbevölkerung

Gegen halb neun am Morgen dann der nächste ohrenbetäubende Schlag, mitten im Zentrum von Mykolajiw, gefolgt von den Sirenen der Feuerwehr- und Rettungswagen. Ein russischer Marschflugkörper hat das Verwaltungsgebäude des Gouverneurs getroffen, der Mittelteil des neunstöckigen Sowjetbaus ist in sich zusammengefallen. Nach mehreren Tagen der Ruhe ist der Krieg schlagartig zurück. Und allein an diesem einen Ort im Zentrum der Stadt sind 36 Menschen tot, neben einigen Mitgliedern der Bürgermiliz allesamt Verwaltungsbeamte, die Hälfte davon Frauen.

Ukrainische Flagge auf dem Tresen einer
Bar in Mykolajiw / Moritz Gathmann

Der Überfall Russlands auf die Ukraine geht in den dritten Monat, und der Krieg hat sich dramatisch verändert seit dem 24. Februar, als Putin seine Raketen auf die Ukraine niederregnen ließ und seine Truppen aus Norden, Osten und Süden in Gang setzte. 

Verändert hat sich die Kriegsführung Russlands: Während in den ersten Wochen tatsächlich militärische Ziele wie Militärflughäfen, Kasernen, Munitions- und Treibstofflager im Fokus standen, lässt sich die Strategie seit Beginn des zweiten Monats unter dem Motto „Angst und Schrecken“ subsummieren: Verwaltungsgebäude werden angegriffen, Zivilisten wahllos erschossen, ganze Wohnviertel wie in den Vorstädten rund um Kiew und in Mariupol praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Das erinnert an die Strategie Moskaus in Syrien und im Zweiten Tschetschenienkrieg: Die Zerstörung ziviler Infrastruktur soll die Menschen in den betroffenen Gebieten mürbe machen, das Überleben immer schwieriger – und die Verteidiger zum Einlenken oder Aufgeben zwingen. 

Mitschuld des Westens

Doch die Reaktion der Ukrainer weist in eine andere Richtung. Mit verstaubter Jacke und Aktentasche kommt an diesem Dienstagmorgen ein Mann vom weiträumig abgesperrten Gelände der Gebietsverwaltung von Mykolajiw durch die Reihen der Soldaten. Er arbeitet in der Verwaltung, sein Gebäudeteil wurde von der russischen Rakete nicht direkt getroffen, über eine Nottreppe konnte er aus dem fünften Stock fliehen. „Ich habe abgetrennte Arme und Beine gesehen, es war fürchterlich“, sagt er, der gerade nur knapp dem Tod entronnen ist, mit bebenden Lippen. Um dann in eine Wutrede einzuschwenken: Die russischen „Unmenschen“ treffe die Hauptschuld, aber eine Mitverantwortung trügen auch die Feiglinge im Westen. „Das Blut der ukrainischen Männer, Frauen und Kinder klebt an den Händen Russlands, aber auch an euren“, sagt er. „Wenn ihr uns nicht die nötigen Waffen gebt, um uns zu verteidigen, wird das hier immer wieder passieren. Stattdessen kauft ihr weiter Öl in Russland und finanziert die Raketen, die uns treffen. Das russische Öl besteht zur Hälfte aus dem Blut der Ukrainer.“ Er sei kein Fan von Lenin, sagt er zum Schluss, aber mit einem habe der doch recht gehabt: „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen. So ist es auch heute mit dem Westen und Russland.“ 

In diesem Moment kommt der Presseoffizier des Gouverneurs, in Uniform und mit umgehängtem Maschinengewehr, aus der Ruine der Verwaltung. Er trägt die gelb-blaue ukrainische Fahne aus dem Büro des Gouverneurs, gewickelt um einen abgebrochenen hölzernen Flaggenstock. Der Gouverneur selbst, Witalij Kim, hat überlebt. „Ich habe an diesem Morgen verschlafen“, schreibt er im sozialen Netzwerk Telegram wenige Stunden nach der Attacke. Üblicherweise beginnt er um diese Uhrzeit in genau dem Gebäudeteil seine Morgenkonferenz, der von der Rakete getroffen wurde.

Aus dem gleichen Holz wie Selenskyj

Zwei Stunden später, gerade ist der nächste Fliegeralarm zu Ende gegangen, tritt Kim in einem Keller wenige Meter von der Verwaltung entfernt vor die Journalisten, in orangem T-Shirt und grüner Militärjacke. Zehn Raketen seien in der Nacht auf die Stadt abgefeuert worden, die letzte habe die Gebietsverwaltung zerstört. Wie viele abgefangen und wie viele ihr Ziel erreicht haben, sagt er nicht. Ob er Angst habe? „Wir haben alle Angst. Aber was soll ich machen – weinen? Der Krieg geht weiter, wir arbeiten weiter.“ Dann geht Kim wieder.

Die Folgen des russischen Raketenangriffs auf das Verwaltungsgebäude von Mykolajiw / Moritz Gathmann

Kim, 41 Jahre alt, steht wie Präsident Wolodymyr Selenskyj für eine neue Ukraine. Ein Geschäftsmann aus der Mittelschicht, in der Politik ein unbeschriebenes Blatt, holte Selenskyj ihn 2019 in sein Team: Kim organisierte den Wahlkampf für den zukünftigen Präsidenten, im November 2020 ernannte der ihn zum Gouverneur des Gebiets Mykolajiw. Der koreanischstämmige Kim ist weit entfernt von den Gouverneuren sowjetischen Zuschnitts, die in vielen russischen Regionen bis heute an der Macht sind – und bis zuletzt auch in der Ukraine verbreitet waren. Seit Beginn des Krieges ist er zum zweitbeliebtesten Politiker des Landes geworden: Auf Telegram folgen ihm fast eine Million Menschen. Dass er Russisch spricht – wie die meisten Menschen in seiner Region Mykolajiw – stört niemanden, ja belehrt alle eines Besseren, die der Meinung sind, es sei eine Frage der Sprache, ob jemand ukrainischer Patriot sein kann. 

„Alles wird gut“?

„Guten Abend, wir sind aus der Ukraine“, ist der klassische Satz, mit dem Kim auf Telegram seine täglichen Videobotschaften beginnt – trotz des alltäglichen Horrors immer mit einem Schuss Optimismus. Ähnlich wie Selenskyj steht Kim damit für die Gemütslage der Ukrainer. „Alles wird gut“, hört man immer wieder, wenn man dieser Tage durch die Ukraine fährt.

Bis es „alles gut“ wird, steht allerdings noch ein harter Weg bevor. Und es ist längst nicht gesagt, ob es wirklich gut wird.
Zwar haben die Russen sich nach verlustreichen Kämpfen aus den Gebieten Kiew, Tschernihiw und Sumy zurückgezogen, aber im Osten des Landes spielt sich eine Entscheidungsschlacht ab, deren Ausgang offen ist. Trotz der Verluste in den ersten Kriegswochen ist Russland der Ukraine noch immer überlegen, was Militärtechnik und die Zahl der Soldaten betrifft – ungeachtet der westlichen Waffenlieferungen. Und über die russisch-ukrainische Grenze, die vom russischen Militär kontrolliert wird, kann es unbegrenzt Nachschub organisieren.

Die Ukrainer treibt die Überzeugung an, dass der jetzige Krieg in Wirklichkeit ein Existenzkampf ist: Siegt Russland, und sei es nur ein Teilsieg in Form eines „eingefrorenen Konflikts“, erwartet die Ukraine das Schicksal Bosnien-Herzegowinas: Die Ukraine wäre über Jahrzehnte ein geteiltes Land, politisch gelähmt und wirtschaftlich ohne Zukunft, weil kein Unternehmen sein Geld in einer Konfliktzone investieren will. 

Witalij Kim, Gouverneur des Gebiets
Mykolajiw, bei einer Pressekonferenz in
einem Bombenkeller / Moritz Gathmann

„Wir kämpfen um das Überleben des ukrainischen Volkes, in einem Krieg, den ich ohne Übertreibung einen vaterländischen Krieg gegen Russland nenne“, hat Präsident Selenskyj im März gesagt. Der Begriff des „vaterländischen Krieges“ ist in den Folgestaaten der Sowjetunion eigentlich für den sowjetischen Krieg gegen die Nationalsozialisten von 1941 bis 1945 reserviert. Dass Selenskyj diesen historischen Vergleich zieht, zeigt: Es geht für die Ukraine tatsächlich um alles.

Die komplette Verrohung

Auch die Art, wie dieser Krieg geführt wird, ist seit Ende März eine andere: Gab es in den ersten Wochen noch Videos von russischen Kriegsgefangenen, denen die Ukrainer die Möglichkeit gaben, ihre Mütter anzurufen, ist die Rhetorik jetzt eine andere. „Wir werden russische Soldaten nicht mehr in Gefangenschaft nehmen“, erklärt Mamuka Mamulaschwili, Kommandeur der Georgischen Legion, die an der Seite Kiews kämpft, im April für seine Einheit. Zuvor war ein Video aus der Umgebung von Kiew verbreitet worden, auf dem Kämpfer seiner Einheit neben toten russischen Soldaten posieren, von denen mehrere die Hände hinter dem Rücken gefesselt hatten, und die offenbar mit Kopfschüssen getötet wurden. Das ist die neue, verrohte Wirklichkeit des Krieges.

Auch Witalij Kim, Gouverneur von Mykolajiw, schlägt im April, kurz nach dem Raketenangriff auf die Verwaltung, einen anderen Ton an: „Die Einstellungen der Menschen gegenüber den Russen sind nach Butscha völlig andere, jetzt schaut man ganz neu darauf, was passieren wird, wenn es zu direkten Kämpfen kommt.“ Wenn Kim nun von den russischen Soldaten spricht, nennt er sie nur noch Orks – in Anlehnung an die nichtmenschlichen Wesen, die in den Werken von J.R.R. Tolkien als willige Vollstrecker für finstere Mächte agieren. Die Bezeichnung für die russischen Soldaten hat er sich nicht ausgedacht, sie ist in der ukrainischen Bevölkerung heute Usus.

Straßenszene in Mykolajiw. Auf dem Plakat steht der Slogan: „Russisches Kriegsschiff, fick dich“ / Moritz Gathmann

Selbst Menschen wie Swjatoslaw Wakartschuk, ein beliebter ukrainischer Rocksänger, der mit seiner Band Okean Elsy auch in Russland große Erfolge feierte, sendet im April, am Tag, als eine russische Rakete auf dem Bahnhof von Kramatorsk 57 Flüchtlinge tötete, eine Videobotschaft an die Russen, in der von einer möglichen Versöhnung keine Rede mehr ist. Wakartschuk spricht von „Dreckskerlen, Bastarden und Tieren, die heute unsere Häuser zerstören, unsere Alten, Frauen und Kinder töten, die vergewaltigen und plündern.“ Und wirft dem schweigenden russischen Volk eine Mittäterschaft vor: „Wir werden niemals die voneinander unterscheiden, die getötet haben, die die Befehle gegeben haben – und die, die geschwiegen haben. Wir werden das nicht vergessen, und wir werden es nicht vergeben.“

 

Den zweiten Teil dieser Geschichte lesen Sie morgen an dieser Stelle.

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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