Konfrontation zwischen Ukraine und Russland - Kriegsangst im Donbass

Im ukrainisch kontrollierten Teil des Donbass fürchten die Menschen seit Putins Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk nichts so sehr wie eine Rückkehr des Krieges. Ein Stimmungsbild aus der Stadt Kramatorsk.

Ein 80 Meter hoher Fahnenmast im Zentrum von Kramatorsk / Bild: Moritz Gathmann
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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In Kramatorsk, 50 Kilometer von der Frontlinie entfernt, ist es sonnig und frühlingshaft warm an diesem Mittwoch. Eine überdimensionale ukrainische Flagge weht auf einem 80 Meter hohen Fahnenmast im Zentrum der Stadt. „Wir haben Angst. Und wir beten jeden Tag zu Gott, dass es keinen Krieg geben wird“, sagt Alla, Verkäuferin in einem Pelmeni-Geschäft in der Nähe des Fahnenmastes. „Wir erinnern uns alle noch zu gut daran, wie es 2014 war.“

Es ist Tag drei, nachdem Wladimir Putin mit seiner Anerkennung der „Volksrepubliken“ in der Ostukraine per Handstreich die Figuren vom Schachbrett der Diplomatie gefegt und Fakten geschaffen hat, auf die der Westen seitdem nach Antworten sucht.

Während aus den Volksrepubliken selbst Stimmen mit vorsichtigem Optimismus über den Schritt zu hören sind, weil die Bürger sich durch die russische Armee mehr Sicherheit erhoffen, leben die Menschen in den umliegenden Gebieten seitdem in Angst. Denn Putin hat am Dienstag klargestellt: Moskau hat die beiden Republiken auf dem gesamten beanspruchten Territorium anerkannt. Heute kontrollieren die Separatisten aber nur ein Drittel der Gebiete Luhansk und Donezk.

Auch auf Kramatorsk erheben die Separatisten Anspruch

Während von der Frontlinie die schwersten Kämpfe seit Jahren vermeldet werden, bleiben die Menschen in Kramatorsk aber trotz aller Sorgen erstaunlich ruhig. Die Kinder besuchen die Schulen, es gibt keine Hamsterkäufe, auch keine Massenflucht. Allerdings gibt es Berichte über einzelne Firmen, die ihre Lagerbestände aus Kramatorsk eilig in weiter westliche Gebiete verlegen. Menschen lassen sich dagegen nicht so schnell verlegen. „Natürlich werden wir hierbleiben“, sagt die Verkäuferin Alla. „Wer braucht uns denn schon woanders?“

Das Leben geht trotz der Bedrohungslage seinen Gang auf den Straßen von Kramatorsk

Auch auf Kramatorsk, eine Industriestadt mit etwa 160.000 Einwohnern im Gebiet Donezk, erheben die Separatisten Anspruch: 2014 versuchten sie schon einmal, die Stadt einzunehmen, wurden aber von der Armee zurückgeschlagen – 50 Menschen kamen ums Leben. Um das benachbarte Slawjansk dagegen wurde monatelang gekämpft. Die Erinnerung an Kämpfe, Raketen- und Granateneinschläge ist jedenfalls frisch: „Vielleicht können diejenigen, die weiter weg wohnen, sich nicht vorstellen, was Krieg wirklich bedeutet“, sagt Alla.

Anstatt eines Krieges wünscht sie sich deshalb Verhandlungen – inklusive Zugeständnissen der ukrainischen Seite. „Ein schlechter Friede ist besser als ein guter Krieg“, sagt sie in Abwandlung des Cicero-Ausspruchs: Den ungerechtesten Frieden ziehe ich selbst dem gerechtesten Kriege vor.

Für die Menschen vor Ort sind Geopolitik und Völkerrecht zweitrangig

Während die ukrainische Regierung den Ausnahmezustand ausruft und die Armee seit gestern Reservisten im Alter zwischen 18 und 60 Jahren zurück in den Dienst holt, hört man in Kramatorsk die Perspektive von Menschen, für die Geopolitik und Völkerrecht zweitrangig sind, ihr eigenes Überleben aber an erster Stelle steht.

Ähnlich drückt es Natalja aus, Lehrerin an einer Grundschule, die 2014 von einer Rakete getroffen wurde – glücklicherweise in den Sommerferien, sodass niemand verletzt wurde. „Es gibt sehr viel Desinformation, von allen Seiten“, sagt sie. Unter ihren Schülern wird der mögliche Krieg breit diskutiert, aber Natalja sagt ihnen: „Überlasst die Politik den Erwachsenen. Ihr seid hier zum Lernen.“ Gleichzeitig erklärt sie ihnen in „persönlichen Gesprächen“, wie wichtig die Einheit der Ukraine sei.

Die 35-jährige Lehrerin Natalja emigriert Ende Februar nach Belgien

Der ukrainische Staat bemüht sich seit 2014, besonders im Osten des Landes den ukrainischen Patriotismus zu fördern. Damals hatten in der Folge der Maidan-Revolution separatistische Bewegungen besonders im Osten viel Unterstützung bekommen – in der Industrie- und Kohleregion hatte auch die Partei des gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch ihre Machtbasis. Bis heute wählen die Menschen hier mehrheitlich die Nachfolgeorganisation der Janukowitsch-Partei.

In der weitgehend russischsprachigen Region wird nur noch auf Ukrainisch unterrichtet – Russisch ist lediglich Unterrichtsfach. Auch der 80 Meter hohe Fahnenmast, im letzten Jahr aufgestellt, ist Teil dieser Strategie. Der Erfolg, das zeigen die Gespräche mit den Menschen, ist begrenzt.

Es liegt an der Wirtschaftskrise, dass die Menschen sich vom Staat abwenden

Es ist nicht der von Putin behauptete drohende Genozid an den russischsprachigen Ukrainer, der dazu führt, dass die Menschen sich in dieser Gegend vom Staat abwenden, sondern die schon ein Jahrzehnt andauernde Wirtschaftskrise. Besonders zu schaffen machen den Menschen die Energiepreise: Das Durchschnittseinkommen liegt bei gut 200 Euro, aber schon der Liter Benzin kostet mehr als einen Euro.

„Wechsel zu Ukrainisch“: Plakat in der Grundschule in Kramatorsk, in der Natalja unterrichtet

„Natürlich liebe ich die Ukraine, sie ist meine Heimat“, sagt Natalja. Nächste Woche wird sie aber mit ihren beiden Kindern nach Belgien ziehen, zu ihrem Mann, der schon vor mehreren Jahren dorthin emigriert ist. Mit der aktuellen Lage fällt der Umzug aber nur zufällig zusammen. „Was soll ich tun, wenn das Land mir solche Rahmenbedingungen gibt?“, sagt sie.

Am Abend veranstaltet die Stadt eine patriotische Demonstration: An die 500 Menschen versammeln sich vor der Stadtverwaltung, ukrainische Flaggen werden verteilt und geschwenkt, ukrainische Folkore-Gruppen singen fröhliche Lieder. Aber Stimmung kommt nicht auf: Die meisten Teilnehmer sind „freiwillig-gezwungen“ hier, aufgefordert von Schulen, Verwaltungen und sonstigen staatseigenen Institutionen. Allerdings sind auch vor allem junge Menschen dabei, die aus echtem Patriotismus und freiem Willen gekommen sind.

„Die meisten hier sind Bjudschetniki“, schimpft denn auch Gennadij Botscharow, der in Kramatorsk die rechtspatriotische Organisation „Rechter Sektor“ führt, in Anspielung auf jene Menschen, die vom staatlichen Budget leben. Das Vertrauen in die örtlichen Behörden für den Fall eines Einmarschs ist gering. „Der Bürgermeister schwenkt heute die ukrainische Flagge, und morgen die russische“, sagt Botscharow. Zudem macht die Information die Runde, dass nur 20 Prozent der Reservisten einberufen werden können. Er und seine Mitstreiter haben sich deshalb in ihrem kleinen Büro versammelt, um einen Plan zu schmieden für den Fall eines Angriffs.

Der heute 62-jährige Botscharow musste 2014 aus Donezk fliehen, wo er Leitender Ingenieur einer Fabrik war – danach kämpfte er gegen die Separatisten, kann aber nicht mehr in die Heimat zurück. Er hat sich heute bei der Wehrdienststelle gemeldet und wartet nun auf seine Einberufung. Aber manchen geht das nicht schnell genug: „2014 darf sich hier nicht wiederholen“, schimpft Felix, ein Mann in Camouflage, auch er schon 63. Damit meint er die passive Reaktion der örtlichen Behörden, die den Separatisten überhaupt erst den Raum gab, um sich zu organisieren. Und die schlechte Organisation der proukrainischen Kräfte.

„Die russischen Panzer stehen doch schon in Donezk, wir brauchen einen Plan, wie wir uns sammeln und an Waffen kommen, wenn es losgeht“, sagt Felix. Botscharow versucht, ihn zu beruhigen. Für den Fall der Fälle wollen sie sich spätestens eine Stunde nach dem Beginn des Angriffs am „Panzer“ treffen. Der Panzer, ein T34 aus sowjetischer Produktion, aufgestellt in den 70er-Jahren, erinnert an die Befreiung der Stadt von den Deutschen im Zweiten Weltkrieg.

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