Ukraine-Krise - Putin spielt Va banque

Mit der Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk treibt Wladimir Putin die Eskalation in der Ukraine-Krise voran. Mögliche Reaktionen des Westens scheinen für ihn bedeutungslos zu sein, Wirtschaftssanktionen fürchtet er nicht. Die Ukraine und der Westen stecken nun in der Zwickmühle.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj steht vor einem Dilemma / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Auch langjährige Russlandkenner saßen am Montagabend fassungslos vor den Bildschirmen, als Wladimir Putin, hinter seinem Schreibtisch thronend, zunächst alle Mitglieder seines Sicherheitsrats vorsprechen ließ – um dann die natürlich einstimmig unterstützte Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk zu unterzeichnen – flankiert von einer ellenlangen Rede, in der er erneut die Staatlichkeit der Ukraine in Frage stellte.

Der Einmarsch russischer „Friedenstruppen“ in den von Separatisten kontrollierten Teil des Donbass ist entweder schon vollzogen – oder vollzieht sich in diesen Stunden. Nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 kontrolliert Russland nun einen weiteren Teil des ukrainischen Staatsgebiets – und dreht die Eskalationsspirale weiter.

Man kann das nicht anders beschreiben als eine Übertölpelung des Westens, der sich in den letzten Wochen und Monaten mit Gesprächen auf höchster Ebene um eine Entspannung der Lage bemüht hatte. Eine Lösung des Konflikts auf Basis der Minsker Vereinbarungen ist seit gestern passé. Die Entscheidung ist auch ein Affront gegenüber US-Präsident Joe Biden, der am Wochenende ein Gipfeltreffen mit Wladimir Putin angekündigt hatte.

Putin zieht die Patriotismus-Karte

Warum tut Putin das? Er tut, was er will, weil er es kann. Im Schaulaufen der Mitglieder des Sicherheitsrats am Montag kam das in vielen Reden zur Sprache: Das Land habe auch die „antirussischen“ Sanktionen des Westens nach 2014 gut überstanden, auch weitere Sanktionen fürchte man nicht. Und natürlich geht es auch um Innenpolitik: Wirtschaftlich stagniert das Riesenreich seit Jahren, deshalb zieht Putin nun die Patriotismus-Karte, die ihm seine Popularität schon 2014 nach der Krim-Annexion gesichert hat.

Die Situation in der Ukraine spitzt sich damit dramatisch zu: An der Frontlinie der „Volksrepubliken“ stehen sich nun ganz offiziell russische und ukrainische Soldaten gegenüber. Die Ukraine steht vor einem Dilemma: Eigentlich kann sie unmöglich die De-facto-Annexion von weiteren Teilen ihres Staatsgebiets hinnehmen. Für Präsident Selenskyj wäre das politischer Selbstmord.

Wenn nun aber die ukrainischen Soldaten an der Frontlinie in die Offensive gehen, werden sie es nicht nur mit einem übermächtigen Gegner zu tun bekommen. Sie werden Russland den casus belli liefern: Putin könnte dann behaupten, die ukrainische Armee habe seine „Friedenstruppen“ attackiert, deshalb müsse Russland reagieren. Die Folge könnte sein, dass die russische Armee mindestens die gesamten Gebiete Lugansk und Donezk einnimmt. Denn die „Volksrepubliken“, die heute nur ein Drittel dieses Territoriums kontrollieren, erheben Anspruch auf das gesamte Gebiet. Inzwischen scheint aber auch eine Ausweitung des Kriegs auf weitere Gebiete der Ukraine nicht mehr ausgeschlossen.

Militärisch kann Kiew nur verlieren

Was bleibt dem Westen übrig? Es gibt kaum noch eine gemeinsame Basis, auf der man diskutieren kann, inklusive des Völkerrechts. Wladimir Putin zeigt dieser Tage, dass er den Westen, allen voran die EU, für schwach hält, dass er ihn vor sich hertreiben kann. Fakten spielen keine Rolle mehr: In der russischen Version der Ereignisse hat nicht Russland diese Krise mit seinem Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze eskaliert, sondern die ukrainische Armee, die sich angeblich auf einen Einmarsch in die „Volksrepubliken“ vorbereitete. Die Mitglieder des Sicherheitsrats schimpften auf das „faschistische Regime“ in Kiew, das einen Genozid vorbereite. Das alles hat – angefangen bei der Tatsache, dass die Ukraine von einem jüdischen Ukrainer regiert wird – wenig bis nichts mit der Wirklichkeit zu tun.

Der Westen wäre nun gut beraten, einerseits die Ukraine von unüberlegten – militärischen – Schritten abzuhalten. An dieser Front kann Kiew, wie oben beschrieben, nur verlieren. Gleichzeitig benötigt es eine geschlossene Antwort in Form von spürbaren Sanktionen. Diese Sanktionen werden auch spürbar sein für die Menschen im Westen. Wer aber nun keinen Grenzpfahl in den Boden rammt, der einen offenbar zu allem bereiten Putin aufhalten kann, der wird es später bereuen.

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