Ukraine-Krieg - Zwei Arten, den Krieg zu verstehen

Bei der Betrachtung internationaler Konflikte gibt es, grob gesagt, zwei Ansätze: den kybernetischen, der bestehende Machtverhältnisse und Interessenkonflikte in Rechnung stellt, und den legalistischen, der Recht und Gerechtigkeit notfalls mit Waffengewalt durchsetzen will. In der Debatte über den Ukraine-Krieg kommen Vertreter beider Ansätze kaum mehr miteinander ins Gespräch. Dabei bergen beide gewisse Risiken, über die nüchtern zu diskutieren wäre.

Die Idee des „Gleichgewichts der Kräfte“ geht auf den Wiener Kongress 1814/15 zurück / dpa
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Autoreninfo

Martin Krohs ist Gründer des Osteuropa-Portals dekoder.org (Grimme Online Award 2016 und 2021) und studierter Philosoph. Er hat Jelzin- wie Putin-Ära über mehr als zehn Jahre in Moskau aus nächster Nähe verfolgt. Derzeit entwickelt er das Online-Tool te.ma, das gesellschaftlich kontroverse Themen wissenschaftlich fundiert debattierbar macht.

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Dieser Krieg ist ein so komplexer Ereigniszusammenhang, dass er in keinen begrifflichen oder analytischen Rahmen passt, jedenfalls nicht in einen einzelnen. Es lassen sich grob zwei Frameworks unterscheiden, innerhalb derer man versuchen kann, zu verstehen, was vor sich geht: Ein kybernetisches und ein legalistisches. 

Spiel der Kräfte

Das kybernetische Framework postuliert eine Systemmechanik der internationalen Politik. In ihm werden die Interessen der Akteure als Kräfte vorgestellt, die mehr oder weniger frei aufeinander einwirken. Auf der Ebene der akademischen Theorien wird dieses Framework von den sogenannten realistischen Schulen der Internationalen Beziehungen bespielt, mit Abstrichen auch von den konstruktivistischen. Historisch gesehen ist es im 19. Jahrhundert verwurzelt, in den Ideen des „Gleichgewichts der Kräfte“, für die beispielhaft der Wiener Kongress steht.

Als universelles Interesse, das jeder Staat hat, gilt dabei dasjenige nach Sicherheit. Da die eigene Sicherheit durch ebensolche Sicherheitsinteressen anderer Staaten bedroht werden kann, entstehen Konflikte. Handelt es sich um Staaten mit ebenbürtiger politischer Macht, so können die Konflikte entschärft werden, indem die Akteure einander gegenseitig in Schach halten („Balancing“ – ein Beispiel wäre der Kalte Krieg). Kleinere Staaten müssen sich strategisch geschickt anpassen und bei den großen Schutz suchen („Bandwagoning“). Dabei spielt der geopolitische Faktor Raum eine bedeutende Rolle. 

Auf den derzeitigen Krieg und die ihm vorhergehende Dynamik lässt sich dieses Framework in mehrfacher Weise anwenden. Zunächst erklärt es, weshalb sich die osteuropäischen und baltischen Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion der Nato anschlossen: Sie hätten eine mögliche Bedrohung durch Russland nicht auf eigene Kraft gegenbalancieren können. Die daraus resultierende Verschiebung der Grenze des westlichen Bündnisses nach Osten ließ sich dann wiederum von Seiten Russlands als Sicherheitsbedrohung interpretieren. Die Ukraine geriet so schließlich als – vergleichsweise – kleiner Staat zwischen die Großmacht Nato und das zunehmend revanchistische Russland. In der Denkweise des kybernetischen Frameworks nimmt der Konflikt damit auch Züge eines Stellvertreterkrieges an, in den die USA durch ihre Unterstützung für die Ukraine involviert sind.

Forderung des Rechts

Im legalistischen Framework hingegen entsteht ein vollkommen anderes Bild. Hier geht es nicht um Interessen, Macht und Kräfte, sondern um Recht, konkret: um Völkerrecht. Vor dem sind alle Staaten gleich oder sollten es zumindest sein, Größe und geopolitische Faktoren spielen keine Rolle. Es gelten unantastbare Souveränität und Bündnisfreiheit und kein Staat hat auf die inneren Angelegenheiten eines anderen Einfluss zu nehmen. Eine Unterordnung der „Kleinen“ unter die „Großen“ wäre in diesem Framework keine freiwillige, sondern eine notgedrungene oder gar erzwungene: Was im ersten Modell als „Bandwagoning“ angesehen wird, präsentiert sich im zweiten als Imperialismus.

Die politische Umsetzung dieses neuen rechtsbasierten Ordnungssystems begann im 20. Jahrhundert, initiiert vor allem von den USA auf der Grundlange westeuropäischer Ideen der liberalen Aufklärung, als Reaktion auf die Verheerungen der beiden Weltkriege. Die Rolle des zwischenstaatlichen Mediators und internationalen Rechtsgaranten sollte der Völkerbund einnehmen, der als Teil von Woodrow Wilsons 14-Punkte-Programm mit den Versailler Verträgen ins Leben gerufen wurde (und dem die USA letztlich nicht beitraten). 
 

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Der Völkerbund scheiterte zwar bereits in der Zwischenkriegszeit, und auch die UNO ist heute ein sich sicherheitspolitisch weitgehend selbst blockierendes Organ. Andererseits hat die liberale Bestrebung der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen bedeutende Erfolge hervorgebracht: Kriege zwischen den Staaten der westlichen Welt sind heute weitgehend undenkbar, autoritäre Staaten wie Deutschland, Japan oder Spanien haben sich in pluralistisch-demokratische verwandelt und die globale Tendenz zur Teilnahme am liberalen, rechtlich regulierten internationalen Ordnungssystem bleibt stark. Eine Frage, die sich gerade heute stellt, ist allerdings, wie das liberale System reagieren kann, wenn einzelne einflussreiche internationale Akteure es ignorieren oder sich ihm entgegenstellen.

Während das kybernetische Framework grundsätzlich wertungsfrei ist – ohne damit eine Rechtfertigung besinnungsloser Machtpolitik zu verbinden –, hat das legalistische Framework ein stark normatives Programm: In seinem Zentrum steht ein Sollen, das die Gleichheit aller Staaten vor dem Völkerrecht fordert. Auf Ebene der Theorie wird es vertreten von den sogenannten liberalen Schulen der Internationalen Beziehungen, die sich als ausdrückliches Gegenparadigma zur realistischen Schule verstehen. Im gegenwärtigen Konflikt modelliert es die Situation als eine massive Verletzung der legitimen Rechtsansprüche der Ukraine sowie der Menschenrechte, die durch nichts zu rechtfertigen ist und für deren Beurteilung auch die Vorgeschichte des Konflikts keine besondere Rolle spielt. Ziel der Politik muss es dementsprechend sein, die internationale Rechtsordnung wieder herzustellen und dauerhaft zu sichern.

Zwei Schichten internationaler Ordnung

Man darf wohl hoffen, dass dem Rechtsprinzip die Zukunft gehört. In der tatsächlichen globalen Ordnungsstruktur seit Beendigung des zweiten Weltkriegs sind aber kybernetisches („realistisches“) und legalistisches („liberales“) Framework weiterhin übereinandergelagert und bilden eine seltsame Doppelstruktur. 

Ihre jeweiligen Wirk- und Handlungsprinzipien lassen sich dabei kaum miteinander vereinbaren: Das Denken in Kräfteverhältnissen und Einflusssphären führt zu gänzlich anderen praktischen Konsequenzen als das in Kategorien des Rechts. Erschwerend kommt hinzu, dass beide Frameworks schwerpunktmäßig an je eigene territoriale Räume gebunden (das legalistische an den globalen Westen sowie, über die UNO, an viele Staaten Afrikas; das kybernetische vor allem an die BRICS-Staaten) sind und dass Akteure auch aus strategischen Gründen das eine oder das andere System stärker akzentuieren oder gar strategisch instrumentalisieren.

In der Praxis ist internationale Politik denn auch meist ein Lavieren zwischen dem Rekurs auf Kräfteverhältnisse und Sicherheitsinteressen auf der einen, dem auf das Völkerrecht auf der anderen Seite. Sie gleicht damit gewissermaßen einem Tanz auf zwei Stühlen zugleich, wobei keiner von ihnen umgestoßen werden darf. Vermutlich ist nichts für die stets prekäre Friedensordnung unserer Epoche so gefährlich, wie eines ihrer beiden Ordnungsprinzipien zu ignorieren und das andere absolut zu setzen.

Friedenspartei und Gerechtigkeitspartei

Auch in den derzeit in Deutschland geführten Debatten lässt sich eine Formatierung gemäß den beiden Frameworks erkennen, zumindest in groben Zügen. 

Die „Friedenspartei“ priorisiert die Kybernetik: Man ist bereit, von Russland formulierte Sicherheitsbedenken und historische Kränkungen grundsätzlich anzuerkennen – nicht allerdings deren strategische Instrumentalisierung, die groteske Rhetorik des „Kampfes gegen die ukrainischen Nazis“ und erst recht nicht das Durchsetzungsmittel Krieg. Als Lösung des Konflikts strebt man eine Neutralität der Ukraine an und nimmt die damit verbundenen Probleme in Kauf: die immensen Schwierigkeiten, wirkungsvolle Sicherheitsgarantien zu etablieren und die Tatsache, dass eine solche „Kompromisslösung“ dem Willen der Invasionsopfer selbst offenbar zuwiderläuft. Gegenüber einer allzu resoluten Bewaffnungspolitik ist man skeptisch eingestellt, weil deren Ziel in einem militärischen Sieg der Ukraine bestehen müsste, den man für unterreichbar oder nicht nachhaltig erachtet.

Gänzlich andere Denk- und Handlungsmodelle verfolgen die Vertreter der Gegenseite, die man die „Gerechtigkeitspartei“ nennen könnte und die derzeit die deutsche Debatte dominiert. Sie orientieren sich am legalistischen Framework, entsprechend steht der Völker- und Menschenrechtsverstoß im Mittelpunkt. Ziel der Politik kann daher nur sein, die Rechtsverletzung rückgängig zu machen, also die russische Armee hinter die Ostgrenze der Ukraine zurückzutreiben und die Verantwortlichen nach Möglichkeit zu bestrafen, was heißt: dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu überstellen. Dafür nimmt man in Kauf, dass eine solche Politik, je nach Haltung und Ressourcen des Kremls, auch zu einer weiteren Eskalation des Konflikts, im Extremfall bis zu einer atomaren Auseinandersetzung führen könnte und dass die Dauerhaftigkeit eines solchen militärisch erzwungenen Friedens fraglich ist – jedenfalls solange mit ihm kein Regimewechsel in Russland einhergeht. 

Nüchtern angesichts von Unheil und Verbrechen

Die derzeitige Lage ist katastrophal, tragisch, sie erregt in ebensolchem Maße politische Abscheu wie menschliches Mitleid. Aber abgesehen von den emotionalen und moralischen Appellen, die von ihr ausgehen, ist sie auch auf eine geradezu den Verstand sprengende Weise kompliziert. Eine Erkenntnis- und Bewältigungsstrategie, die dieser Realität auch nur ansatzweise gerecht wollte, müsste alle verfügbaren methodisch adäquaten Ansätze zusammennehmen. 

Die größte Herausforderung bietet dabei die selbstwidersprüchliche Dualität der internationalen Sphäre selbst. Um mit ihr angemessen umzugehen, muss man kybernetisches und legalistisches Framework kombinieren und sie in einer Weise gegeneinander austarieren, die das Abgleiten in eine brutalistische geopolitische Vergangenheit vermeidet und der Notwendigkeit einer weiter fortschreitenden, zivilisierten Vergesellschaftung der Staaten Rechnung trägt. Zwangsläufig tauchen dabei widersprüchliche Optionen auf, zwischen denen entschieden werden muss, unter Inkaufnahme der jeweils mit ihnen verbundenen Risiken.

Doch auch damit wäre es noch nicht getan. Denn außer den Elementen der beiden genannten Frameworks müsste man für ein angemessenes Verständnis dieses Krieges, zu dem es niemals hätte kommen dürfen, auch noch zahlreiche andere Faktoren zusammendenken. Allein nur Russland betreffend etwa das Fehlen einer gewissenhaften Aufarbeitung des Stalinismus, die politisch instrumentalisierte Justiz, die Zerschlagung der medialen Pluralität, der Neopanslawismus und Neoimperialismus und überhaupt die ideologische Barbarisierung, die Rolle der Kirche als Quasi-Ministerium, die Wirtschaftsfalle aus Rohstoffabhängigkeit und Korruption, die personalisierte Autokratie und nicht zuletzt der Charakter des Autokraten selbst. 

Auch wenn es vielleicht das Wirkungsvollste wäre, um die Verheerung so weit wie möglich zu begrenzen und das Unheil wieder in seine Schranken zu weisen: Niemand kann ein solches totales, integriertes Verständnis der Lage erlangen. Was aber möglich sein muss, das ist, die Unvollständigkeiten der jeweils einzelnen Denkweisen zu erkennen und die Trade-offs und jeweiligen vermutlichen Risiken der unterschiedlichen politischen Handlungsvorschläge nüchtern zu benennen. Das wäre Voraussetzung, um sich bei seiner der Suche nach einer Option, die unter allen schlechten immer noch die beste sein könnte, der enormen inneren Fragilität der notwendigen Entscheidungen bewusst zu sein.

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