Ukraine-Konflikt - Aufrichtigkeit und Realpolitik

Die jüngste Annäherung zwischen Russland und China sollte dem Westen in Bezug auf seine Ukraine-Politik zu denken geben. Eine reine Politik der Konfrontation ist dem Frieden in Europa nicht dienlich. In dieser Woche gewinnen durch die Reisen von Bundeskanzler Scholz nach Washington und Präsident Macron nach Moskau die diplomatischen Bemühungen an Fahrt.

„Keine verbotenen Bereiche“: Wladimir Putin und Xi Jinping in Peking / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

So erreichen Sie Rüdiger Lüdeking:

Anzeige

Die russisch-chinesische Erklärung, die bei dem Treffen der Präsidenten Wladimir Putin und Xi Jinping anlässlich der Eröffnung der Olympischen Winterspiele am 4. Februar veröffentlicht wurde, unterstützt die russischen Forderungen in der Ukraine-Krise und lehnt die Nato-Osterweiterung ab. Dies war zu erwarten.

Bemerkenswert ist allerdings der grundsätzliche thematisch-breite Ansatz der Erklärung, mit dem offenbar bewusst ein enger Schulterschluss der beiden Länder und eine übergreifende Gegenposition zur westlichen markiert werden soll. Unverständnis und Verärgerung in westlichen Staaten dürfte die dazu in der Erklärung enthaltene anmaßende Beanspruchung universeller Werte wie Demokratie und Freiheit auslösen. Darüber hinaus umwerben China und Russland, die von einer Änderung der weltweiten Kräfteverhältnisse und einer grundlegenden Transformation der Weltordnung ausgehen, mit einer umfassenden Entwicklungsagenda gerade auch die Staaten der Dritten Welt.

Hat sich Russland unverbrüchlich fest an China gebunden?

Soweit vielleicht nicht überraschend. Es fallen jedoch einige Formulierungen in der Erklärung auf, die nicht ganz in den üblichen Duktus diplomatischer Sprache passen. So werden die bilateralen Beziehungen zwischen China und Russland als den politischen und militärischen Allianzen des Kalten Kriegs überlegen bezeichnet und zudem ominös herausgestellt, dass die Freundschaft beider Länder keine Grenzen kenne und es in ihrer Zusammenarbeit keine „verbotenen Bereiche“ gebe. Diese Formulierungen mögen in der jetzigen Konfrontation mit der Nato von Russland taktisch motiviert sein, dennoch müssen sie aufhorchen lassen. Daran knüpft sich die Frage nach dem zukünftigen Charakter der chinesisch-russischen Beziehungen. Hat sich Russland damit schon unverbrüchlich fest an China gebunden bzw. ausgeliefert? Hat sich die „Korrelation der Kräfte“ zwischen den globalen Machtzentren nachhaltig zuungunsten der westlichen Demokratien verschoben? Dies sind Fragen, die vitale deutsche und europäische Interessen betreffen und mit denen man sich auch bei der Festlegung einer zu verfolgenden Strategie im Ukraine-Konflikt auseinandersetzen muss.

Als erstes wird dadurch die Bedeutung westlichen Zusammenhalts in der aktuellen Konfrontation mit Russland deutlich. Allerdings kann dieser Zusammenhalt nicht allein von der Empörung über die Eskalation Russlands in der Ukraine-Krise getragen sein. Die gemeinsame Position muss sich vielmehr an unseren Interessen und ihrer Durchsetzbarkeit orientieren. Trotz des inakzeptablen militärischen Aufmarsches an der Grenze zur Ukraine kann die westliche Haltung nicht allein in der Androhung massiver Gegenmaßnahmen im Falle einer russischen Invasion und Schritten bestehen, die die Konfrontation weiter anheizen und das Risiko einer kriegerischen Auseinandersetzung, die auch nicht im ukrainischen Interesse wäre, verschärfen und eine Konfrontation bzw. Ausgrenzung Russlands aus der europäischen Sicherheitsordnung zementieren.

Nato-Osterweiterung entsprach dem Jalta-Denken in Einflusszonen

Der britische Zeithistoriker Timothy Garton Ash kritisiert in Zeitungskommentaren der letzten Tage, dass der Westen anders als Putin nicht wisse, welche Ziele er in seiner Politik gegenüber Osteuropa verfolgen solle. Er greift hierzu auf eine für die Entwicklung nach dem Kalten Krieg zentrale Unterscheidung zwischen dem sogenannten „Helsinki-Modell“ und dem „Jalta-Modell“ zurück: Das erste gehe von der Schaffung gleicher, unabhängiger, demokratischer Staaten aus, die der Rechtsstaatlichkeit und friedlichen Konfliktregelung verpflichtet seien, während das zweite Modell schlicht in einer Aufteilung Europas in Einflusszonen bestehe. Garton Ash spricht sich für eine entschiedene Verfolgung des Helsinki-Modells aus, wie es auch die OSZE repräsentiert. Das ist nur folgerichtig, war dieses Modell doch auch die allgemein geteilte Zielvorstellung am Ende des Kalten Kriegs.

Die amerikanischen Präsidenten George H.W. Bush und Bill Clinton entschieden sich jedoch schon sehr früh für den Stabilitätsexport nach Osteuropa durch die Nato-Erweiterung (unter Einschluss der Beistandsgarantie nach Artkel 5 des Washingtoner Vertrages), die dem zentralen Sicherheitsinteresse der mittelosteuropäischen Staaten und auch einiger Nachfolgestaaten der Sowjetunion entgegenkam. Diese suchten durch einen Nato-Beitritt Schutz vor Russland, das sie als Gegner sahen. Im Kern entsprach damit der Erweiterungsprozess, der letztlich die europäische Sicherheitsordnung mehr als die Charta von Paris und alle anderen Grundlagendokumente der KSZE/OSZE prägte, dem Jalta-Denken in Einflusszonen.

Es ist geradezu eine Ironie, dass Russland in den 90er- und 2000er-Jahren aktiv die Ersetzung der Verteidigungsbündnisse durch ein kollektives Sicherheitssystem und damit das Helsinki-Modell propagierte, jedoch keinerlei Gehör dafür fand. Russland hat stets der Nato-Erweiterung und der dadurch wesentlich determinierten europäischen Sicherheitsordnung kritisch-ablehnend gegenübergestanden, konnte sie jedoch nicht verhindern. Jetzt sucht es durch die mit dem Truppenaufmarsch geschaffene Drohkulisse Aufmerksamkeit zu erreichen und letztlich sein Ziel der Wahrung einer eigenen Einflusszone durchzusetzen. Dies wird aus russischer Perspektive als bloße Reaktion auf die Ausdehnung der Einflusszone der Nato dargestellt. Allerdings sollte es auch Präsident Putin zu denken geben, dass Russland offenbar über keinerlei Attraktivität in den Bevölkerungen der Nachbarstaaten verfügt, das Trachten nach Etablierung einer Einflusszone eher noch geeignet ist, zu einer weiteren Entfremdung in den betreffenden Staaten zu führen.

Zweifel am Sinn von Waffenlieferungen

Timothy Garton Ash kritisiert heftig die deutsche Weigerung, Waffen an die Ukraine zu liefern. Wenn Deutschland dies aus Gründen einer pazifistischen Ideologie oder der Beschwichtigung Russlands täte, so hätte er recht. Allerdings sind angesichts der erdrückenden militärischen Überlegenheit Russlands Zweifel angebracht, ob Waffenlieferungen jetzt sinnvoll sind, ob von diesen eine abschreckende Wirkung ausgehen kann oder ob sie nicht im Gegenteil die Konfrontation weiter verschärfen und damit auch einer militärischen Eskalation durch Russland Vorschub leisten. Am Rande sei erwähnt, dass auch praktische Gründe wie das Erfordernis der Einplanung zeitlicher Vorläufe für die Ausbildung an gelieferten Waffensystemen und deren wirksame Einfügung in das vorhandene Verteidigungsdispositiv Berücksichtigung finden müssen.

Aktuell wird die Bereitschaft zu Waffenlieferungen an die Ukraine zum Testfall für die Verlässlichkeit Deutschlands als Partner der Ukraine stilisiert und Deutschland zu Unrecht auf die Anklagebank gesetzt. Es geht letztlich – so hart das klingen mag – nicht um die Befleißigung um letztlich symbolische Maßnahmen und Gesten der Solidarität. Man mag über den Wert von Waffenlieferungen zum jetzigen Zeitpunkt streiten; unredlich ist jedoch die Diskreditierung derjenigen, die sie aus realpolitischen Erwägungen ablehnen. Aufgeregtheit und moralisierend-entrüstete Diskussionen helfen bei der Erreichung des zentralen Ziels, der Verhinderung eines Krieges und der Einbindung Russlands in die europäische Sicherheitsarchitektur, nicht weiter. Das ist, worum es aktuell vordringlich gehen muss.

In dieser Woche gewinnen durch die Reisen von Bundeskanzler Scholz nach Washington und Präsident Macron nach Moskau die diplomatischen Bemühungen an Fahrt. Die Bundesregierung und insbesondere der Bundeskanzler sind aktuell wegen angeblicher Passivität und verspäteten persönlichen Engagements heftiger Kritik ausgesetzt. Selbst wenn in der jetzigen gefährlichen Situation die Zeit eher stiller Diplomatie ist, so fallen die Zurückhaltung und das angestrengte Bemühen auf, Einigkeit mit der wesentlich von den USA vorgegebenen Linie zu demonstrieren. Und – das sollte allen Beteiligten bewusst sein – es gibt eine klare Position der USA und der Nato nicht nur in der Verurteilung der russischen Drohgebärden, sondern auch in der Frage, dass eine russische Invasion in der Ukraine massive Gegenmaßnahmen auslösen würde.

Geschlossenheit heißt nicht blinde Gefolgschaft

Allerdings vertreten USA und Nato bisher eine harte Haltung, die mit Ausnahme von rüstungskontrollpolitischen Fragen wenig Spielraum für Verhandlungen eröffnet. Dabei muss es doch jetzt gerade darum gehen, den Weg für ernsthafte Verhandlungen mit Russland zu ebnen. Selbstgerechtes oder gar überhebliches Verharren in einer als prinzipienfest beschriebenen Haltung und der Verzicht auf eine selbstkritische Überprüfung der eigenen Positionen sind ebenso falsch wie ein Lavieren oder Mitschwimmen im Geleitzug einer von westlichen Partnern wie auch einflussreichen deutschen Medien propagierten kompromisslosen Position.

Es geht zwar um Wahrung von Geschlossenheit, nicht jedoch um blinde Gefolgschaft. Es geht um eine nüchterne und umsichtige Realpolitik, die nichts mit Gefühlen oder Neigungen zu tun hat. Für sie im Rahmen des Bündnisses und in den USA einzutreten, erfordert nicht nur Überzeugungskraft, sondern auch Mut und Konsequenz. Allzu schnell und eilfertig werden abwegige Pauschalvorwürfe des Defätismus, der Schwäche und der Beschwichtigung Russlands erhoben. Die Argumente für einen realpolitischen Ansatz habe ich an anderer Stelle bereits dargelegt. Nur um es krass beispielhaft darzulegen: Die Nato wird nicht um einen Interessenausgleich mit Russland herumkommen; dabei wäre gegebenenfalls der Ukraine mit einer abgesicherten und garantierten Neutralität mehr gedient als mit einer fortgesetzten Konfrontation, bei der sie – sei es mit oder ohne russische Intervention – der ständigen Bedrohung durch Russland ausgesetzt wäre oder unter Kuratel Russlands stünde.

Strategische Autonomie ist nötig

Und um auf die chinesisch-russische Erklärung zurückzukommen: Es liegt nicht im Interesse des Westens, Russland in die Arme Chinas zu treiben, was die globalen Machtverhältnisse weiter zu Lasten der demokratisch verfassten westlichen Staaten verändern würde. Der durch die Erklärung markierte Weg ist nicht unumkehrbar; Russland will als sich europäisch definierende Macht nicht in die Rolle des Juniorpartners Chinas gedrängt werden. Trotz der Ablehnung des zunehmend autoritär und außenpolitisch-aggressiv agierenden Putin-Regimes – dies ist letztlich nicht Ausdruck der inneren Stärke, sondern Schwäche – sollte deshalb jetzt alles daran gesetzt werden, Russland auch durch attraktive ökonomische Angebote nachhaltig in die europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden und damit auch die Voraussetzung eines „Wandels durch Annäherung“ zu schaffen.

Und es wird vor dem Hintergrund der sich verändernden globalen Mächtekonstellation und einem absehbar rauheren Sicherheitsumfeld, in dem auch den USA zunehmend Grenzen gesetzt sind, darauf ankommen, die EU zur Selbstbehauptung unter den Großmächten zu befähigen. Hierzu bedarf es der „strategischen Autonomie“. Das damit auf breiter politischer Front zu verwirklichende Ziel, dass die EU eigenständig und unabhängig Entscheidungen trifft und auch umzusetzen vermag, ist zwar viel beschworen worden, bleibt jedoch weitgehend abstrakt. Hier könnte Deutschland gemeinsam mit Frankreich eine entscheidende Führungsrolle innerhalb der EU übernehmen.

Gerade auch das militärische Zusammenwachsen der EU ist realpolitisch unumgänglich. Die darauf gerichteten Bemühungen sind über erste Ansätze bisher kaum hinausgekommen. Dabei wird es für Deutschland wie für die anderen Mitgliedstaaten darum gehen, die bestehenden eklatanten Fähigkeits- und Ausrüstungsdefizite ihrer Streitkräfte entschlossen und schnellstmöglich zu beseitigen. Dies ist die realpolitisch anzugehende Herausforderung, die letztlich auch über die Chancen und Einflussmöglichkeiten einer wertebasierten Außenpolitik entscheiden wird. Deshalb sollte auch hier Deutschland Vorreiter sein, was der Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit seiner Außenpolitik zugutekäme.

Anzeige