Ukraine - Eine neue Phase des Krieges

Die Gräueltaten von Butscha sind nur die Spitze des Eisbergs. Der Krieg in der Ukraine könnte ein Niveau der Brutalität erreichen, das man in Europa seit vielen Jahrzehnten nicht gesehen hat. Der Hass auf den Gegner ist inzwischen auf beiden Seiten praktisch grenzenlos.

Ukrainische Soldaten in Borodjanka in der Oblast Kiew / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Das Blut fließt in Strömen über die Straße, es fließt aus den Körpern von Soldaten, mehrere mit Kopfschüssen getötet, einer von ihnen mit hinter dem Körper gefesselten Armen. Ein Soldat gibt noch ein Röcheln von sich und wird mit mehreren Schüssen erledigt. „Ruhm der Ukraine“, ruft ein Soldat, der Mensch hinter der Kamera antwortet: „Ruhm den Helden.“ Neben der Straße steht ein eroberter russischer Panzer mit dem markanten weißen V-Zeichen. Das Video, das seit zwei Tagen in sozialen Medien kursiert, stammt Experten zufolge aus der Umgebung von Kiew. Es zeigt Gräueltaten, möglicherweise Kriegsverbrechen ukrainischer Soldaten.

Es sind Bilder, die vor allem in russischen und prorussischen Telegram-Kanälen die Runde machen, in Kanälen also, in denen die fürchterlichen Bilder der „anderen Seite“, also insbesondere jene aus dem Kiewer Vorort Butscha, als Fakes, als vom Kiewer Regime für westliche Journalisten gestellte Szenen delegitimiert werden.

Von russischer Seite wird die Brutalität legitimiert

Gemein haben die Bilder, dass sie den jeweiligen Zuschauer aufwühlen, dass sie Wut und Aggression in ihm wachsen lassen. Man kann sich vorstellen, wie die Bilder auf diejenigen wirken, die in der Ukraine momentan gegeneinander kämpfen: auf der einen Seite die russischen Soldaten, auf der anderen Seite die ukrainischen Soldaten, die Bürgermilizen und die ganz normale Bevölkerung. All das weist darauf hin, dass dieser Krieg in eine Phase der Brutalität eintritt, wie wir sie in Europa seit langem nicht erlebt haben.

Von russischer staatlicher Seite wird die Brutalität legitimiert. In der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti heißt es in einem nun erschienenen Kommentar über die Denazifizierung der Ukraine: „Die Nazis, die Waffen in die Hände genommen haben, müssen maximal auf dem Schlachtfeld vernichtet werden. Man sollte auch keine sonderlichen Unterschiede zwischen den ukrainischen Streitkräften und den sogenannten ,Nationalbataillonen‘ machen, sowie den Bürgermilizen, die sich diesen zwei Militärformationen angeschlossen haben.“

Und schon vor zwei Wochen hieß es in einer offiziellen Mitteilung des russischen Generals Michail Misinzew, der den Krieg in der Ukraine kommandiert: „Die russische Armee hat 93 ukrainische Deserteure liquidiert, die versuchten, aus Mariupol in Zivilkleidung zu fliehen.“ Unterm Strich bedeutet das: Wir machen keine Gefangenen mehr. Eine Unterscheidung zwischen Armee und Zivilbevölkerung wird praktisch nicht mehr gemacht.

Die Verrohung wirkt sich auch auf die ukrainische Seite aus

Internationale Journalisten konnten die Folgen in Butscha und anderen Städten in den vergangenen Tagen sehen: Gefangene wurden offenbar vor dem Abzug kaltblütig ermordet, oder „liquidiert“, wie es im russischen offiziellen Jargon heißt. Die Fälle von Menschen, die zu Fuß, in ihren Autos oder auf Fahrrädern auf der Straße auf bloßen Verdacht hin erschossen wurden, sind zum jetzigen Zeitpunkt unzählbar. Was existiert, sind die Bilder, die diese Fälle dokumentieren, und die Erzählungen der Überlebenden.

Die Verrohung auf dem Schlachtfeld wirkt sich auch auf die ukrainische Seite aus. Gab es zu Beginn des Kriegs noch Videos von russischen Kriegsgefangenen, denen die Ukrainer die Möglichkeit gaben, ihre Mütter anzurufen, ist die Rhetorik jetzt eine andere. „Wir werden russische Soldaten nicht mehr in Gefangenschaft nehmen, und das betrifft insbesondere die Kadyrowzy (tschetschenische Kämpfer)“, hat Mamuka Mamulaschwili, Kommandeur der „Georgischen Legion“, die an der Seite Kiews kämpft, gerade für seine Einheit in einem Interview erklärt.
 
Auch Witalij Kim, Gouverneur der südukrainischen Stadt Mykolajiw, der für seinen trotz der Schrecken jovialen Ton bekannt ist, schlägt jetzt einen anderen Ton an. Vor einer Woche wurde seine Stadtverwaltung von einer russischen Rakete zerstört, 36 Menschen, vornehmlich ganz normale Verwaltungsbeamte, starben, er selbst entkam dem Tod nur knapp. In seinem jüngsten Video sagt der 41-Jährige: „Die Einstellungen der Menschen gegenüber den Russen sind nach Butscha ganz andere, jetzt schaut man ganz anders darauf, was passieren wird, wenn es zu direkten Kämpfen kommt.“

Aus dem Schock der ersten Wochen ist Wut geworden

Angefeuert durch Videos und Bilder der Gräueltaten, ist das Niveau des Hasses auf den Gegner inzwischen praktisch grenzenlos. Das hat auch mit dem Verlauf des Krieges zu tun: In Butscha und anderen Orten, in denen die russischen Soldaten steckenblieben und wochenlang unter heftigem Beschuss der Ukrainer lagen, muss der Frust der russischen Soldaten mit jedem Tag gewachsen sein: Die angeblich „vom Faschismus befreiten Ukrainer“ begegneten ihnen nicht nur mit Verachtung, sondern halfen ihren eigenen Truppen mit Handyaufnahmen und der Durchgabe von Koordinaten beim Kampf gegen die Russen. So ist die wachsende Brutalität der Russen gegenüber den Zivilisten zu erklären: Irgendwann muss ihnen jeder Ukrainer als potentieller Helfer der ukrainischen Armee erschienen sein, auf den man das Feuer eröffnen kann. Eine gerade erschienene Reportage des Guardian aus der nun befreiten Kleinstadt Trostjanez beschreibt diese Eskalation der Gewalt auf Seiten der Russen.
 
In Deutschland gibt es nun Irritation angesichts eines Interviews mit dem Botschafter Andrij Melnyk in der Frankfurter Allgemeinen: „Alle Russen sind Feinde für die Ukraine im Moment“, sagt Melnyk da. Der Botschafter drückt damit letztlich nur die Stimmungslage in seinem Land aus, die eine andere ist als zu Kriegsbeginn: Die Ukrainer, die seit einem Monat von ihrem „Brudervolk“ mit Raketen terrorisiert, deren Städte mit Mehrfachraketenwerfern in Schutt und Asche gelegt, deren Männer, Frauen und Kinder von russischen Soldaten ermordet werden, hassen die Russen inzwischen. Sie hassen die russischen Soldaten, und sie hassen ihre eigenen Verwandten, Freunde und ehemaligen Schulkameraden in Russland, die ihnen per Telefon oder Telegram mitteilen, dass sie doch selbst schuld an ihrer Lage seien, dass dieser Krieg kein Krieg sei, sondern nur eine Spezialoperation gegen das faschistische Regime, unter dem sie litten. Aus dem Schock der ersten Wochen ist Wut geworden.

Dieser Stimmungswandel verheißt wenig Gutes für die nächsten Monate und Jahre.

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