Erdogan vor Türkei-Wahl - Ausgetrickst

Kommenden Sonntag werden in der Türkei der Präsident und das Parlament neu gewählt. Doch offenbar hat sich Recep Tayyip Erdogan verkalkuliert. In der Bevölkerung bröckelt der Rückhalt, auch weil die Opposition den gleichen Trick wie der mächtige Präsident anwendet

Die Wahlen am Sonntag könnten das Ende für Erdogans Präsidialsystem bedeuten / picture alliance
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Cem Sey, 54, ist ein freier Journalist, der für deutsch- und türkischsprachige Medien arbeitet. Für Medien wie Cumhuriyet, CNN Türk, Deutsche Welle und BBC war er als Korrespondent tätig.

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Er hatte es alles minutiös und lange erfolgreich geplant. Doch dann, innerhalb von nur zwei Monaten, geriet alles ins Wanken. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist nach wie vor ein umjubelter Mann. Doch die Anzeichen verdichten sich, dass ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr hinter ihm und seiner Partei, der AKP, steht.  

Am Sonntag finden in der Türkei die von Erdogan selbst vorgezogenen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt, und Erdogan will natürlich beide gewinnen. Doch trotz der Fernsehbilder von überfüllten öffentlichen Plätzen anlässlich seiner Wahlkampf-Auftritte, können die Medien nicht darüber hinwegtäuschen: Immer weniger kommen, um ihn zu feiern. Seine Gegner behaupten, der erfolgsverwöhnte Erdogan habe mehrmals seine Auftritte verschieben müssen. Sogar Gebetszeiten habe er abwarten müssen, damit seine Helfer mehr Zuhörer organisieren konnten. 

Erdogans großer Plan

Erdogan ist laut jüngsten Umfragen noch unangefochten der Liebling der Massen. Aber der Lack scheint zusehends Kratzer zu bekommen. Dabei benötigt Erdogan dringend ein eindeutiges Wahlergebnis, um seinen lang gehegten Plan für die Einführung eines Präsidialsystems vollständig umsetzen zu können. Formal ist es ihm geglückt, das autokratische Präsidialsystem schon vergangenes Jahr zu etablieren, mittels eines umstrittenen Referendums. Kommenden Sonntag will Erdogan Stufe zwei der Großstrategie starten: Dazu muss er als Präsident der Türkei bestätigt werden, zusätzlich sollen ihm die Türken ein williges Parlament verschaffen, das die notwendigen Gesetze zuliefert. So zumindest Erdogans Fantasie. Ach ja, und seine Partei soll die Hälfte der Sitze bekommen. Mindestens.

Hier könnte der Stufenplan nun scheitern. Kurz vor dem Wahltag sieht es eher danach aus, dass  Erdogan als Präsident nicht mehr mit der Hälfte aller Stimmen rechnen kann. Das hieße, er müsste in einer Stichwahl gegen einen Oppositionskandidaten antreten. Das alleine wird den selbstbewussten Politiker noch nicht um den Schlaf bringen. Doch bei den parallel stattfindenden Parlamentswahlen deutet alles auf einen kleinen Alptraum hin. Die Opposition ist stärker und vor allem vereinter als gedacht. 

Kein Vergehen zu widerlich

Dabei hatte Erdogan eigentlich alles im Griff. Gleich nach dem Referendum, 2017 strukturierte er seine „Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) um und trimmte sie auf Wahlkampf. Wer seinen Alleinherrschaftswunsch nicht unterstütze, musste gehen. Zudem schmiedete Erdogan ein Bündnis mit der ultrarechten „Partei der Nationalen Bewegung“ (MHP), in Deutschland unter dem Namen „Graue Wölfe“ bekannt. Diese unappetitliche Allianz hatte der starke Mann vom Bosporus eingehen müssen. Nachdem er seine Partei vom Kurs der Demokratisierung und des EU-Betritts abgebracht und sich nach dem Putschversuch auch noch mit der einflussreichen Gülen-Bewegung angelegt hatte, bröckelte nämlich bereits die Unterstützung unter seinen Anhängern. 

Die neue Allianz mit den türkischen Nationalisten erforderte von Erdogan, dass er den Friedensprozess mit den Kurden auf Eis legen musste. Für ihn kein Problem. Er führte schwungvoll einen erbarmungslosen Krieg, nicht nur gegen die PKK, die er stets als „Terrororganisation“ beschimpft. Sondern unbekümmert auch gegen die kurdische Zivilbevölkerung, die Städte ließt er mit Artillerie beschießen. Rund 3.000 Kurden fielen diesem Staatsterror bislang zum Opfer. Um der Allianz, die mittlerweile offiziell in „Allianz der Bürger“ umgetauft wurde, mehr Auftrieb zu verschaffen, ließ Erdogan seine Militärs die Provinz Afrin in Nordsyrien besetzen, in der bis dahin die Kurden das Sagen gehabt hatten. Erdogans Großmann-Plan, soviel wurde deutlich, ist kein Hindernis zu groß und kein Vergehen zu widerlich.

Alle Pläne durchkreuzt

Als er sich seiner Sache sicher glaubte, rief er überraschend Neuwahlen aus. Der Opposition wollten Erdogan und seine AKP möglichst wenig Zeit lassen. Das Kalkül dabei war, dass die ungeordneten Reihen es nicht schaffen würden, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Das war vor zwei Monaten. Doch es kam anders. Acht Wochen genügten, dass alle seine Pläne durchkreuzt wurden. 

Seine ultranationalistischen Bündnispartner forderten plötzlich eine Amnestie für diejenigen ihrer Parteigänger, die lange Haftstrafen für teils widerliche Verbrechen abbüßen. Eine Forderung, die viele Menschen empört. Vor allem in den kurdischen Landesteilen, wo die AKP durch die Unterstützung frommer Kurden lange die zweitstärkste Partei war, verlor sie wegen ihrer aggressiven Politik deutlich an Zuspruch.

Und dann kam die große Überraschung. Denn der Opposition gelang es, nach einem kurzen Durcheinander sehr wohl eine gemeinsame und clevere Strategie zu finden. Sie nutzt nun just das neue Wahlgesetz für die Gründung ihres eigenen Zusammenschlusses, welches Erdogan sich gezimmert hatte um seine neue Allianz zu schmieden. Die national-linke „Republikanische Volkspartei“ (CHP), die national-konservative „Iyi-Partei“ der ehemaligen Innenministerin Meral Aksener und die islamistische „Glückseligkeitspartei“ (SP) treten zwar nun alle mit eigenen Präsidentschaftskandidaten an; aber bei den Parlamentswahlen auch mit einer gemeinsame Liste Namens „Allianz der Nation“. So erreichen sie, dass vermutlich keiner der drei Parteien allein an der absurd hohen Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament scheitern wird. 

Die Wirtschaft schwächelt

Die heftigsten Kopfschmerzen dürfte Erdogan jedoch die pro-kurdische, linke HDP bereiten. Der Staatspräsident hat die beiden Vorsitzenden der Partei, neun Abgeordnete und tausende Funktionäre ins Gefängnis gesteckt, zum größten Teil ohne rechtsgültige Urteile. Erdogans Plan: Die HDP sollte an der Zehn-Prozent-Hürde scheitern. So könnte die AKP deren rund 80 Sitze kassieren. Doch die Repressalien scheinen eher das Gegenteil zu bewirken. Die Unterstützung für die HDP ist ungebrochen stark, und sie könnte ins Parlament einziehen. 

Noch ist unklar, wie sich der letzte bröckelnde Baustein in Erdogans Masterplan auswirken wird. Die Rede ist von der schwächelnden Wirtschaft. Die profitierte in den vergangenen Jahren vom „heißen Geld“, also Investitionen aus dem Ausland. Weil die Zinsen in der Türkei hoch und in den westlichen Industriestaaten niedrig waren, floss Geld ins Land. Seitdem nun die USA die Zinsen wieder schrittweise erhöhen, ist es aus mit der Party. Nun rächt sich, dass Erdogan und seine Wirtschaftsberater mit dem Finanzregen nichts erschaffen haben, was eine nachhaltige Wirkung entfalten könnte. Vielmehr heizt nun die importabhängige Wirtschaft Preise und Inflation an. Die Arbeitslosigkeit steigt rasant.

Als die türkische Zentralbank ihrerseits kürzlich die Zinsen erhöhen wollte, mischte sich Erdogan ein und verhinderte diesen Schritt. Vermutlich aus Glaubensgründen, denn der Islam verbietet Zinsen. Der Markt dankte es ihm nicht, die türkische Lira stürzte ab. Als die Zentralbank schließlich grünes Licht erhielt, war es schon zu spät. Diese Krise kostet Erdogan ebenfalls Stimmen – von Menschen, die ihn bisher wegen seiner wirtschaftlichen Erfolge bewunderten. 

Wie wird es ausgehen?

Der Macher aus Istanbul geht, wie vor drei Jahren, erneut in eine ungewisse Wahl. Wie im Juni 2015, als seine Partei die Mehrheit im Parlament verlor, besitzt seine AKP keine Kampfkraft mehr. Die Bevölkerung ist lustlos und durchaus offen für einen Wechsel. Damals hatte Erdogan das Wahlergebnis einfach ignoriert und Neuwahlen ausgerufen. Er zettelte einen erneuten Krieg gegen die Kurden an und rettete so, einige Monate später, den status quo. 

Auch diesmal liebäugeln AKP-Strategen mit dieser handstreichartigen Lösung. Denn selbst wenn Erdogan wiedergewählt wird: Ohne ein ihm höriges Parlament kann er wenig ausrichten. Doch diesmal scheint selbst der Selfmade-Mann Erdogan nicht mehr an die eigenen Tricks zu glauben. Wie wird es ausgehen? Eventuell werden Erdogan und seine Partei gleichzeitig abgewählt. Vielleicht nur die AKP. Aber Erdogan hat schon häufig bewiesen, dass er unberechenbar, unkalkulierbar und ruchlos ist.

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