Türkei unter Erdogan - Abschied von Europa

Die Türkei driftet immer mehr ab in Richtung Nationalismus und Diktatur. Der Präsident betreibt eine aggressive Außenpolitik, im Inneren unterstützt er religiöse Hardliner. Ausgerechnet die Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee zeigt jedoch: In Wahrheit ist die autoritäre Herrschaft Erdogans fragil.

Jetzt wieder für das muslimische Gebet geöffnet: Hagia Sophia / dpa
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Autoreninfo

Günter Seufert ist freier Journalist, Soziologe und hat mehrere Bücher zur Türkei veröffentlicht. Außerdem ist er bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin tätig.

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Deutschland und Europa blicken heute mit ganz anderen Augen auf die Türkei als noch vor wenigen Jahren. Früher stand Ankaras Innenpolitik im Zentrum der Aufmerksamkeit. War die Türkei doch scheinbar auf dem Weg in die Europäische Union, und Brüssel konnte auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie drängen. Die EU hat damals wichtige Reformen angestoßen und hatte Einfluss auf die Entscheidungen in Ankara.

Davon ist heute nichts mehr übrig. Im Gegenteil, die Türkei provoziert Europa außenpolitisch. Manche Mitgliedstaaten der EU fordert sie offen heraus, und auch in der Nato macht sie Schwierigkeiten. So verletzt sie im Mittelmeer die exklusiven Wirtschaftszonen der Republik Zypern und kündigt an, auch gegen Griechenland ähnlich vorzugehen. Die türkische Marine hat im östlichen Mittelmeer bereits italienische und israelische Forschungsschiffe vertrieben und griechischen und französischen Kriegsschiffen damit gedroht, das Feuer auf sie zu eröffnen.

Im Februar dieses Jahres bugsierte die türkische Regierung in großer Zahl Flüchtlinge vor allem aus Afghanistan und Pakistan an die Grenze zu Griechenland, um den Nachbarn zu zwingen, seine Grenze zu öffnen. Mit der Aktion wollte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan Druck auf die EU und ihre Mitgliedstaaten ausüben, der Türkei im Norden Syriens bei ihrem Schlagabtausch mit Baschar al Assad und Russland beizuspringen und die Rückführung von syrischen Flüchtlingen zu finanzieren. Von Russland kaufte Ankara das hochmoderne Raketenabwehrsystem S 400 und liegt deshalb mit Washington im Streit. Und bei der militärischen Planung in der Nato spielt die Türkei gerne mit ihrem Veto, sollten die Bündnispartner sich weigern, Ankaras sehr spezielle Lesart von Terrorismus fraglos zu übernehmen.

Säbelrasseln statt friedlichem Dialog

Steckt Stärke oder Schwäche hinter dieser konfrontativen Politik? Einerseits Stärke, weil die Türkei all ihren Nachbarn wirtschaftlich und militärisch überlegen ist. Doch andererseits auch Schwäche, denn die Herrschaft von Erdogan, der das Land seit nunmehr zwei Jahren im Rahmen eines neu eingeführten „Präsidialsystems türkischer Art“ als Alleinherrscher regiert, bröckelt an allen Ecken und Enden. In einer solchen Situation helfen außenpolitische Konfrontationen – sei es in Syrien, im Irak, in Libyen oder eben im östlichen Mittelmeer –, um das Volk mit seiner Regierung zu vereinen.

Ein deutliches Zeichen für die Fragilität der Herrschaft Erdogans im Innern ist ausgerechnet die jüngst von ihm und seinen Anhängern als Triumph zelebrierte Umwidmung der Hagia Sophia vom Museum zur Moschee. Die ehemalige Reichskirche von Byzanz war nach der Eroberung Konstantinopels als Moschee genutzt und 1934 von Republikgründer Kemal Atatürk zum Museum erklärt worden.

Noch im März vergangenen Jahres hatte Erdogan die Forderung seiner religiös-konservativen Anhänger nach erneuter Konvertierung zur Moschee rigoros zurückgewiesen. Er warnte damals vor den politischen und wirtschaftlichen Folgen einer solch symbolträchtigen Aktion für die Türkei und sagte, man müsse auch bedenken, was die Umwandlung des früheren zentralen Heiligtums der Christlichen Orthodoxie zur Moschee für die Sicherheit der Muslime und ihrer Moscheen in nichtislamischen Ländern bedeute.

Nur wenig mehr als ein Jahr später soll all dies keine Rolle mehr spielen. Mehr noch, statt die erneute Nutzung des welthistorischen Gebäudes als Gebetshaus für Worte des Friedens und der religiösen Toleranz zu nutzen, erklimmt der Chef der staatlichen Religionsbehörde, der Erdogan direkt untersteht, die Kanzel – bewaffnet mit dem Schwert. Der Staatschef glaubt wohl, es brauche eine solche Demonstration von Macht. Denn der Zulauf zu seiner Partei lässt stetig nach, und weder wirtschaftlich noch anderweitig kann die Regierung ihrer Wählerschaft heute große Versprechungen machen. Was bleibt, ist Säbelrasseln und die Beschwörung ständig neuer Feinde von Volk und Vaterland.

Erdogans untergehender Stern

Seit nunmehr 18 Jahren herrscht Erdogans Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), da ist ein relatives Nachlassen der Begeisterung normal. Doch Erdogans Partei hat sich im Laufe der Jahre um 180 Grad gewandelt. Aus einer proeuropäischen Partei wurde eine euroskeptische, ja europhobe. Eine Reformbewegung mutierte zur Verteidigerin des autoritären Staates. Eine Parteiführung mit ausgeprägter sozialpolitischer Agenda verkam zu einem Klüngel, der aufs Engste mit großen Holdings verschmolzen ist. Und eine Graswurzelbewegung, die Leute aus allen Schichten und unterschiedlichsten politischen Richtungen mobilisieren konnte, endete als Wahlverein für Recep Tayyip Erdogan.

Entsprechend sank sie in der Wählergunst. Bei den Wahlen zum Parlament 2011 hatte die AKP mit 49,8 Prozent der Stimmen ihr bestes Ergebnis überhaupt erreicht. Seitdem geht es langsam, aber stetig bergab. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen 2018 musste sich die Partei mit 42,6 Prozent zufriedengeben und kann seither nur noch mit Unterstützung der rechtsextremen MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) regieren. Die Kommunalwahlen im März 2019 wurden zu einem Debakel für die AKP. Sie verlor nicht nur Istanbul und Ankara, das wirtschaftliche und das politische Zentrum, an die Opposition, sondern auch fast alle industriell entwickelten und modernen Provinzen an den Küsten des Mittelmeers und der Ägäis und musste sich mit den konservativen Regionen Anatoliens und der Schwarzmeerküste begnügen. Heute liegt die Partei in Umfragen bei circa 34 Prozent, und es ist fraglich, ob das Bündnis mit den Rechtsextremen erneut dazu ausreichen würde, die Mehrheit im Parlament zu sichern.

Zwar ist die AKP noch immer die stärkste aller türkischen Parteien, doch selbst die Attraktivität ihrer Galionsfigur nimmt ab. Im Frühjahr 2017 votierten 51,4 Prozent für die Einführung eines auf Erdogan zugeschnittenen Präsidialsystems, das die Rechte des Parlaments entscheidend schwächt, den Präsidenten zum alleinigen Entscheider der Exekutive macht und die Justiz unter die Kuratel der Regierung stellt. Einen raketenhaften Aufstieg der Türkei werde das neue Modell bewirken, versprach der Präsident damals seiner Nation. Doch jetzt schwächt sich das Wirtschaftswachstum schon im dritten Jahr in Folge ab. Die Inflation liegt bereits im vierten Jahr im zweistelligen Bereich (aktuell bei 12 Prozent). 

Bereits vor der Pandemie (2019) lag das durchschnittliche Pro-Kopf-Jahreseinkommen mit circa 9000 US-Dollar fast 3000 Dollar unter dem von 2013, und für 2020 rechnet man damit, dass es auf circa 6500 Dollar fällt. Schon 2019 war fast jeder vierte Jugendliche arbeitslos, heute tragen Tendenzen zur Islamisierung, verstärkte Internetzensur und ein mit Händen greifbarer Verfall des Bildungssystems dazu bei, dass viele junge Menschen ihr Heil im Ausland suchen.

Jüngere Wähler sind besonders kritisch 

Das alles schlägt sich negativ auf das Image Erdogans und auf die Beurteilung seines Regierungsmodells nieder. Im Juni dieses Jahres war die Zustimmung zum Präsidialsystem auf 40 Prozent gesunken, und während Erdogan seit dem Regierungsantritt der Partei 2002 immer unangefochten und mit großem Abstand der populärste Politiker im Lande war, liegt er heute Kopf an Kopf mit zwei Persönlichkeiten der Opposition: den Bürgermeistern von Ankara und von Istanbul.

All dies hat dazu geführt, dass heute in der Hagia Sophia erneut Muslime beten dürfen, und dazu, dass die Umwandlung mit großem Pomp als Staatsakt begangen worden ist. Der Staatschef höchstpersönlich rezitierte den Koran. Die regierungsnahe Presse jubilierte, für sie war das Ereignis der Beweis dafür, dass keiner mehr den Türken Vorschriften machen kann.

Ob Erdogan aus der Aktion tatsächlich Unterstützung generieren kann, ist freilich mehr als fraglich. Denn mit zur Schau gestellter Frömmigkeit, mit der Verquickung von Politik und Religion und mit einem Schwert tragenden Oberkleriker lässt sich in der Türkei höchstens ein Viertel aller Wähler locken. So kam in den neunziger Jahren die islamistische Vorgängerin der AKP, die Wohlfahrtspartei, unter Führung von Erdogans politischem Ziehvater Necmettin Erbakan bei keiner Wahl über 21,5 Prozent der Stimmen hinaus. Die AKP konnte Anfang der 2000er Jahre nur wachsen und gedeihen, weil sie sich damals vom Islamismus distanziert, sich die christlich-konservativen Parteien Deutschlands und Italiens zum Vorbild genommen und sich gesellschaftspolitisch zur Mitte und wirtschaftspolitisch zum Privatkapitalismus geöffnet hatte. 

Die 350 000 Frommen, die bei der Eröffnung der Hagia Sophia als Moschee der Pandemie zum Trotz dicht gedrängt in den Straßen rund um den Prachtbau verzückt das Gebet verrichteten, repräsentieren nur die eine Seite der Medaille. Jeder fünfte AKP-Wähler und gar jeder zweite Anhänger ihres rechtsextremen Bündnispartners stehen der Umwandlung der Hagia Sophia zur Moschee kritisch gegenüber und befürchten zu viel Einfluss der Religion auf Gesellschaft und Politik. Je jünger die Befragten sind, desto kritischer sehen sie diesen Schritt. Fast drei Viertel der unter 25-Jährigen sagen, die Aktion hat nichts mit Religion zu tun, sondern soll nur die schlechte Wirtschaftslage für einen Augenblick vergessen lassen.

Wie die AKP ihre historische Mission erfüllt hat

Doch es ist nicht nur die kritische Wirtschaftslage, die Erdogan und seiner AKP zu schaffen macht. Die AKP hat in gewisser Weise ihre historische Mission erfüllt. 2002 hat sie das erste Mal die Wahl gewonnen und konnte allein die Regierung stellen. Seit dieser Zeit lag ihr Erfolgsgeheimnis darin, dass sie die Stimmen der religiös-konservativen Türken und Kurden fast geschlossen auf sich vereinigen konnte. Die religiös-konservativen sunnitischen Muslime sind der größte kulturelle Block in der Bevölkerung. Sie fühlten sich in jenen Jahren von der eher modernen, säkularen und auf den Westen orientierten Elite belächelt, benachteiligt und ausgegrenzt. Mädchen mit Kopftuch durften damals nicht studieren, betont Frommen wurden in der Bürokratie, beim Militär und an den Universitäten nur Steine in den Weg gelegt, und religiös-konservative Unternehmen erhielten wenig Staatsaufträge und so gut wie keine Förderung. 

Die AKP wurde zur Vertreterin des religiös-­konservativen Mainstreams. Anders als frühere offen islamistische Parteien setzte sie auf Reformen statt auf Radikalität. Sie sprach von gleichen Rechten – auch was die Religion betraf –, von Freiheit und Demokratie, und sie wollte die Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Sie kümmerte sich auch um andere Ausgegrenzte: gewährte den Kurden kulturelle Rechte, erleichterte das Leben der kleinen christlichen und jüdischen Gemeinden und trat selbst mit den Alewiten, einer heterodoxen Strömung des Islam, in einen Dialog. Der Block aus Militär, Staatsbürokratie und der verwestlichten, aber nicht wirklich demokratischen Bildungselite sperrte sich gegen all diese Schritte. Sein Widerstand gegen die AKP schweißte deren Wähler stets aufs Neue zusammen.

Heute ist alles anders. Ihre lange Regierungszeit hat es der AKP und Erdogan ermöglicht, die alte Elite vom Sockel zu stoßen. Geholfen hat ihr dabei die Gülen-Bewegung, ein islamisch-orthodoxes Bildungsnetzwerk, dessen Kader sich mithilfe der AKP-Regierungen in Polizei, Justiz und später auch im Militär festsetzen konnten. Doch kaum war der gemeinsame Feind entmachtet, begann der Kampf zwischen der AKP und der Gülen-­Bewegung um die Teilung der Beute und um die Macht. Es ging um Posten in Bürokratie und Justiz, um Sitze im Parlament und um Staatsaufträge. Es ging aber auch um die zukünftige Politik: für oder gegen einen Ausgleich mit den Kurden, Annäherung an Israel oder an den Iran, für oder gegen Zusammenarbeit mit den USA. 

Der Putschversuch und die Folgen für die AKP

Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 markiert den Höhepunkt dieses Streites, der mit der Niederlage der Gülen-Bewegung endet. In der Türkei sind sich Regierung und Opposition einig, dass Offiziere der Gülen-Bewegung der Motor des missglückten Staatsstreichs waren. Seit dieser Zeit durchlebt die türkische Gesellschaft eine nie da gewesene Jagd auf wirkliche und vermeintliche Gülenisten. Unter dem Vorwurf, Mitglied oder auch nur Sympathisant der Bewegung zu sein, wurden bis zum dritten Jahrestag des Putsches mehr als jeder vierte Richter und Staatsanwalt, jeder fünfte hohe Regierungsbeamte, fast jeder achte Polizeibeamte und circa jeder zwölfte Angehörige der Streitkräfte aus dem Dienst entfernt, viele der Geschassten verhaftet, angeklagt und verurteilt. 

Ein ähnliches Schicksal traf Gülen-nahe Unternehmer, deren Firmen erst beschlagnahmt und dann günstig veräußert wurden. Schon im Herbst 2018 waren nach offiziellen Angaben 1022 Firmen mit Eigenkapital und Guthaben im Wert von 28,3 Milliarden US-Dollar und über 46 000 Beschäftigten unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt.

Der Krieg der AKP mit der Gülen-Bewegung riss einen tiefen Spalt in den politischen Konsens des religiös-konservativen Spektrums, doch es war und ist nicht die einzige Bruchstelle. Bereits 2015 scherten große Teile der religiös-konservativen Kurden aus dem politischen Konsens der Religiös-Konservativen aus. Nachdem seine Partei bei den Wahlen zum Parlament im Juni jenes Jahres zum ersten Mal die absolute Mehrheit verloren hatte, beendete Erdogan den Waffenstillstand mit der kurdischen PKK. Die Organisation hatte seit mehr als 30 Jahren gegen die türkische Kurdenpolitik angekämpft und schreckte dabei auch vor Terroranschlägen nicht zurück. Doch Erdogan ging weiter, er kehrte zur Kriminalisierung alles Kurdischen zurück und setzte jegliches Beharren auf kurdische Identität mit Terrorismus gleich. 

In den Monaten nach dem verfehlten Staatsstreich wurden in den Städten des mehrheitlich kurdisch besiedelten Südostens der Türkei 94 gewählte Bürgermeister (beziehungsweise ihre Stellvertreter) ohne Gerichtsverfahren vom Innenministerium ihres Amtes enthoben und durch vom Minister bestimmte „Treuhänder“ ersetzt. Die Prozedur wiederholte sich nach den jüngsten Kommunalwahlen vom März 2019. Jetzt wurden 65 ordentlich gewählte Bürgermeister ihrer Ämter enthoben; 32 von ihnen befinden sich noch heute in Haft. Deshalb kehrten auch religiös-konservative Kurden in hoher Zahl der AKP den Rücken.

Verfall des Rechtsstaats

Die türkischen Gerichte haben sich weder bei den großflächigen Säuberungen in der Bürokratie als unabhängige Kontrollinstanz erwiesen noch bei der Amtsenthebung der kurdischen Bürgermeister. Wie auch? Erkennt der Staatschef doch öffentlich Urteile des türkischen Verfassungsgerichts nicht an. Und der (Hohe) Richterrat, der die Gerichte auf Einhaltung der Gesetze und Verfahrensvorschriften hin kontrollieren soll, nimmt keinen Anstoß daran, dass niedere Gerichte die Urteile von höheren ganz einfach ignorieren. Beim Urteilen müssen die türkischen Richter heute ebenso sehr aufs Gesetz wie auf die Wünsche der Regierung schauen, weshalb das Ansehen der türkischen Justiz in Trümmern liegt.

In Meinungsumfragen liegt die Zahl derer, die noch Vertrauen in den Urteilsspruch der Richter haben, nur noch zwischen 26 und 41 Prozent. Wähler der Opposition rechnen weniger mit gerechten Urteilen als AKP-Wähler und Kurden weniger als Türken. Diese Situation der Justiz erklärt auch jene Urteile, die in Deutschland und in Europa für Empörung sorgen. So etwa das Vorgehen gegen Journalisten – mit 165 inhaftierten Journalisten steht die Türkei an zweiter Stelle in der Welt.

Was der AKP bleibt an Wählern und Unterstützern bleibt

Der Verfall des Rechtsstaats, das Ende der Reformen und Erdogans nationalistische, autoritäre Politik haben bei den eher moderaten Wählern der AKP große Enttäuschung ausgelöst. Schon im April 2015 taten sich ehemalige Politiker und Sympathisanten der AKP zusammen und gründeten eine eigene Tageszeitung. Sie soll ihre Kritik am Handeln der Regierung auch in die konservativen Teile der Gesellschaft tragen. Das Blatt unterstützt zwei neu gegründete Parteien, die beide auf Zulauf aus der Wählerschaft der AKP hoffen. Erdogans ehemaliger Außenminister und kurzzeitiger Ministerpräsident Ahmet Davutoglu rief im Dezember vorigen Jahres seine Partei Zukunft (Gelecek) ins Leben. Sie gibt sich wertkonservativ und will, wie die AKP in ihren frühen Jahren, den islamischen Glauben mit der Demokratie versöhnen. 

Auch Ali Babacan, der Gründer der zweiten neuen Partei, stand früher an der Seite Erdogans. Er war Außenminister, Staatsminister und stellvertretender Ministerpräsident. Seine Partei mit dem Namen Demokratie und Aufschwung (DevA) verzichtet auf jede religiöse Färbung und punktet mit Babacans Ruf als erfolgreicher Wirtschaftskapitän.

Nach diesem Aderlass von Wählern, Mitgliedern und Aktivisten verbleiben der AKP heute Mitläufer, Nutznießer ihrer Herrschaft und Ultrareligiöse. Besonders Letztere gewinnen in der Partei an Einfluss. Vielleicht war Erdogans Entscheidung zur Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee auch dem verstärkten Druck aus dieser Ecke der Partei geschuldet. Jedenfalls brachten die religiösen Eiferer gleich die nächste Forderung aufs Tapet: die Wiedereinführung des Kalifats, der erste Schritt zur Abschaffung der säkularen Republik. Natürlich wies der Sprecher der Partei das Ansinnen sofort zurück. Doch in der Religions-, Kultur- und Bildungspolitik arbeitet die Regierung unentwegt daran, alle Bürger auf eine so nationalistische wie konservative und religiöse Welt­anschauung zu verpflichten. Predigerschulen werden ausgebaut, religiöse Orden und ihre Stiftungen finanziert, die Religionsbehörde aufgestockt, und in den allgemeinbildenden Schulen steigt der Anteil religiöser Fächer. 

Ende Juli kam es zu einem qualitativen Sprung. Zum ersten Mal in der Geschichte der modernen Türkei begründete ein Gericht ein Strafurteil nicht nur mit dem Gesetz der säkularen Republik, sondern noch zusätzlich mit Versen des Korans.

Neues Bündnis in der Opposition setzt Erdogan zu

Dass Erdogans Partei seit mehr als 18 Jahren an der Macht ist und sich trotz all ihrer Schwächen noch immer an der Regierung halten kann, zeigt, dass es um die Opposition nicht gut bestellt ist. Die Republikanische Volkspartei (CHP) geht auf den Republikgründer Kemal Atatürk zurück. Sie ist die zweitstärkste Partei und führt die Opposition an. 1950 wurden in der Türkei zum ersten Mal relativ freie Wahlen abgehalten. Seit dieser Zeit ist es der CHP nicht ein einziges Mal gelungen, die absolute Mehrheit zu erringen, und in den vergangenen 15 Jahren kam sie bei Parlamentswahlen nie über ein Viertel der Stimmen hinaus. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Partei strikt säkular ist und früher offen antireligiös war, weshalb sich sogar gemäßigt Fromme noch immer schwertun, sie zu wählen. 

Dass Erdogan sich heute überhaupt Sorgen um Wählerstimmen machen muss, liegt daran, dass drei Oppositionsparteien sich gegen ihn verbündet haben. Neben der CHP umfasst das Bündnis die rechtsnationale Gute Partei (IyiP) und die strikt religiöse Glückseligkeits-Partei (SP). Unterstützt wird das Bündnis bei Wahlen von der prokurdischen HDP, die Demokratische Partei der Völker. Für die Türkei ist der Zusammenschluss dieser Parteien fast revolutionär, denn er schlägt eine Brücke zwischen Gruppen, die sich sonst nur wegen ihrer kulturellen Zugehörigkeit gegeneinander stellten: Türken gegen Kurden und Säkulare gegen Fromme.

Daraus hat in den letzten 18 Jahren primär die AKP Nutzen gezogen, weshalb sie heute alles dafür tut, die ethnischen und religiösen Gruppen erneut gegeneinander auszuspielen. Doch bisher hält das Bündnis, das über die Abwehr von Erdogans Alleinherrschaft im Rahmen seines Präsidialsystems „türkischer Art“ zusammengefunden hat.

Hoffnungsvolle Entwicklungen und lange Problemlinien

Die große Aufgabe für die Türkei besteht nicht unbedingt darin, Erdogan und seine AKP heute oder morgen von der Macht zu verdrängen. Sondern darin, die tiefen kulturellen Gräben, die die Gesellschaft teilen, zuzuschütten.

Einige Entwicklungen machen Hoffnung. Da ist der Widerstand der Frauen, fromm oder säkular, die sich heute gemeinsam für den Erhalt der Istanbul-Konvention zum Schutz der Frauen vor Gewalt, gerade auch häuslicher Gewalt, engagieren. Da ist die junge Generation, die digital eng mit der Welt vernetzt und westlich orientiert ist, doch seit sie denken kann, immer von Erdogan regiert wird. Und da ist das Bündnis der vier Oppositionsparteien, die alle über ihren ideologischen Schatten springen, um gemeinsam für die Rückkehr zu einem demokratischeren Parlamentarismus zu kämpfen.

Doch selbst wenn das gelingen sollte: Die Türkei wird für Europa ein harter Brocken bleiben. Sie ist eine aufstrebende Macht, der in ihrer Region keiner das Wasser reichen kann und die auch unter einer anderen Regierung ihre Ellenbogen einsetzen wird. Das gilt besonders für das östliche Mittelmeer, wo die Interessen von EU-Mitgliedstaaten und der Türkei direkt aufeinanderprallen. Hier müssen die Staaten der EU, wollen sie von Ankara ernst genommen werden, eine gemeinsame Linie finden. 

Das größte Interesse daran muss neben Griechenland und Zypern Deutschland haben. Berlin und Ankara haben sich wirtschaftlich und sozial zu sehr aneinander gebunden, als dass sie sich Desinteresse oder gar Feindschaft leisten könnten.

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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