Tschechischer Premier in spe? - Wirbelsturm Ivan

Die „Pandora Papers“ bringen Tschechiens Premierminister Andrej Babiš wenige Tage vor der Abgeordnetenhauswahl in Verlegenheit. Der Piraten-Politiker Ivan Bartoš hat deswegen gute Chancen, neuer Regierungschef zu werden – nicht nur wegen seiner Dreadlocks verkörpert er einen Generationenwechsel.

Ivan Bartoš könnte der erste Premierminister der Piraten werden / EPA
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Kilian Kirchgeßner ist Korrespondent in Prag. Seit 2005 verfolgt er das Geschehen in Tschechien und der Slowakei.

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Ein Video aus dem Frühjahr, Ivan Bartoš hat es selbst auf seinem Face­book-Profil gepostet: Es zeigt ihn an einer Fitnessanlage in einem Prager Park. Ein paar Mal zieht er sich mühelos hoch, dann macht er eine Rolle um die hohe Stange, dass seine Dreadlocks nur so fliegen. „Meine Form hat durch das ständige Sitzen im Parlament ein wenig nachgelassen“, sagt er schmunzelnd zu dem Video. „Da habe ich vor zwei Jahren mit dem Trainieren angefangen.“

Es ist eine ungewöhnliche Inszenierung für jemanden, der gute Aussichten hat, nächster tschechischer Premierminister zu werden. Aber dass er sich nicht verbiegt, rechnen viele Wähler ihm hoch an, und tatsächlich kann der Video-­Schnipsel von Bartoš’ Trainingseinheit als Symbol für die Prager Piratenpartei dienen: Ihr Biss schleift sich auch nach vier Jahren im Parlament nicht ab – und vor allem hat sie große Ambitionen.

Bartoš gegen Babiš

41 Jahre alt ist Ivan Bartoš, promovierter Informationswissenschaftler und seit zwölf Jahren in der Politik. Damals gründete sich in Tschechien die Piratenpartei, ein unscheinbarer Ableger der internationalen Piraten-Bewegung, die zu dieser Zeit aufkam. Freies Internet, eine transparente Politik und mehr Augenmerk auf die Jungen – das waren damals Kernanliegen der Mitglieder. Aber während die Piraten überall anders nach einigen Erfolgen in der Versenkung verschwanden, laufen sie in Tschechien gerade erst zur Hochform auf: Bei der Parlamentswahl vor vier Jahren wurden sie mit knapp 11 Prozent der Stimmen drittstärkste Kraft, in Prag stellen sie den Oberbürgermeister – und bei der Wahl im Oktober sagen ihnen die Meinungsumfragen realistische Chancen voraus, den amtierenden Premierminister Andrej Babiš zu schlagen.

Im Antagonismus von Babiš und Bartoš zeigt sich das markanteste Problem der tschechischen Politik: Derzeit spielt sich ein Generationenkonflikt ab. Der 67-jährige Babiš ist gleich nach dem Ende des Kommunismus zum Milliardär geworden, mit seiner ganz auf ihn fokussierten populistischen Bewegung stieg er vor zehn Jahren in die Politik ein. Staats­präsident ist der 76-jährige Miloš Zeman. Beide wurden vor allem von Tschechen im Rentenalter gewählt. 

Die Opposition schließt sich zusammen

Der Unterschied zum neuen Politikertypus ist aber nicht das Alter, sondern die Sozialisierung: Während Zeman und Babiš prägende Jahre im Kommunismus verbrachten, wächst jetzt eine Politikergeneration heran, die allenfalls die Kindheit hinter dem Eisernen Vorhang verbracht hat – das verändert den Blick auf die Welt. „Geben wir unserem Land die Zukunft zurück“, lautet deshalb der Slogan der Piratenpartei, und ihr Chef Ivan Bartoš ist das beste Beispiel für die neue Generation: Er wuchs im ländlichen Böhmen auf, machte sein Abitur in den USA, schrieb eine Doktorarbeit – diese Kombination aus Weltoffenheit, Westorientierung und Bildungsbeflissenheit zeichnet nicht nur viele Führungsfiguren der Piratenpartei aus, sondern generell die Oppositionsparteien.

An dieser Gemeinsamkeit liegt es auch, dass sie sich vor der diesjährigen Wahl zusammengeschlossen haben. Die Piraten bilden zusammen mit der Bürgermeister-Partei eine liberal-konservative Kandidatenliste, auch die drei konservativen Parteien haben sich miteinander verbündet. Nur mit vereinten Kräften, so ihr Kalkül, kann eine dieser beiden Gruppierungen zur stärksten Kraft im Parlament werden und die Regierung stellen. „Es geht nicht um persönlichen Ehrgeiz“, sagt Bartoš auf die Frage nach seinen Ambitionen: „Es geht darum, dass an der Spitze des Landes jemand steht, der die anderen nicht schikaniert und mit autoritärer Hand regiert. Sondern jemand, der eine Vision hat und alles dafür tut, dass sie zur Wirklichkeit wird.“

Der Premier mit Dreadlocks

Tatsächlich hat sich Tschechien in den vergangenen Jahren deutlich verändert: Internet-Unternehmen spielen eine große Rolle, die Arbeitslosigkeit ist die niedrigste in der ganzen EU, und der Wohlstand im Land steigt stetig. Die Politik hingegen wird oft als altbacken empfunden; viele aus der jungen Generation empören sich über Politiker, die wenig Bildungskonzepte haben, aber dafür regelmäßig die Renten erhöhen und Bahn-Rabatte für Senioren einführen; die sich außenpolitisch nach Russland und China verbeugen, während sie die EU allenfalls als Sündenbock benötigen. Ivan Bartoš beschreibt das in seinem pünktlich zum Wahlkampf erschienenen Buch „Der Wirbelsturm Ivan“ mit einem Zitat aus dem jüngsten „Star Wars“-Film (Cineast ist er nämlich auch): „Wir kämpfen nicht gegen die, die wir hassen, sondern für die, die wir lieben.“

Das könnte das Motto des ersten europäischen Premierministers mit Dreadlocks werden. Ob er nicht seine Frisur für das angestrebte Amt ändern wolle, wird Ivan Bartoš oft gefragt. Er setzt dann ein schelmisches Grinsen auf: „Wenn mir die Haare anfangen auszufallen, werde ich drüber nachdenken.“

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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