Attentat von Nizza - Enttäuschung vorprogrammiert

Am Abend des 14. Juli 2016 raste ein Attentäter mit seinem tonnenschweren LKW in die Menge, die auf Nizzas Strandpromenade das Feuerwerk zum französischen Nationalfeiertag erwartete. 86 Menschen starben, darunter zwei Schülerinnen und ihre Lehrerin aus Berlin. Am heutigen Montag beginnt in Paris der Prozess gegen sieben Männer und eine Frau, die den Mörder unterstützt haben sollen. Doch die Beweiskette hat Lücken.

Gedenkskulptur für die Opfer des Terroranschlags am 14. Juni 2016 in Nizza / dpa
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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In dem Pariser Gerichtssaal, in dem vor 2 Monaten die überlebenden Verantwortlichen der verheerenden Mordserie vom 13. November 2015 im Bataclan-Prozess abgeurteilt worden sind, nun die nächste Verhandlung über einen Terroranschlag, der Frankreich in den Grundfesten erschüttert hat. Die Urteile sind für Dezember avisiert. Erneut versucht man in Paris, eine Terrorattacke juristisch so aufzuarbeiten, dass die Traumata der Opfer gelindert werden können. Wiederum ist der Haupttäter tot, wiederum werden Helfershelfer zur Verantwortung gezogen.

Aber damit – und natürlich in der unfassbaren Brutalität der Mordattacken – erschöpfen sich die Parallelen. Der damalige Präsident Francois Hollande hatte den 31jährigen Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, der den Lkw in der festen Absicht, möglichst viele Menschen umzubringen, in die Menge steuerte, schnell als islamistischen Terroristen bezeichnet. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) reklamierte die Tat zwei Tage nach der Ausführung für sich, lobte den Attentäter als "Soldat des Kalifats". Der Anschlag bleibt in den Köpfen aller präsent, die die Tragödie miterlebt haben.

Islamistischer Terror war die allgemein geteilte Einschätzung. Nur ist das aus heutiger Sicht, anders als bei den Mördern vom Bataclan, leider alles andere als gesichert. Und das könnte für den Prozess, die Urteilsfindung, die öffentliche Meinung und vor allem die Bewältigung der Opferleiden zum Problem werden. Enttäuschungen sind fast schon programmiert. Der Reihe nach: Am 14. Juli 2016 gegen 22.40 Uhr, fährt ein weißer 19-Tonnen-Lkw mit hoher Geschwindigkeit auf die Promenade des Anglais, wo mehr als 30.000 Menschen auf das Feuerwerk warten. Der Fahrer Mohamed Lahouaiej-Bouhlel, ein 31-jähriger Tunesier, sitzt allein im Fahrzeug. Sein Angriff dauert etwa zwanzig Minuten. Zwischen den Hausnummern 11 und 147 überfährt er auf einer Strecke von zwei Kilometern absichtlich mehrere hundert Menschen.

4 Minuten und 17 Sekunden dauerte der Horror. 4.17 ist in Frankreich seitdem ein fester Begriff. Augenzeugen berichten, er sei Zick-Zack gefahren und habe schließlich auf einen Bonbonstand zugehalten, um möglichst viele Menschen zu „erwischen“. Vor dem Hotel Negresco angekommen, eröffnet er das Feuer auf die Polizei, setzt dann seinen Weg weitere 300 Meter fort, bevor er von Einsatzkräften erschossen wird.

Gedenksteine in Nizza und Berlin

Hunderte zum Teil Schwerverletzte und 86 Tote aus 21 Nationen sind zu beklagen. Auch Jugendliche des Abitur-Jahrgangs einer Berliner Schule gehören zu den Opfern. Eine Junglehrerin und zwei Schüler sterben in dieser Nacht in Nizza. Sie waren damals auf einer Klassenfahrt an der Côte d’Azur und standen auf der Promenade des Anglais, als es zu dem Anschlag kam. Ein Gedenkstein erinnert an der Schule an das fürchterliche Geschehen.

Auch an der Promenade des Anglais in Nizza steht seit diesem Sommer ein neues Denkmal, eben da, wo in der furchtbaren Nacht vor sechs Jahren der LKW zum Halten kam. Es ist eine Skulptur, halb Mensch, halb Engel, die Flügel weit ausgebreitet, «Engel der Bucht» heißt es. Die Namen der Opfer sind in den Sockel eingraviert.

Dieser Gerichtsprozess bringe „Wochen, die fürchterlich schmerzhaft werden für viele, aber hoffentlich auch befreiend“, sagte Nizzas Bürgermeister Christian Estrosi bei der Enthüllung des Denkmals am 14. Juli. „Für uns, die Opfer, wird das Urteil dieses Prozesses nicht die Wunden unserer Herzen schließen. Wir vergessen nicht, und wir vergessen niemals.“

Angeklagte beteuern Unschuld

Nun ist es an der Justiz herauszufinden, wer neben dem Attentäter noch am Terroranschlag von Nizza beteiligt gewesen war. Der Mörder selbst ist tot, kann weder befragt noch zur Verantwortung gezogen werden. Ein Problem, findet nicht nur Eric Morain, Anwalt der fédération nationale des victimes d’attentats et d’accidents collectifs (FENVAC), einer Zivilpartei im Prozess: „Das Fehlen des einen und einzigen Täters wird in der Tat für Frustration sorgen. Es wird viele Fragen geben, die niemand beantworten kann“.
 

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Über die drei Hauptangeklagten, Chokri Chafroud, Ramzi Arefa und Mohamed Ghraieb, besteht insofern Klarheit, als der Mörder sie quasi selbst beschuldigt und der Polizei ausgeliefert hatte. Unmittelbar vor dem Anschlag hatte er ihnen per sms für eine Pistole und die Lieferung weiterer Waffen gedankt. Die drei sind wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Ihnen droht lebenslängliche Haft, aber sie beteuern ihre Unschuld. Die Staatsanwaltschaft wird zumindest Beweise erbringen müssen, dass die Männer sowohl den konkreten Mordplan als auch den Zeitpunkt der Umsetzung gekannt haben, möglichst aber auch selber nachweisbare Verbindungen zu Dschihadisten pflegten.  Den Anklagepunkt Mittäterschaft musste die Staatsanwaltschaft mangels Beweisen bereits fallenlassen.

Den anderen 5 Beklagten, unter ihnen eine Frau, wird Beteiligung am Waffenkauf vorgehalten. Es handelt sich um polizeibekannte Kriminelle, aber nicht unbedingt um IS-Adepten.

Keine Belege für Terror-Kontakte

Das Hauptproblem des Prozesses liegt in der Person Mohamed Lahouaiej-Bouhlel. Der war der Polizei durchaus als gewalttätig bekannt, aber nicht als Islamist. Es gibt keinen Beleg für Kontakte zu Terroristengruppen, allerdings dafür, dass er den Anschlag sorgfältig geplant hatte, zum Beispiel an den zwei Tagen vor dem 14. Juli mit dem gemieteten Lastwagen die Uferpromenade von Nizza abgefahren war, um die Strecke genau auszukundschaften.

Bouhlel war ein ultrabrutaler Schläger, dem es Vergnügen bereitete, andere Menschen zu terrorisieren, insbesondere seine Ehefrau. Die hatte ihren Mann schon 2011 angezeigt, weil er sie in den 5 Jahren zuvor Tag für Tag blutig geschlagen hatte. Das ist aktenkundig. Die Frage ist, wieso dieser Mann überhaupt auf freiem Fuß leben konnte und nicht längst im Gefängnis saß, sondern mit einer Ermahnung davonkam.

Ein Sadist, aber auch ein Islamist?

3 Jahre später reichte die Frau die Scheidung ein und erstattete erneut Anzeige, wegen nahezu täglicher Gewalt gegen sie und ihre Kinder. Es ist die Rede von „Strömen von Blut“. Er habe dem Stofftier der Tochter ein Messer in den Bauch gerammt und gedroht, dabei müsse es nicht bleiben. Wenn sie gebetet habe, und Allah um Hilfe gebeten, habe ihr Mann häufig auf sie uriniert. Erst zwei Jahre später, im Juni 2016 und mithin einen Monat vor der Tat, wird Bouhlel deshalb von der Polizei vernommen! Fast so unfassbar wie der LKW-Mord.

Der Mann, als Kind selbst Opfer von Gewalt, war ein Sadist. Er quälte mit Vergnügen andere Menschen. Er war ein Mann des Terrors. Aber war er auch islamistischer Terrorist? Er habe sich extrem schnell radikalisiert, so heißt es einerseits, aber auch den Anschlag habe er sorgfältig und langfristig vorbereitet. Das passt so wenig zusammen, wie das Schänden einer betenden Frau. Wenn aber der Täter kein Islamist war, können dann seine Mitwisser und - so sie es waren, Unterstützer – Mitglieder einer islamistischen Terrorzelle sein? Es könnte sein, dass der gerade beginnende Nizza-Prozess – anders als der zu den Bataclan-Morden – es nicht schaffen wird, den Opfern zu helfen und zu einer Form von Befriedung beizutragen.

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